Читать книгу Tödliche Geschwister - Jo Caminos - Страница 5
1. Kapitel
Оглавление„Gehst du heute Abend mit ins Kino? Da läuft irgendein Gruselschocker. Könnte lustig werden“, meinte Sheila. Sie biss herzhaft in ein Truthahnsandwich, das mit einer Extraportion Mayonnaise, würzigem Dressing, viel Salat und klein geschnippelten Gürkchen belegt war. Es war bereits der dritte Snack - innerhalb der letzten Stunde. An die Fettpölsterchen auf ihrer Hüfte wollte Sheila nicht denken, nicht jetzt, überhaupt nicht in den letzten Tagen. Sie war nicht in Stimmung, sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen. Sie war fett, würde fett bleiben - Punkt. Etwas Mayonnaise tropfte ihr auf die Hand. Sie schleckte das Dressing genüsslich ab und lächelte verzückt. Bringt mich irgendwann um, das fette Zeug … Scheißegal. Sheila war auf Diät, wieder mal. Zuerst hungerte sie, bis sie sich fast nicht mehr auf den Beinen halten konnte - und kurze Zeit später stopfte sie so lange alles Essbare in sich hinein, bis die alte Schwergewichtsnorm wieder erreicht war. Es war das alte Spiel. Angefangen hatte es in der Kindheit, als ihre Mutter meinte: „Fette Mädchen finden keinen Mann, Sheila, Darling, also hör endlich auf, dich vollzustopfen. Das ist widerlich. Und widerliche fette Mädchen hat niemand lieb …“ Margaux Yannovich-Elba, Sheilas Mutter, war eine sehr gut aussehende Frau, die leider kinderlos geblieben war. Sie hatte ihren letzten Ehemann, wie auch seine drei Vorgänger, zum Teufel gejagt. Vor allem war sie reich - nicht nur einfach reich, sondern so richtig. Irgendwann kam diese reiche, einsame Frau auf den Gedanken, ein Kind zu adoptieren. Kein Baby, denn, wenn Margaux eines nicht ausstehen konnte, dann war das der Gestank voller Windeln - da kam das vierjährige Mädchen aus dem Waisenhaus gerade richtig. Ein süßes Mädchen mit Stupsnase und Sommersprossen, mit langen Zöpfen und großen blauen Augen. Sheila war Margauxs ein und alles. Sie vergötterte dieses Kind, zumindest so lange, bis sich das süße Mädchen in einen ziemlich unansehnlichen Teenager verwandelte.
Ja, dachte Sheila. Für einen Moment erschien ihr das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge. Sie hörte auf zu kauen. Stimmen. Wieder diese verfluchten Stimmen. Ihr Blick ging ins Leere. Auch du warst widerlich, allerliebste Mami. Später, als ich nicht mehr das hübsche Mädchen war, sondern die fette Tonne. So widerlich zu deinem Kind. Zumindest so lange, bis ich dir dann endlich die Kehle durchgeschnitten habe. Schade, dass du dein blödes Gesicht in jenem Augenblick nicht selbst hast sehen können. Das war wirklich so was von abgedreht!
Stimmen, Gewisper. Lauter, eindringlicher.
„Aber Sheila, Darling, was machst du denn da …?“ Und Blubberblubber quoll dann das Blut aus diesem schnell gesetzten Schnitt an deiner Kehle. Welch eine Verschwendung, dass du kurz zuvor so viel Geld auf der Schönheitsfarm gelassen hast, nicht wahr? Alles für die Katz, allerliebste, böse Mami. Du hast geröchelt und ziemlich komisch geguckt. Und es hat nicht mehr lange gedauert, dann warst du tot. Fast schade, dass es so schnell zu Ende ging. Man kann eben nicht alles haben … Ja, allerliebste Mami, so einfach habe ich dich ins Jenseits befördert, wie einen alten Müllsack, den man schnellstmöglich loswerden will. Ha!
Sheilas Blick klärte sich von einem Moment auf den anderen. Sie biss erneut in das Truthahnsandwich und kaute genüsslich vor sich hin.
„Was hast du eben gefragt?“ Sandra, ihre Mitbewohnerin und Fast-Lebenspartnerin, öffnete die Badezimmertür und sah in den Wohnraum des geräumigen Apartments. Vorsichtig betupfte sie ihr langes schwarzes Haar mit einem Handtuch. Nur nicht rubbeln, das gibt Spliss! Sandras Augen wurden groß, als sie feststellte, dass Sheila sich schon wieder einen Snack genehmigte. „Isst du etwa schon wieder? Ich dachte, du willst Diät halten? Wenn du so weitermachst, passt du bald in keine der Jeans mehr rein … Bei deinen engen Shirts sieht man jedes Speckröllchen, also schön ist das nicht …“
Sheila zuckte nur mit den Achseln und mampfte genüsslich weiter vor sich hin. „Nerv nicht! Ich bin fett, na und? Du liebst mich ja sowie so nicht. Ich fragte, ob wir nachher ins Kino gehen sollen. Da läuft ein Gruselschocker.“
Sandra verdrehte die Augen. „Kino, heute? Und ausgerechnet ein Gruselschocker. Pfft … Och, Sheila … Heute ist Freitagabend. Und was ist mit Mickey´s Bar? Angelo und der süße Pjotr haben sich doch für heute Abend angekündigt, das weißt du doch.“
Jetzt war es an Sheila, die Augen zu verdrehen. „Pjotr …, wenn ich den Namen schon höre! Das Bübchen ist doch der Langweiler in Person. Und Angelo nervt mich mit seiner blöden Anmache. Der kriegt es einfach nicht geregelt, dass ich nichts von ihm will. Nein, darauf kann ich verzichten. Aber wenn du unbedingt mit den beiden Nieten abhängen willst … Ich kann auch alleine ins Kino gehen.“
Sandra wusste, was Sache war, wenn Sheila diesen bestimmten Tonfall anschlug: Entweder sie würde schmollen und für den Rest des Wochenendes kein Wort mit ihr wechseln - oder aber sie bekam einen ihrer berüchtigten Wutanfälle, bei dem etliches an Porzellan zu Bruch gehen konnte. Sie sah Sheila nachdenklich an. Ihre Freundin hatte manchmal einen derart komischen Blick, dass einem ganz anders werden konnte. Fast so, als wollte sie einem an die Kehle gehen.
„Was für ein Gruselschinken läuft denn?“, fragte sie schließlich und hoffte, halbwegs interessiert zu klingen.
„Lunatics on Highway 61“, erwiderte Sheila. Ein sarkastisches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Na, noch immer nicht interessiert …?“
Sandras Augen wurden groß. „Etwa der neue Film mit Earl Goldstein - dem Earl Goldstein! Meinem Earl Goldstein!“
Sheila verdrehte die Augen. Sandra bekam sich fast nicht wieder ein. Seit Goldstein die Arztserie auf NBC verlassen hatte und mehrere Erfolge auf der großen Leinwand verbuchen konnte, war sie hoffnungslos in den Schauspieler verliebt.
Sheila grinste breit. „Ja - mit deinem Earl Goldstein. Der Kerl bekommt doch außer Horrorrollen nichts mehr angeboten, Herzchen.“ Sie wusste, dass Sandra es nicht leiden konnte, wenn man Goldstein kritisierte, dabei waren sich die Filmkritiker längst einig, dass dessen Glanzzeit schon lange vorbei war.
Sandra zog eine Schnute. „Earl hatte ein paar Flops, aber das heißt ja noch lange nicht, dass er weg vom Fenster ist. Die anderen Filme waren alle Kassenerfolge. Na ja, fast. Er legt halt Wert auf Qualität, und die liegt leider oft etwas jenseits des Mainstream-Geschmacks. Abgesehen davon: Ich finde ihn halt süß. Der ist so sexy, so … Uhhh, ich weiß auch nicht. Da werde ich ganz kribbelig …“
Sheila seufzte. „Wenn du meinst. Also, was ist nun? Gehen wir ins Kino - oder was …?“
Sandra zögerte einen Moment. Schließlich zuckte sie mit den Achseln. Sie war fast pleite, und wenn ihre Freundin ihr jetzt den Geldhahn abdrehte, könnte es bis Monatsende doch ziemlich knapp werden. „Gut, geh´n wir ins Kino. Wenn ich ehrlich bin, habe ich heute Abend auch keine Lust auf irgendwelche Kerle. Die wollen einen ja doch nur flachlegen. Aber später gehen wir dann noch Pizza essen … Mir knurrt nämlich der Magen.“
„Willst du mich mästen?“ Sheila grinste. Etwas Mayonnaise hing ihr zwischen den Zähnen, aber so etwas hatte sie noch nie gestört.
„Dafür sorgst du schon selber“, meinte Sandra nur. „Was kann ich dafür, dass du immer am Essen bist? Ich habe seit heute Mittag nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Und auf Trockenbrot habe ich echt keine Lust. Ich föhne jetzt meine Haare fertig. Iss du dein Sandwich, und störe mich die nächste halbe Stunde nicht. Nägel muss ich auch noch lackieren.“
„Dann mach dich mal hübsch. Ist bei mir sowieso zwecklos.“ Sheila legte den Rest des angebrochenen Sandwichs achtlos auf den Teller zurück. Sandra hatte die Tür zum Badezimmer hinter sich geschlossen. Der Föhn machte einen Heidenkrach. Sandra sang ziemlich laut und falsch irgendeinen Song. Es klang ziemlich schräg, aber so war Sandra eben. Sheila erhob sich ächzend von der Couch und trat ans Fenster. Ihr Spiegelbild ekelte sie an. Fett, überall Fett … Langsam wurde es draußen dunkel. Es war Zeit, die Zelte hier abzubrechen. Sandra wurde langsam lästig. So etwas konnte Sheila nicht ausstehen. Es war schon einige Zeit her, dass sie jemanden ins Jenseits befördert hatte. Als sie Sandra vor zwei Jahren kennengelernt hatte, war sie der Meinung gewesen, ihren seltsamen Trieb endlich im Griff zu haben, aber offensichtlich hatte sie sich geirrt. Wie auch …, dachte sie, so etwas vergeht nie. Das ist ganz tief in dir drin. Für einen Moment glaubte sie, wieder Stimmen zu hören. Ein Wispern nur. Tue es endlich! Tue es endlich! Sheilas Gesicht glich einer Maske. Vor ihrem inneren Auge erschien Sandra - es war zu der Zeit, als sie sich kennenlernten. Sandra war unglaublich charmant. Ich mag dich, sagte sie irgendwann. Sheila glaubte ihr - damals. Das war vorbei. Sandra war nicht zu trauen. Sie war nur auf sich selbst fixiert, brauchte jemand, der sie aushielt, das war alles.
Sandra hatte nur mit ihr gespielt, dessen war sie sich mittlerweile sicher. Ihre Freundin stand nun einmal auf Männer. Da waren alle weiteren Versuche zwecklos, sie bekehren zu wollen. Aber Sandra würde leiden. Ja, das würde sie. Einmal zu oft hatte sie so getan, als wäre sie an ihr - Sheila - interessiert, dabei war es doch immer nur um die Monatsmiete gegangen. Sandra war permanent blank: zu viele Klamotten, zu viel Modeschmuck, zu viel Chaos bei ihren finanziellen Planungen … Ja, die Zeit war gekommen, Sandra Domenico eine Lektion zu erteilen. Heute, nach dem Kino. Oder während der Vorstellung. Oh ja, der Gedanke gefiel Sheila. Während der Vorstellung würde sie Sandra die Kehle durchschneiden. Ganz genüsslich. Guck mal, Schatz - Überraschung … Ein schneller Schnitt im Dunkeln, wenn das Publikum gebannt auf die Leinwand starrte. Danach würde sie sich aufs Klo verdrücken und warten, bis man Sandras Leiche entdeckt hätte. Wenn die ersten Schreie erklangen, würde sie in den Kinosaal zurückrennen und entsetzt schreien, lauter als alle anderen. Man musste ja so tun, als wäre man völlig durch den Wind, wenn der besten Freundin, die Kehle durchgeschnitten worden war, nicht wahr? Wenn alles so lief, wie sie es sich ausmalte, würde sie regelrecht aus den Latschen kippen. „Meine Sandra ist tot. Meine geliebte Sandra! Meine beste Freundin …“ Oh großes Geheul, oh süßer Schmerz.
Sheila griff nach dem Rest des Sandwichs und biss herzhaft hinein. Fett, fetter, am fettesten - na und? Die Vorstellung, jemandem die Kehle durchzuschneiden, machte sie immer so unglaublich hungrig. Wie sollte man da auf Diät bleiben …?