Читать книгу Teamermittlung - Jill Waldhofer - Страница 17
ОглавлениеKapitel 11: Abstand
Der Weg zurück in die Stadt war für Cara eine willkommene Auszeit nach den vergangenen kräftezehrenden 24 Stunden. Das Zusammensein mit anderen, Gespräche, Gedankenaustausch – das alles war ja wichtig und notwendig, wollte man nicht völlig verwildern. Doch ein Zuviel davon – also mehr als ein halber Tag, schätzte sie – brachte sie schnell an die Grenzen ihrer ausgemachten Einsiedlernatur. Eine nicht zu bändigende Gereiztheit stellte sich dann unweigerlich ein und ließ sie, wie gerade gegenüber Witzig, zum trotzigen Teenager regredieren. So sah sie es jedenfalls selbst; doch das Bedauern kam immer erst zu spät, wenn sie wieder allein war und zu sich kommen konnte.
Der große Witzig war eigentlich einer von den Guten, dachte sie vor sich hin. Ein Bär mit netten braunen Augen und anderen liebenswerten Tendenzen, aber struppigem Fell. Obwohl, struppig war er immer nur ihr gegenüber. Bella und Erlinger behandelte er sehr höflich. Die mochte er ja auch…
Sie stellte das Radio ein und dann sofort wieder aus. Nein, sie wollte nichts hören, sondern die Stille im Auto genießen. Die Landstraßen waren an diesem Nachmittag so gut wie leer. In den Dörfern sah man niemanden – höchstens ein paar Hühner, die in großen Gärten nach Futter scharrten. Die berufstätige Landbevölkerung kam ab gegen 18 Uhr wieder zurück aus der Stadt oder aus den umliegenden kleinen Orten, wo es Firmen und damit Arbeit gab. Nun zeigte die Anzeige am Armaturenbrett erst halb fünf. Die Sonne, die Bella, Jimmie und sie vorhin bei ihrem Spaziergang über die Felder ausgiebig genossen hatten, stand schon recht tief und beschien nur die Wipfel der Wälder und die Kuppen der Hügel, die sie auf dem Weg zur Bundesstraße durchquerte. Cara atmete tief durch und versank in Gedanken, während sie mit mäßigem Tempo dahinzuckelte.
Die ganze Geschichte war so vertrackt und kompliziert, dass ihr trotz – oder gerade wegen – der Besprechungen und Mutmaßungen der letzten Stunden der Kopf nur so schwirrte. Eigentlich konnte sie nur richtig nachdenken, wenn sie für sich war. Wie andere immer so schnell kombinieren und schlussfolgern konnten, wenn man sie dabei erwartungsvoll ansah, war ihr ein ewiges Rätsel. Ihr kam es immer so vor, als hüllten sie die Ansichten des Gegenübers ein wie eine dicke Decke, unter der sie ihre eigenen Positionen nicht mehr finden konnte. Dieses Handicap war ein echtes soziales Problem, denn sie konnte ja nicht – bei der Vorstellung musste sie über sich selbst kichern – nach jeder Ansprache erst einmal aus dem Raum rennen oder sich hinter einem Baum verstecken, um über eine Reaktion nachzusinnen.
Der Beruf der Detektivin hatte sie gereizt, weil man ihn allein ausüben konnte – das dachte sie jedenfalls zu Anfang – und eher beobachten als interagieren musste. So gänzlich aufgegangen war diese Rechnung eigentlich nicht, aber zumindest konnte sie sich meistens selbst entscheiden, mit wem sie enger zusammenarbeiten wollte – Bella und Erlinger! –, statt den ganzen Tag in einem Betrieb eine Arbeit unter Menschen zu verrichten, die der Chef für sie ausgesucht hatte… Nein, das wollte sie nie wieder. Dann lieber das gegenwärtige Jost-Taggert-Sekretärinnen-Korruptions-Kuddelmuddel!
A propos, dachte sie weiter, was wollte der Taggert denn nun von ihr, Cara? Wollte er überhaupt irgendetwas anderes, als einen schnöden Arbeitszeitbetrug aufdecken? Konnte es vielleicht doch ein Zufall sein, dass ausgerechnet sie durch einen gänzlich unverwandten Auftrag an Josts Foto gelangen sollte? Wie viele Detektivinnen gab es in der Stadt? Sie wusste es nicht genau, denn Detektive in einer mittelgroßen Stadt taten gut daran, ihre Dienste nicht allzu plakativ, etwa im örtlichen Anzeigenblättchen, anzupreisen. Sie, zum Beispiel, ließ sich über eine größere Agentur in Frankfurt anheuern, an die sie dafür einen monatlichen Obolus entrichtete.
Die Großstadt, etwa 100 km entfernt, lag nah genug, so dass sie Aufträge von Kundinnen und Kunden in einem erträglichen Radius erhaschen konnte. Auf diese Weise konnte sie sich in der eigenen Stadt bewegen – und herumspionieren! –, ohne dass jemand wusste, was sie beruflich eigentlich tat. Na ja, kaum jemand. Ihre wenigen Freunde wussten natürlich von ihrer Umschulung vor acht Jahren und ihrem derzeitigen „exotischen“ Broterwerb. Fazit: Sie hatte keine Ahnung, wie viel Konkurrenz sie in F. eigentlich hatte. Dass Taggert sie sozusagen hätte anvisieren können, schien nahezu ausgeschlossen. Hatte er einfach irgendeine Detektivin gesucht, die einen kleineren Auftrag in F. annehmen würde, mit dem eine Frau wohl besser klarkäme? War sie schlicht die Einzige, die in Frage kam?
Claudia und Sabine, mit denen sie sich bei der Schulung ganz gut verstanden hatte, hatten die Maßnahme nur absolviert, weil man ihnen sonst die Leistungen gekürzt hätte. Beide waren letztlich wieder in ihren ursprünglichen Berufen, Gartenbau und Einzelhandel, untergekommen, wie sie Cara eine Weile nach dem Kurs erleichtert gemeldet hatten. Alle Teilnehmerinnen hatten sich im Grunde sehr gewundert, dass man ihnen die sonderbare Umschulung „angeboten“ hatte. (Das Angebot war laut Jobcenter zumutbar und anzunehmen! Bedarf in dem Bereich war durch eine bundesweite Studie ermittelt worden!) Nicht eine von ihnen hatte auch nur ansatzweise relevante Vorerfahrungen gehabt. So nahmen die meisten der zehn Teilnehmerinnen die Belehrungen und Übungen des unsäglichen Kursleiters nicht wirklich ernst und durchlitten die sechs Monate mit einem absoluten Minimum an Energieaufwand.
Außer Cara, und vielleicht der „schönen Charlotte“, mutmaßte Cara, hatte ihres Wissens keine von ihnen auch nur versucht, das Gelernte tatsächlich in Tat und Einkommen umzusetzen. Wahrscheinlich hatten die anderen acht sich nach dem Kurs noch einmal bei Sekt und Schnittchen getroffen und gemeinsam die IHK-Zertifikate („Herzlichen Glückwunsch zu einem guten „Ausreichend“ für alle außer zwei Teilnehmerinnen!“, hatte Kursleiter Günther zum Abschluss verkündet.) in einem ihrer Vorortgärten verbrannt. Bei der Vorstellung grinste Cara vor sich hin, während sie in ihre Straße etwas außerhalb der Innenstadt einbog und – Glück der früh heimkommenden Freiberuflerinnen – direkt vor ihrem Mehrfamilienhaus einen Parkplatz fand.
Japsend erreichte sie ihre Wohnungstür im fünften Stock, schloss auf und warf erst einmal ihren Ballast aus Taschen und schmuddeliger Kleidung in den Flur. Sie brauchte eine Dusche, bevor sie irgendetwas anderes tat. Als sie im Bad den Jogginganzug von sich riss, hörte sie ihr Smartphone irgendwo draußen im Flur klingeln. Sie überlegte kurz, beschloss dann jedoch, für heute keine Gespräche mehr anzunehmen. Duschen, Bademantel, dann ein Glas Wein mit einem Krimi auf dem Sofa.
„Der Mensch braucht auch mal Abstand“, erklärte sie ihrem Spiegelbild, bevor sie in die Kabine stieg.
Die Dusche war herrlich! Sie ließ das heiße Wasser minutenlang über ihr Gesicht laufen und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Als sie aus der Dusche heraustrat, war ihr ganzes Bad in Wasserdampf gehüllt. Sie öffnete das Fenster, stellte es auf Klappe und wischte mit dem feuchten Handtuch über den Spiegel. Wunderbar! Wie konnte man es nur ohne den Luxus einer heißen Dusche aushalten? Wie hatten die Menschen früher ohne diese Lebenshilfe auskommen können? Ein ewiges Rätsel.
Sie schlüpfte in eine alte Jogginghose und einen ausgeleierten Pullover und schlurfte in die Küche. Aus dem Kühlschrank griff sie sich eine offene Weißweinflasche und aus dem Küchenschrank ein Glas. Solchermaßen ausgerüstet, wanderte sie weiter ins Wohnzimmer, ließ sich auf ihr Sofa sinken und deckte sich mit ihrer dicken Wolldecke zu. Sie nippte an ihrem Glas, sah ein wenig an die Decke, nahm wieder einen Schluck und schaffte es, an absolut gar nichts zu denken.
Die Detektivin schlief ein.
Sie wurde wach. Wieso eigentlich? Draußen war es inzwischen dunkel geworden und sie lauschte in ihre Wohnung. Irgendwo war ein Geräusch, ein Brummen, wie von einer eingesperrten Hummel. Ihr Handy summte in ihrer Handtasche. Träge rappelte sie sich auf, suchte das inzwischen wieder ruhige Gerät in ihrer Handtasche und schaltete es ein. Ach, du Schreck, mehrere Nachrichten, die sie überhört hatte. Und sie erinnerte sich, dass das Handy auch geläutet hatte, als sie ins Bad gegangen war. Mehrmals Bella und ein Anruf von einer unbekannten Nummer. Was wollte Bella? War etwa schon wieder was passiert?
Plötzlich fiel es ihr siedend heiß ein: Sie hatte sich ja für diesen Abend wieder verabredet, um das weitere Vorgehen abzusprechen, und sie hatte verschlafen. Sie fühlte sich jetzt auch absolut außerstande, ins Auto zu steigen und nochmal durch die Nacht zu fahren. Nicht mit ihr! Und getrunken hatte sie ja auch. Wenn das kein Grund war!
Rasch wählte sie Bellas Nummer, worauf diese sich sofort meldete und beunruhigt fragte: „Ist alles okay mit dir? Wir haben hier gewartet, haben auch öfter angerufen, aber du bist nicht rangegangen. Wo warst du?“
„Bella, es tut mir leid! Ich habe eine heiße Dusche genommen, mir ein Glas Wein eingeschenkt und war so erledigt, dass ich eingeschlafen bin und nichts mehr mitbekommen habe. Ich bin gerade aufgewacht, weil das Handy gebrummt hat. Ehrlich gesagt, fühle ich mich jetzt nicht mehr in der Lage, zu euch zu kommen. Wie spät ist es denn eigentlich?!“
„Es ist gleich 10 Uhr, und ich will jetzt auch ins Bett. Also vertagen wir unsere Verschwörungskonferenz auf morgen, okay? Ich bin nur froh, dass mit dir alles in Ordnung ist. Ich hatte schon die Phantasie, dass du wieder irgendeinen Alleingang unternommen hast und irgendwo in der Falle sitzt. Schlaf gut, meine Liebe!“
„Ich doch nicht“, versetzte Cara und fügte hinzu, dass sie im Augenblick so gar nicht unternehmungslustig, geschweige denn abenteuerlustig sei. Sie würde jetzt sofort ins Bett gehen und vor morgen früh nach dem dritten Kaffee sei sie nicht ansprechbar. Sie legte auf und machte ihre Vorhersage wahr.
Sie verschwand in ihrem Schlafzimmer, zog die Vorhänge zu, kroch in ihr gemütliches Bett und war im Nu eingeschlafen.