Читать книгу Option Färöer - Ein Färöer-Krimi - Jógvan Isaksen - Страница 6
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ОглавлениеDer Rundfunkmitarbeiter Páll Hansen hatte in einem der hellroten Reihenhäuser in Berjabrekka gewohnt. Der Name an sich war ja nicht schlimm, aber es gab keinen Skandal und kein Unglück, das einer Baustelle zustoßen kann und das diese neuen Reihenhäuser nicht betroffen hätte. Wie üblich trug niemand die Schuld. Die Verantwortung wurde in einem ewigen Kreislauf von Pontius zu Pilatus und wieder zurück geschoben und die Besitzer der Häuser waren die Betrogenen.
Jetzt saß ich in meinem frisch erworbenen alten Volvo vor Hansens Haus und versuchte, mit mir selbst einig zu werden, inwieweit ich mich schämen müsste, wenn ich mich an Páll Hansens Witwe wenden würde, die Frau des früheren Journalisten beim färöischen Rundfunk.
Die Oktoberkälte kam langsam von den Bergen im Norden heruntergekrochen und harmonierte ausgezeichnet mit den Gefühlen, die in mir aufschwappten. Frierend und mit einer Antriebskraft, die nicht einmal die Zeiger einer Uhr bewegen würde, saß ich da und starrte vor mich hin. Ich dachte über existenzielle Fragen nach. Wo kommen wir her? Warum sind wir hier? Und wohin werden wir ziehen? Aber das dauerte nur einen kurzen Augenblick, denn ich kannte mich selbst gut genug, um zu wissen, dass sich, wenn ich einmal damit anfangen würde, an der Oberfläche der großen Fragen des Daseins zu kratzen, der Kater nur verschlimmern würde.
Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor elf.
Am Samstagabend war ich in der Stadt gewesen, und den Sonntag hatte ich, wie so oft, im Bierclub vertan. Genau diese Handlungen begannen jetzt, meine Gedanken zu dominieren.
Aber dabei konnte ich nicht stehen bleiben und mit meiner reichhaltigen Erfahrung als Therapeut konnte ich die diversen Katzentiere beiseiteschieben.
Montagmorgen, kalt, bewölkt, aber trocken.
Páll Hansen war vor vierzehn Tagen vor eingeschaltetem Mikrofon gestorben. Das ganze Land war in heller Aufregung gewesen. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass man bei einem Mord zuhörte. Diese unangenehme Begebenheit verschaffte den Leuten einen wohligen Schauer. Endlich gab es etwas, was man gemeinsam hatte, und wenn die Leute zusammenkamen, war oft die Rede davon, was sie sich gedacht hatten, als sie die merkwürdigen Geräusche im Radio hörten.
Die Polizei stand vor einem Rätsel.
Mein Freund beim Kriminalkommissariat, Karl Olsen, hatte mir erzählt, dass der Sprecher mit Blausäure vergiftet worden war. Dass sie keine Ahnung hatten, wie diese ins Glas gekommen war oder wer sie dort hineingekippt hatte. Auf den Fluren des Senders liefen ständig Leute hin und her, deshalb mussten viele Verhöre durchgeführt werden. Mehr bekam ich nicht aus ihm heraus. Ich hatte auch das Gefühl, dass die Polizei gar nicht mehr wusste.
Meine Gründe herumzuschnüffeln waren ganz persönlicher Natur. Vor zwei Monaten war ich nach langer Zeit im Ausland wieder zurück auf die Färöer gezogen. Ich arbeitete als Freelancer beim Blaðið und wurde nach dem Stoff bezahlt, den ich ablieferte. Aus Themen, über die andere viel besser als ich Bescheid wussten, konnte ich nichts herausholen, aber wenn es sich um einen Mord handelte, bei dem die Polizei im Dunkeln tappte, hatte ich die gleichen Chancen wie alle anderen. Das bildete ich mir jedenfalls ein.
Im Übrigen hatte ich Páll gekannt, vor ungefähr fünfzehn Jahren besuchten wir gemeinsam die Journalistenhochschule in Århus.
Der Unterschied zwischen uns beiden, abgesehen von den drei Jahren, die Páll jünger war, bestand darin, dass er seine Ausbildung beendete, was ich nicht tat. Seitdem hatte ich mich in großen Teilen der Welt herumgetrieben, während Páll versucht hatte, sich in der färöischen Gesellschaft hochzuarbeiten.
Ich stieg aus dem Auto und ging zu einer Tür, an der ein selbst gemachtes hellblaues Porzellanschild sagte, dass hier Kirstin und Páll Hansen wohnten.
Ich drückte auf den Klingelknopf und hörte es im Haus klingeln.
Eine ganze Weile geschah gar nichts und ich wollte es gerade noch einmal versuchen, als die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.
Zwei erschrockene graue Augen schauten zu mir heraus.
»Wer sind Sie?«, fragte eine zitternde Stimme.
»Mein Name ist Hannis Martinsson, ich habe Páll gekannt.« Ich hielt es nicht für angebracht, schon jetzt das Blaðið zu erwähnen.
Der Türspalt wurde ein wenig größer und ich sah eine schmächtige Frau in den Dreißigern. Das glatte Haar hing strähnig und leblos herunter und die Ohren stachen dazwischen hervor. Das Weiße in ihren Augen war hellrot, das Gesicht streifig von Tränen. Der geblümte Kittel sah aus, als sei er seit einer Woche nicht gewaschen worden. Die ganze Erscheinung wirkte verwahrlost und erzählte davon, wie schnell jemand von einem gestandenen Mitglied der Gesellschaft zum Verlierer werden kann.
»Ich weiß nicht ...«, kam es zögernd aus dem erschrockenen Gesicht, aber sie schloss die Tür nicht.
»Páll und ich haben zusammen in Århus studiert, vielleicht kann ich irgendwie helfen?«
Kirstin Hansen starrte eine Weile mit leerem Blick vor sich hin, dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Die Tür blieb offen und ich nahm das als Zeichen, dass ich hereinkommen durfte.
Im Eingang standen einige Paar Schuhe, darunter auch Kinderschuhe, aber sonst war der Flur leer. Im Wohnzimmer hatte Kirstin Hansen sich auf ein großes, braunes Cordsofa gesetzt, das zusammen mit zwei Sesseln mit dem gleichen Bezug das gesamte Mobiliar des Wohnzimmers ausmachte. Die Wände waren frisch gestrichen, weiß, und es waren noch keine Gardinen aufgehängt.
Die blasse Frau wirkte vollkommen verloren in dem leeren Wohnzimmer und man hatte den Eindruck, dass hier der einsamste Mensch der Welt saß.
Und das war sie vielleicht ja wirklich, aber das war nicht meine Sache.
»Hat Páll mich nie erwähnt?«, fragte ich, nur um ein Gespräch in Gang zu bekommen.
»Nein«, erklang es fern und abwesend. »Nein, ich glaube nicht, ich weiß nicht«, fügte sie gedämpft hinzu, sodass ich kaum die Worte verstand.
»Du weißt nicht, ob er Feinde oder etwas in der Richtung hatte?«
Jetzt kam die Frau auf dem Sofa im Zimmer an, sie streckte ihren Rücken und ihre grauen Augen drückten mit einem Mal Trotz und Wut aus.
»Ich habe es der Polizei mindestens fünfzig Mal gesagt: Páll hatte keine Feinde. Jedenfalls keine, die man so nennen könnte. Alle mochten ihn und er war doch erst sechsunddreißig Jahre alt. Was soll jetzt aus mir und unserer kleinen Tochter werden? Wir sind gerade erst eingezogen, wie soll ich das schaffen? Mein Gehalt reicht nicht mal für die Miete.« Sie schaute sich um, als suche sie eine Antwort.
Wenn sie eine Antwort auf ihre Frage erwartete, hatte sie sich nicht den richtigen Gesprächspartner ausgesucht. Ich war Weltmeister darin, keine Antworten auf welche Fragen auch immer zu haben.
»Was willst du? Warum bist du hergekommen?«, fragte Kirstin Hansen mit einer Stimme, die sich anhörte, als würde sie ihre letzten Kräfte mobilisieren.
»Ich möchte einfach herausfinden, wer Páll ermordet hat. Wenn er nicht Selbstmord begangen hat – es gibt Leute bei der Polizei, die das glauben.«
»Páll wäre nie auf die Idee gekommen, Selbstmord zu begehen.« Jetzt blitzten ihre Augen auf, und die Kraft, die die Frau auf dem Sofa nun ausstrahlte, zeigte, dass sie es mit der Zeit schaffen würde. Sie war stärker, als sie jetzt erschien. »Páll liebte uns viel zu sehr, als dass er so etwas hätte tun können. Der Gedanke ist ... wahnsinnig«, fast zischte sie es.
»Ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe nur die Möglichkeiten erwähnt, die infrage kommen. Hat Páll die ganze Zeit beim Rundfunk gearbeitet, seit er zurückgekommen ist?«, beeilte ich mich hinzuzufügen, bevor sie mit neuen Protesten aufwarten konnte.
Sie schwieg eine Weile.
»Wir sind erst seit drei Jahren wieder auf den Färöern und die ersten beiden Jahre hat Páll bei Gaia International gearbeitet. Als die Pleite machten, ist er zum Rundfunk gegangen.« Sie schaute vor sich auf den Boden. »Er hätte nie für diese Kerle von Gaia arbeiten sollen, das habe ich ihm so oft gesagt, aber das Gehalt war dort deutlich höher. Nur – was nützt das, wenn es nie ausbezahlt wird? Im letzten halben Jahr haben wir nicht eine einzige Öre gekriegt. Die Direktoren haben Páll alles Mögliche versprochen und er war ja so gutgläubig ... Jetzt hatten wir endlich alles geregelt, und nun das ... Mein Leben ist eine Hölle, eine Hölle, eine Hölle ...«, murmelte sie vor sich hin.
Es gab keinen Grund, sie weiter zu quälen, also stand ich auf, verabschiedete mich und ging leise meiner Wege.