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Kapitel 6 – 22.12.–

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Nach einem noahlosen Frühstück zogen wir uns alle an und eine halbe Stunde später startete Alice mit uns zur Gondelbahn. Die ganze Zeit über hing ich in Gedanken bei unserem Kuss. Es war aufregend gewesen und schön. Die Szene in der Küche war intimer geworden, als ich es normalerweise mit Kerlen werden ließ. Ich war in meiner Phase des Austobens, ich wollte nichts Intimes. Jedenfalls nicht auf emotionaler Ebene. Warum traf es mich dann, dass er so abrupt verschwunden und erst jetzt zum Abmarsch Richtung Piste aufgetaucht war?

Die frische Winterluft kühlte angenehm meine erhitzten Wangen. Ich atmete tief ein und wieder aus. Die klare Kälte half mir, loszulassen. Jetzt ging es erst mal auf die Piste. Die Vorfreude vertrieb auch meine letzten unsicheren Gedanken. Wir liefen mit offenen Skischuhen, den Skiern über den Schultern und den Stöcken in der Hand die Straße entlang zur Mittelstation. Der dunkle Splitt knirschte unter unseren Schuhen, wann immer mal ein Fleck Boden nicht von Schnee bedeckt war. Der Bürgersteig war immerhin breit genug, dass man zu zweit nebeneinander gehen konnte und wir nicht im Entenmarsch laufen mussten.

»Wie weit ist es bis oben?«, fragte ich AJ, die an meiner Seite durch den platt getrampelten Schnee stapfte. Die weiße Masse zwischen Eis und Matsch war gespickt mit zahllosen schwarzen Splittkörnern.

»So etwa ’ne Viertelstunde. Unser Ort liegt auf halber Höhe. Wenn wir also richtig Party machen wollen, müssen wir entweder hoch zum Après-Ski oder runter ins Tal. Wobei im Santinos auch häufig gute Stimmung ist. Nur eben keine echte Party. Und die kleine Hütte hier am Ende der Talabfahrt lohnt sich nur für’n schnellen flying Hirsch auf die Hand.«

»Flying was?«

»Flying Hirsch! Red Bull mit Jägermeister.«

Skeptisch sah ich sie von der Seite an.

»Ich weiß, es klingt eklig. Aber nach so ’ner Abfahrt find ich’s mega.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen versprach ich: »Dann probiere ich später mal einen.«

»Sehr gut.« AJ grinste breit und vollführte sogar einen kleinen Freudenhüpfer.

»Verführt die kleine Schnapsdrossel hier dich so früh am Tag schon zu Alkohol?«, fragte Sonny, der vor uns lief, über seine Schulter.

»Hey, wie stellst du mich hier hin?«

»Ich stell niemanden irgendwie hin. Ich sag nur, wie’s ist.«

»Oh, na warte!« AJ beschleunigte ihre Schritte und eilte in ihren Skischuhen Sonny hinterher, der in den Snowboardboots viel besser rennen konnte. AJ hatte keine Chance. Dennoch jagte sie ihn durch die Gruppe und dann weiter über die Straße, bis ein hupender SUV das Geplänkel beendete.

Mein leises Lachen erstarb, als Daniel plötzlich den Platz neben mir einnahm. Er hatte an der Straßenecke zu unserem Haus auf uns gewartet, offenbar verbrachte er die Nächte zu Hause … sofern er nicht gerade fremdging.

»Also, Elina«, begann er. »Wenn wir gleich an den Lift kommen, musst du deine Skier außen in die dafür vorgesehene Halterung stellen und dann zügig einsteigen. Pass auf deine Stöcke auf und mach den anderen Platz«, belehrte er mich.

Mit gerunzelter Stirn schielte ich ihn von der Seite her an. War ich fünf, oder was? »Ich weiß. Ich war schon oft Skifahren«, bügelte ich ihn ab, beschleunigte meine Schritte und sah zu, dass ich in der Mitte des Bürgersteigs lief. Wie hatte ich den nur heiß finden können? Das musste die Machtposition sein, die er innehatte.

»Wirklich? Das ist ja super. Seit wann fährst du Ski?«, fragte er von schräg hinter mir. Der Typ ließ nicht locker.

»Seit ich fünfzehn bin«, erwiderte ich knapp. Marion hatte die Skiurlaube als Familientradition eingeführt, schon direkt in dem Jahr, in dem mein Vater sie kennengelernt hatte, und ich hatte mich selbst damit überrascht, wie sehr mir Skifahren lag. Am liebsten hatte ich die Pisten steil oder mit kleinen Sprungschanzen.

Daniel nutzte eine Kurve, um sich wieder geschickt an meine Seite zu schieben, und begann von den Pisten zu erzählen. Der Typ war hartnäckig. Ich brummte nur immer mal wieder ein Mhm oder ein Aha. Ich verabscheute Fremdgänger abgrundtief. In Gedanken driftete ich zu unseren Familienurlauben ab und dachte an die abendlichen philosophischen Diskussionen mit meiner Tante Mia. Solche anregenden Gespräche würde ich diesen Skiurlaub sicher nicht führen.

Endlich kamen wir an der Station an und reihten uns in die recht kurze Schlange ein. Zum Glück verließ Daniel jetzt meine Seite wieder und lief zu Alice, um etwas mit ihr zu klären.

»Jetzt heißt es warten.« Sonny stellte schnaufend sein Board neben mir ab und lehnte sich auf sein Brett gestützt zur Seite.

»Die Schlange ist doch kurz, das geht schon.«

»Jah … nur sind wir an der Mittelstation, Kätzchen.«

»Na und?« Ich ignorierte den Kosenamen. Darüber würden wir noch reden, wenn er den häufiger nutzen wollte.

»Unten an der Talstation sind die Gondeln leer, da geht es schnell. Hier an der Mittelstation können immer nur einzelne dazusteigen.«

»Oh.« Mist, daran hatte ich gar nicht gedacht. Und Sonny behielt recht. Es ging schleppend voran. Das machte aber überhaupt nichts, denn er war ein angenehmer Gesprächspartner. Wir plauderten über Fußball und seine derzeitige Arbeitslosigkeit, die ihm nichts ausmachte. Er war der entspannteste Typ, den ich je kennengelernt hatte. Ohne echten Abschluss und ohne Ausbildung hätte ich an seiner Stelle echte Zukunftsängste. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er ohne Einkommen in einer WG in Mainz leben konnte, irgendwie schien es jedoch zu funktionieren. Ich nahm an, das lief über sponsored by Papa.

Endlich waren wir an der Reihe. Vor mir stiegen gerade Felix und Belle zu einer Gruppe in eine Gondel. Die danach war leer. Was für ein Glück! Ich war die Erste, die ihre Skier außen in die Haltevorrichtung steckte und dann in die Sechser-Gondel stieg. Mir folgten Nell, AJ, Daniel und Sonny. Dann wäre Noah dran gewesen. Doch er sah mir mit bereits erhobenen Skiern in die Augen und schien sich in dem Moment dagegen zu entscheiden. Demonstrativ trat er einen Schritt zurück und stellte seine Skier wieder ab. Die Gondel ruckelte weiter und die Türen schlossen sich.

Perplex starrte ich ihn durch die geschlossenen Türen an. Damit hätte ich rechnen können. Mein Worst-Case-Gehirn hatte bereits sein Fehlen beim Frühstück so interpretiert, dass er mich nicht sehen wollte. Dieses aktive Meiden jetzt bestärkte diese Annahme. Überrascht musste ich feststellen, dass mir diese Ablehnung einen fiesen Stich versetzte.

Ich fing einen fragenden Blick von AJ auf und zuckte nur mit den Schultern. Klar hatte ich eine Ahnung, warum er sich so verhielt, dennoch wunderte es mich, dass er mich mied. Seine überstürzte Flucht aus der Küche war seltsam gewesen. Nell hatte ihn Casanova genannt. Doch Casanova ließ sich von warmer Milch mit Honig und einem Kuss doch nicht aus der Bahn werfen. Jetzt, hier in der Gondel, würde ich allerdings nicht darüber sprechen, auch wenn mir so einige Fragen an Nell auf der Zunge lagen.

Wahrscheinlich sollte ich mit keinem von ihnen darüber reden. Ich kannte sie alle nicht und wusste nicht, wie gesprächig sie waren. Ich hatte keine Lust, dass sie sich mit Belle darüber ausließen, wie schlecht ich küsste, oder dass Noah mich jetzt ganz und gar mied.

Seufzend ließ ich meine Schultern sinken und lehnte meinen Kopf an die Gondelscheibe. Mein Blick schweifte hinaus in den schneeüberzogenen Wald. Im Grunde war mir klar, dass es nichts damit zu tun haben konnte, wie gut oder schlecht ich küsste. Seine Flucht hatte einen anderen Grund. Ich hatte keine Ahnung welchen, aber sie musste einen anderen Grund haben.

»Na, freust du dich auf das Skifahren?«, erklang Daniels Stimme. Ich sah schon eine Weile nicht mehr in die Runde, mein Blick glitt über das wundervolle, schneebedeckte Land. Die ebenmäßige weiße Decke verbarg alles, Schönes wie Hässliches. Ich wusste, dass Verdrängung keine Lösung war, theoretisch. Alles unter einer dicken Decke zu vergraben funktionierte für Mutter Natur ganz gut, zumindest eine Zeit lang. Ich spielte mit dem Gedanken, mein Handy in den Schnee fallen zu lassen. Dann könnte ich diesen Urlaub noch besser genießen. Bisher war es einfach toll hier. Die dunkelgrünen Tannenwipfel, an denen wir vorbeizogen, bogen sich unter der Last des Schnees zur Seite. Die Vorfreude auf die Piste verdrängte jeden trüben Gedanken.

»Elina?« Wieder Daniel.

Huch, er hatte mich angesprochen? Und in dem Moment, in dem ich das begriff, stieß Nell mich in die Seite. Überrascht fuhr ich zu Daniel herum, der mir schräg gegenübersaß. AJ schenkte mir einen amüsierten Blick, den ich mal schnell ignorierte. Ehrlich oder abbügelnd? Hm … ehrlich.

»Ich weiß nicht. Ich kenne die Truppe noch nicht, und ich habe einen etwas eigenwilligen Stil. Also keine Ahnung, ob ich mich darauf freue. Auf jeden Fall freue ich mich auf den glitzernden Schnee und die Sonne, das Geräusch, wenn meine Skier durch den Schnee gleiten und die oberste Schicht abschaben, wenn ich eine Kurve fahre, und den tosenden Wind, wenn ich richtig Gas gebe. Ich freue mich auf das Gefühl, das meinen Körper durchströmt, wenn ich wedel, oder das Adrenalin, das durch meine Adern pumpt, wenn ich eine Abfahrt runterrase.« Mit einem seligen Seufzen schweifte mein Blick wieder hinaus zu der dicken Schneeschicht, die die Welt in Watte hüllte.

»Äh, wow«, kommentierte AJ nach einem kurzen Moment der Stille.

Ich sah sie überrascht an.

»Blumig, Schätzchen.«

»Und sehr bildhaft.« Nell nickte mit unterdrücktem Schmunzeln.

»Ist unser Kätzchen etwa eine verloren gegangene Autorin?« Sonny wackelte mit den Augenbrauen und wir vier lachten los. Daniel allerdings sah mich an, als wüsste er nicht, ob ich die Pest hatte oder eine Sirene war.

In diesem Moment ruckelte die Gondel in die Bergstation und wir stiegen aus. Ich war die Letzte und sah hinter mich, ob alle Handschuhe, Stöcke, Mützen und Brillen mitgenommen worden waren. Tatsächlich entdeckte ich eine Tube Sonnencreme und eine Skibrille unter einer der Bänke. Ich packte sie schnell und verließ dann auch die Gondel. Draußen wandte ich mich zu den Skihalterungen um, doch die Körbe waren leer. Für einen kurzen Moment malte mein Worst-Case-Gehirn das Bild von Skiern, die irgendwo am Hang im Schnee steckten, für mich verloren.

»Hab sie schon, Elina«, rief Sonny hinter mir. Oh, cool, wie nett. Erleichtert eilte ich zu ihm.

»Danke.« Ich nahm meine Skier entgegen und fragte dann, meinen Fund in die Höhe haltend, in die Gruppe: »Gehört das einem von euch?«

»Oh. Ja, das ist meins.« Ausgerechnet Daniel nahm sich die Sachen. Wie ironisch. Mr Skilehrer persönlich. Da hatte er mir erklären wollen, wie es ging, und verbockte es selbst. Ich empfand einen Hauch gehässige Genugtuung und schämte mich prompt im nächsten Moment dafür.

Aus der nächsten Gondel stiegen Noah und Lysander, die mich beide zu ignorieren schienen, und dahinter kamen Dina und Alice an, jetzt waren wir komplett. Gemeinsam gingen wir hinaus in die Sonne und warteten, bis alle beieinander waren. Da noch keiner von den anderen Anstalten machte, sich die Bretter an die Füße zu schnallen, rammte ich meine Skier in den Schnee neben mir, hob mein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen und genoss die wohlige Wärme.

Knirschende Schritte erklangen, und ein schneller Blick zeigte: Daniel lief an mir vorbei und musterte mich abschätzend. Schnell schloss ich meine Augen wieder und reckte mich noch etwas mehr der Sonne entgegen. Was hatte der Kerl nur mit mir? Ich fand ihn inzwischen richtig eklig und schmierig. Ich hasste Betrüger … so sehr! Der Gedanke allein machte mich so wütend, dass ich keine Lust mehr hatte, die Sonne auf meiner Haut zu genießen. Stattdessen begann ich mürrisch mit meinem Skischuh den Schnee unter mir zu bearbeiten.

»Musst du uns echt bewerten?«, fragte Dina den Kerl, der Anlass für meinen miese Laune war, kaum dass er sich vor der Gruppe aufgebaut hatte. Ihr leicht süßlicher Tonfall weckte eine Vermutung, wer Daniel gestern Nacht im Bad Gesellschaft geleistet hatte. Pure Spekulation, die ich besser für mich behielt. Am Ende setzte ich noch ungewollt ein Gerücht in die Welt.

»Ja, muss ich«, brummte er. »Und zwar jetzt gleich.«

Mann, bei so viel Freundlichkeit hatte ich ja riesige Lust, seinem Befehl Folge zu leisten. Alle anderen schnallten die Skier an die Schuhe. Widerwillig machte auch ich meine fest, klickte die Verschlüsse zu und folgte ihm. Der erste Moment, den ich auf den Brettern durch den strahlend weißen Schnee glitt, war eine Mischung aus Aufregung und ungewohnter Motorik. Doch mein Körper erinnerte sich schnell an die Bewegung. Ich lehnte mich vor und glitt mühelos und vollkommen entspannt der Gruppe hinterher. Daniel führte uns auf eine blaue Piste, die stark nach Anfängerhügel aussah, und ließ uns dann einzeln runterfahren.

»Jetzt kannst du die ganze Pracht unseres Könnens bewundern«, feixte Sonny, der neben mich gefahren war und mit mir am oberen Ende der Kuppe wartete.

Felix und Belle fuhren aufrecht und mit geschniegelter Haltung als Erste den Hügel hinab. »Denen fehlt nur noch der Dom Perignon in der Hand«, schnaubte ich.

Sonny neben mir lachte. »Mag da jemand keine High Society?«

Ich biss mir sofort auf die Lippe. »Eigentlich ist es mir egal, wer wie viel verdient, und erst recht, wer wie Ski fährt.«

»Aber?«, hakte Sonny berechtigt nach. Ich war ziemlich schnippisch gewesen.

Ich zog meinen Kopf etwas ein. »Belle trifft irgendwie einen Nerv bei mir«, gestand ich. Schon heute Morgen beim Frühstück hatte sie jede Bitte, mir irgendwas zu reichen, einfach ignoriert. Diese Frau war die Herrscherin von Passiv-Aggressivistan. Dann immer mal wieder eine kleine Spitze, sie machte mich mürbe.

»Ignorier die Eiskönigin.«

»Wie denn bitte?«

»Frag dich, wie ihr Leben sein muss, dass sie so geworden ist.«

Ich presste meine Lippen aufeinander. Eine Woge des Mitleids keimte in mir auf, als ich mir das Bild einer lieblosen Kindheit malte. Sonny hatte recht, es gab immer einen Grund.

Nell, Lysander, Noah und AJ fuhren, als wären sie schon auf Skiern zur Welt gekommen. Normalerweise würde mich so eine Demonstration von Können unsicher machen. Außer beim Skifahren. Das war einer der wenigen Skills, bei denen ich sicher war, dass ich wenigstens gut war. Jedenfalls gut genug, um Selbstvertrauen zu haben.

Dina fuhr direkt vor mir die Piste hinunter. Sie fuhr die Kurven sehr abgehackt, wechselte teilweise in den Pflug und verlor einmal fast das Gleichgewicht. Kai machte neben ihr eine richtig gute Figur, auch wenn er sichtlich konzentriert die Kurven nahm. Auf roten oder gar schwarzen Pisten bekam er sicher Probleme.

Als Letztes nahmen Sonny und ich die Abfahrt. Es fühlte sich ungewohnt und gleichzeitig vertraut an. Ich brauchte ein paar Meter, um mich wieder an das Gefühl zu gewöhnen, dann ging ich ins Wedeln über und hätte fast vor Freude aufgeschrien. Die Euphorie rauschte durch meine Adern. Die kühle Luft, die auf meine Wangen traf, nahm jede Last von meinen Schultern. Ich flog über die glitzernde Fläche und stieß ein »Juhu!« aus. Mit einer scharfen Bewegung meiner Hüfte stellte ich die Skier quer und warf Schnee bei der harten Bremsung auf.

»Alles klar. Kai und Dina, nur rote und blaue Pisten. Der Rest darf alles fahren«, meinte Daniel, meinen etwas theatralischen Auftritt ignorierend. »Mittagessen steht euch frei. Treff ist um vier Uhr wieder hier. Alice wird in der Hütte sein; falls mit einem von euch was ist, fragt nach ihr. Wenn sie gerade auf der Piste ist, kann sie innerhalb von fünf Minuten hier sein«, erklärte er, während er die Pistenkarten austeilte. »Denkt dran, nicht weniger als drei zusammen.« Er warf mir noch einen flüchtigen Blick zu, dann fuhr er einfach los, auf das Skilager zu, das hier direkt an der Piste lag. Wenn die Skilehrer nichts mit uns veranstalteten, warum gab es sie dann überhaupt? Mal im Ernst, wir waren alle erwachsen. Das wollte ich gerade Sonny fragen, doch Belle kam mir zuvor.

»Und wie wollen wir es machen? Alle zusammen?«, schlug sie an die Gruppe gewandt vor.

Noahs Blick fand meinen, Noahs eiskalter, fast mörderischer Blick. »Kannste vergessen!«, knurrte er und fuhr los.

»Äh, Kai?« Lysander nickte Noah hinterher und dann folgten die beiden Mr Griesgram.

»Holla, welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?«, fragte AJ.

»Na, also dann«, meinte Isabelle und wandte sich uns zu. »Ich glaube, wir fahren auch lieber nur zu dritt«, erklärte sie nach einem Blick mit hochgezogener Augenbraue zu mir. Damit setzten sich auch Dina, Felix und Belle ab.

Ich fühlte mich hundeelend. Ich spaltete die Gruppe, und das nur durch meine bloße Anwesenheit. Feinde machte ich mir ja schnell.

»Okay, dann zu viert«, beschloss Nell und lächelte in die Runde, als wäre gerade nichts Ungewöhnliches passiert.

»Allein mit drei Mädels. Schaffst du das, Sonny?«, neckte AJ.

Sonny streckte ihr die Zunge raus und lachte. »Was will man mehr, als mit drei hübschen Damen allein zu sein?«, antwortete er süffisant und wackelte wieder einmal mit seinen Augenbrauen. Wir lachten, auch wenn meines hohl und aufgesetzt war. Mir tat es weh, wie Noah und Belle sich verhielten. Die drei hier schafften es wenigstens, mir meine Schuldgefühle zu nehmen.

Um zu dem Lift zu kommen, den Nell für uns ausgesucht hatte, mussten wir eine kurze Piste hinab. Als wir dort ankamen, stellten wir uns zu viert nebeneinander an und Nell, die neben mir in der Mitte unserer Gruppe stand, fragte Sonny: »Was ist denn mit Noah los?«

»Na ja, wenn ich alles richtig mitbekommen habe, hat er wohl Daniel und Dina gestern beim Sex erwischt. Isabelle hat uns gesagt, dass es Dina sein müsste, denn ihr Bett war zur entsprechenden Uhrzeit leer. Belle schließt aus seinem Verhalten, dass er an Dina interessiert war. Wenn du mich fragst, ist das Quatsch. Vor zwei Jahren gab es auch zwischen dem Skilehrer und Noah einen Wettstreit um ein Mädchen. Als Noah den verloren hatte, war er nicht annähernd so drauf wie jetzt.«

Wir bewegten uns ein Stück vorwärts. »Wie ist er denn drauf?«, erkundigte AJ sich, während sie mithilfe ihrer Stöcke anhielt.

»Erinnert ihr euch an Silvester letztes Jahr? In etwa so.«

Nell und AJ sogen beide scharf die Luft ein. Offenbar hieß das richtig mies. Vielleicht war ich ja gar nicht der Grund für sein Verhalten. Es konnte etwas passiert sein, von dem ich nichts wusste. Immerhin hatte ich im Grunde nichts getan.

»Oh, entschuldige, Kätzchen. Das sagt dir natürlich nichts.« Sonny lehnte sich an Nell vorbei und sah mich an. »Hab vergessen, dass du letztes Jahr nicht dabei warst. Irgendwas ist an Silvester passiert, was Noah voll aus der Bahn geworfen hat. Wie sich herausstellte, so zumindest der Bericht von Felix, der Lysander und Noah belauscht hat, hat ein Feuerwerkskörper Noahs Schwester getroffen und sie musste ins Krankenhaus, mit OP und allem Drum und Dran. Zwischen dem Unfall und der Nachricht, dass es ihr wieder gut geht, war Noah der Teufel in Person.«

Ich brauchte nicht nachzufragen, was genau das hieß. Es war nicht wichtig. »Jeder Mensch reagiert anders auf Angst und Trauer.«

AJ sah mich irritiert an. »Wie meinst du das?«

»Na, man verdrängt den Schmerz, die Trauer oder die Angst. Man will sich noch nicht mit der Bedeutung auseinandersetzen. Ich persönlich werde zur Furie, zumindest so lange, bis ich gebraucht werde.« Ich dachte an meine eigenen Momente dieser Art, und alle Freude von der ersten Abfahrt verpuffte restlos.

»Wen hast du verloren?«, fragte Nell sanft.

Ich holte tief Luft. »Meine Mutter.«

AJ senkte betroffen ihren Blick. »Das tut mir sehr leid.«

Ich wurde mir der drückenden Stille unserer Gruppe bewusst. »Das ist schon sehr lange her. Anderes Thema: Wie kommt Isabelle darauf, dass Noah etwas von Dina will?«

AJ fing sich als Erste. »Sie denkt, gleich und gleich gesellt sich gern.«

Ich runzelte die Stirn.

»Na, beide jagen das andere Geschlecht und zerren in ihr Bett, was nicht bei drei auf den Bäumen ist«, erklärte Sonny.

Mein Stirnrunzeln vertiefte sich noch. »So hätte ich Noah gar nicht eingeschätzt«, gestand ich. Nicht nach dieser warmen, erschreckend intimen Kussszene gestern Nacht.

»Ja, das liegt daran, dass er ein Gentleman ist, er schweigt und genießt«, erklärte Nell.

»Und Dina nicht?«, wunderte ich mich.

»Dina ist zu laut, um irgendetwas zu vertuschen«, schnaubte AJ und brachte uns damit alle zum Schmunzeln.


Der Tag verlief rundum schön. Ich stellte fest, dass Sonny, ganz ähnlich wie ich, den Highspeed suchte. Wir ließen AJ und Nell vorfahren und pesten dann an ihnen vorbei, um unten wieder auf sie zu warten. Auf der Buckelpiste hängte Nell uns alle ab, weil sie den perfekten Rhythmus hatte, und in den Liften lachten und scherzten wir viel. Ich erfuhr ein bisschen über jeden von ihnen, zum Beispiel, dass Nell als Erste in ihrer Familie Abitur gemacht hatte und jetzt Publizistik studierte, oder dass AJ eine so heiß begehrte Friseurin war, dass die Salons sich bei ihr bewarben und nicht umgekehrt. Außerdem wurde mir langsam klar, dass sie fast alle aus Frankfurt oder Mainz kamen, alle bis auf Belle und Dina. Ich fühlte mich pudelwohl in ihrer Gruppe.

Zum Mittagessen führte Nell uns in eine der großen Hütten an den Pisten, wo wir auf die anderen trafen. Ich freute mich schon riesig auf eine Dampfnudel mit Vanillesoße und Mohnstreuseln. Wir vier stapften in Reih und Glied an der Essensausgabe vorbei, gönnten uns, worauf wir Lust hatten, und setzten uns dann zu den anderen draußen an eine der österreichischen Variante einer Bierzeltgarnitur aus massivem dunklem Holz. Noah und Belle schnitten mich komplett. Er stand einfach ruckartig auf, kaum dass ich mich hingesetzt hatte, und brachte sein noch halb volles Tablett weg. Sie wählte einen subtileren Weg und ignorierte mich, stets mit einem Lächeln im Gesicht. Mir verging der Appetit so richtig. Meine Dampfnudel aß ich nicht einmal zur Hälfe auf.

Als Sonny, AJ, Nell und ich wieder in einem Lift hoch zur nächsten Piste saßen, sprach Sonny es schließlich an: »Hatten du und Noah irgendwie Zoff?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«

»Aber er schneidet dich richtig«, bekräftigte AJ.

»Ist mir aufgefallen.«

»Ich würde es ja seiner Stimmung zuordnen. Allerdings hat er es dafür heute zu oft gemacht«, sagte Sonny nachdenklich.

»Wann denn noch?« fragte AJ.

»Süße, dir fällt so was nicht auf. Lass dir gesagt sein, es ist heute nicht das erste Mal«, bügelte er AJ ab und sah vielsagend zu mir. Er wollte anscheinend nicht meine Gefühle verletzen.

»Und was heißt das jetzt, Süßer?« AJ ließ sich nicht abwimmeln.

»Keine Ahnung.« Sonny zog seine Augenbrauen zusammen.

»Vielleicht heißt das nur, er kann mich nicht leiden«, schlug ich vor.

»Nein, Noah kann Daniel nicht leiden, und den behandelt er nicht so wie dich«, wehrte Sonny sofort ab.

Mir fiel auf, wie still Nell war. Plötzlich sah sie mich an, wissend und auch ein wenig abwertend. Was dachte sie denn bitte? Ich hatte doch gar nichts verbrochen.

»Sag mal, bist du sauer, dass ich dich Süße genannt habe?«, fragte Sonny, nachdem das Gespräch zum Erliegen gekommen war.

»Nee, ich war sauer, dass du mir unterstellst, ich wäre nicht feinfühlig«, entgegnete AJ ganz direkt.

»Das habe ich nie gesagt!«

»Klar hast du das.«

»Wann denn?«

»Als du meintest, mir würde so etwas nicht auffallen. Als wäre ich gar nicht in der Lage, solche feinen Nuancen von Verhalten zu erkennen.« AJ verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Kiefer waren fest aufeinandergebissen und ihre Augenbrauen eng zusammengezogen. Doch ich sah auch einen Hauch Schmerz in ihrem Blick lauern. Der Lift ruckelte über die Rollen an einem der Seilträger und AJ wandte ihren Blick wieder nach vorn.

Sonny verzog betreten seine Mundwinkel. »Das sollte keine Beleidigung sein.«

»So hat es sich aber angefühlt.«

Ich war schwer beeindruckt, wie ehrlich AJ hier gerade war. Und genauso, dass Sonny es vorhin bemerkt hatte und jetzt die Größe besaß, es anzusprechen.

»Das tut mir leid. Das war nicht meine Absicht.«

AJ schürzte die Lippen. »Denkst du es trotzdem?«

»Ich glaube, du kannst sehr feinfühlig sein. Die meiste Zeit bist du aber gut gelaunt und draufgängerisch unterwegs. Da entgehen dir eben Dinge, die im Stillen passieren. So meinte ich es.«

»Also soll ich jetzt auf Zehenspitzen durchs Leben gehen?«

»Nein, AJ. Du bist wundervoll, so wie du bist. Du bist die Gute-Laune-Queen und alle haben Spaß mit dir und mögen dich. Ist das nicht genug? Wir können nicht alles haben und sein.«

AJ zog ihre Wangen nach innen zwischen die Zähne und musterte Sonny abwägend. Es arbeitete ordentlich in ihr. Und, ehrlich gesagt, arbeiteten seine Worte auch in mir. Ich würde ihnen sofort brüllend zustimmen. Kein Mensch konnte alle guten Eigenschaften dieser Welt in sich vereinen. AJ demonstrierte sehr schön, dass manche tollen Eigenschaften einander quasi ausschlossen. Diese Erkenntnis half, Teile von mir besser anzunehmen. Ich atmete tief aus und ließ einen Brocken Unzufriedenheit einfach fallen. Es war okay, nicht alle guten Eigenschaften zu besitzen. Es reichte, ein paar zu haben.


»Vier Uhr. Punktlandung«, verkündete Nell und rammte ihre Stöcke in den Schnee. Ich hielt neben ihr an und sah mich um. Allesamt waren wir pünktlich. Daniel ließ seinen Blick schweifen und nickte einmal.

»Sollen wir die Talabfahrt nehmen statt der Gondel?«, schlug sie vor. O ja, was für eine gute Idee. Voller Hoffnung sah ich in Richtung der Abfahrt und freute mich jetzt schon darauf. So lange Pisten gab es nirgendwo. Das war für einen Highspeedsuchti wie mich die Krönung eines tollen Tages.

»Von mir aus«, stimmte Daniel zu und packte seine eigenen Stöcke, um sich in Richtung Talabfahrt zu bewegen, als Noahs Blick mich traf, und zum ersten Mal war ich schlichtweg feige.

»Fahrt ihr ruhig. Ich bin vorhin blöd gefallen und hab einen Bluterguss im Oberschenkel. Es ist besser, ich nehme die Gondel.«

Daniel fuhr eine Kurve und kam wieder zum Stehen. »Das geht nicht. Keiner geht allein.«

»Ach, komm schon! In die Gondel und wieder raus werde ich schon schaffen, und die anderen sind zu neunt. Verbiete doch meinetwegen niemandem, mitzufahren.«

Daniel zögerte kurz. Sein Blick schweifte sehnsüchtig in Richtung Talabfahrt, dann nickte er ab und ich entfernte mich von der Gruppe.

»Warte, Elina«, erklang Nells Stimme.

Ich drehte mich um und lächelte sie an. »Du musst mich wirklich nicht begleiten.«

Nell verzog ihr Gesicht. »Das habe ich nicht vor.«

Ich zuckte zurück, als hätte sie mich geschlagen. Ihre Worte fühlten sich auch fast so an. Was hatte ich jetzt schon wieder verbrochen?

Nell kam näher und hielt quer gestellt vor mir an. Sie lehnte sich zu mir und stieß aufgebracht hervor: »Es mag zwar nicht so aussehen, aber Noah und ich sind seit Kindertagen sehr eng miteinander befreundet. Leider macht er sich angreifbar, weil er ein lieber, guter Kerl ist.«

Okay, was wollte sie mir damit sagen? Ich begriff kein Wort. Nell starrte mich fest an, dann setzte sie leise knurrend nach: »Ich weiß, dass Dina nicht die Einzige war, die gestern Nacht nicht in ihrem Bett lag.«

Ich runzelte die Stirn. »Ehrlich, Nell, ich verstehe nicht, was du von mir willst.«

»Solltest du ihn erpressen oder etwas in der Richtung, dreh ich dir den Hals um«, drohte sie nun ganz direkt.

»Erpressen? Wie kommst du denn …« Ich brach ab. Einen kurzen Moment musste ich sie anstarren.

»Du denkst, ich hätte mit Noah geschlafen?«, fragte ich ungläubig.

Nell gab einen Teil ihrer Angriffshaltung auf und lehnte sich wieder zurück. »Hast du nicht?«

»Nein!«

Sie kniff ihre Augen zusammen und musterte mich eindringlich. »Etwas ist gestern Nacht vorgefallen«, beharrte sie.

Ich seufzte. »Den Eindruck hatte ich auch. Aber sicher nicht meinetwegen. Ich hab ihn zwar getroffen, und ja, als er Daniel mit einer Frau erwischt hat. Danach sind wir nur zusammen in die Küche, haben eine warme Milch mit Honig getrunken und …« Verdammt, wie war ich denn jetzt in dieses Geständnis hineingeschlittert? »Na ja, ich hab ihn geküsst.« Ich spürte meine Wangen warm werden und senkte den Blick.

»Du hast ihn geküsst?«

»Ich dachte, er wollte es auch, und er hat den Kuss auch erwidert«, versicherte ich schnell. »Dann ist er ganz plötzlich weg.« Ich hörte selbst, wie niedergeschlagen ich klang. Schnell überging ich diese Erkenntnis. »Vielleicht hab ich ihn unbewusst an irgendetwas erinnert. Das ist die einzige Erklärung für mich, die Sinn ergibt. Ein Casanova lässt sich wohl kaum von einer warmen Milch mit Honig und einem Kuss aus der Bahn werfen«, stellte ich fest und erhoffte mir eine Bestätigung von ihr.

»Nein … wohl nicht«, murmelte Nell mit abwesendem Blick.

Ich hatte das Gefühl, noch etwas klarstellen zu müssen. »Ehrlich gesagt, Nell, wenn ich mit ihm geschlafen hätte, dann ginge dich das verdammt noch mal nichts an. Freundin seit Kindertagen hin oder her. Ich … also, wenn ich mich austobe, ist das meine Sache, und dasselbe gilt für Noah!«

Nells starrender Blick wurde weich. »Wie du meinst«, zwitscherte sie fröhlich, und mit einem »Wir sehen uns unten« fuhr sie davon.

Na, das sollte mal einer verstehen. Ich kam eindeutig nicht mehr mit.

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