Читать книгу Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich - Jo Hilmsen - Страница 11

Kapitel 9

Оглавление

Nachdem Karl Munkelt beschlossen hatte, seinen Laden heute nicht zu öffnen und sich einen doppelten Whisky eingeschenkt und bereits getrunken hatte, betrachtete er weiter sprachlos den Inhalt des Koffers.

Sechs Videokassetten. Allesamt unbeschriftet.

Karl sah immer wieder wie paralysiert auf den Kurzzeitwecker im Koffer. Nicht viel hätte gefehlt, und seine geliebte Küche läge jetzt wahrscheinlich in Trümmern. Nicht viel hätte gefehlt, und er hätte sich über seine Trümmerküche gar keine Sorgen mehr machen brauchen.

Ich nehme noch einen, entschied er. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass zwei Whisky um diese Uhrzeit möglicherweise auch den restlichen Tag ruinieren konnten, kippte er ihn auf Ex. Endlich ließ das Zittern seiner Hände nach. Karl holte tief Luft und rieb sich kräftig mit den Fingern die Augenbrauen, so, als müsste er sich noch einmal vergewissern, dass er tatsächlich unbeschadet geblieben war.

„Wer denkt sich so ´nen Scheiß aus?“, fragte er in Richtung Koffer.

Dann begutachtete er jede einzelne Videokassette so eindringlich, als könnten die ihm entweder auch noch um die Ohren fliegen oder ihm wenigstens einen Hinweis darüber liefern, warum er um ein Haar in Stücke gerissen worden wäre. Die Stange und den Kurzzeitwecker ignorierte er.

„Ich muss mir diese Scheißdinger ansehen“, murmelte er. Karl Munkelt genehmigte sich einen dritten Whisky und merkte erst jetzt, dass er seinen Lieblingswhisky, einen dreißig Jahre alten Lafroaig bereits zur Hälfte einfach so in sich hinein geschüttet hatte. Egal, schließlich feierte er gerade seine zweite Geburt.

Teures Frühstück, dachte Karl, kam irgendwie zum Stehen und torkelte in Richtung Wohnzimmer, die Videokassetten unterm Arm.

Zum Glück besaß er noch einen Videorekorder. Alle seine Bekannten hatten längst auf DVD umgerüstet und ihre Videorekorder entweder verschenkt oder entsorgt. Er war nicht nur der stolze Besitzer einer recht umfangreichen Videosammlung, sondern stapelte auch immer noch eine beachtliche Zahl von Platten. Karl war ein Liebhaber des guten alten Vinyls. In der gesamten Wohnung befand sich nicht eine CD oder DVD.

Karl schaltete den Fernseher ein, kramte nach der Fernbedienung und schob die erste VHS in den Rekorder.

Weißes Rauschen.

Vor Enttäuschung ließ er sich in den schweren Ohrensessel fallen. Dann spulte er die Kassette vor und zurück, schaltete zwischendurch auf Play, um danach das Band noch einmal vor- und zurücklaufen zu lassen.

Wie mit der Ersten erging es Karl Munkelt mit der zweiten und der dritten Kassette: weißes Rauschen. Alle Bänder waren offensichtlich gelöscht oder nie bespielt gewesen. Dieser Umstand führte dazu, dass er sich noch einen Lafroaigh spendierte.

Nun sturzbetrunken, sinnierte er eine Weile darüber nach, ob man ein unterscheidbares weißes Rauschen sah, wenn eine Kassette unbespielt war oder gelöscht. Nach ungefähr zwanzig Minuten entschied er, dass dies im Grunde scheißegal war.

Inzwischen war es halb Zwölf. Unten auf der Schönhauser Allee tobte längst der tägliche Wahnsinn. Vollgestopfte S- und U-Bahnen brachten Leute von A nach B, kleine und große Laster versorgten die Geschäfte und Menschenmengen strömten nach links oder rechts. Berliner, Pendler, Touristen.

Mehrere potenzielle Kunden waren an der abgeschlossenen Ladentür von Ramsch & Plunder zurückgeprallt und kopfschüttelnd wieder gegangen. So betrug Karls Minusgeschäft an diesem Vormittag mindestens genauso viel, wie der Wert des Whiskys, der in seiner Kehle versickert war.

Inzwischen am Rande der Verzweiflung schob Karl die vierte Kassette in den Rekorder. Frustriert drückte er auf Play und betrachtete hysterisch das weiße Rauschen.

Plötzlich erschien ein Oberkörper auf dem Bildschirm. Ein Mann , der offensichtlich direkt in eine auf ihn gerichtete Kamera sprach.

„Sieht aus wie ein gottverdammter Nachrichtensprecher“, flüsterte Karl. Der Mann im Fernseher verstummte und erstarrte, weil er versehentlich die Pausentaste gedrückt hatte.

„Gute Gelegenheit, um Pinkeln zu gehen“, sagte Karl zu dem eingefrorenen Mann.

„Ungefähr sechzig Jahre alt, auffallend blaue Augen, graues Haar, sehr schmales Gesicht“, murmelte Karl Munkelt auf dem Weg zum Klo und stolperte dabei über eine Jacke, die wie plötzlich vom Himmel gefallen zu sein schien. Er schlug der Länge nach hin. Der Aufprall reichte aus, um ihn fast schlagartig nüchtern werden zu lassen.

Karl rieb sich benommen die faustgroße Beule an seinem Kopf.

Woraus bestehen eigentlich Beulen? Fragte er sich kurz, dann ging er ins Bad. Nach dem Pinkeln bespritzte Karl ungefähr zwanzig Mal sein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann begab er sich zurück ins Wohnzimmer und bedachte die Whiskyflasche und das halb volle Glas davor mit einem missbilligenden Blick.

Der ungefähr sechzig Jahre alte Mann auf dem Bildschirm seines Fernsehers war nach wie vor erstarrt.

Karl nahm Flasche und Glas und ging in die Küche. Er schüttete den Inhalt des Glases über dem Spülbecken zurück in die Flasche. Dann verstöpselte er sie und stellte sie ins Regal. Während der Kaffee durchlief, stand er am Fenster und betrachtete das kleine Stück Himmel über den Häusern der Schönhauser Allee, den er von seiner Etage aus sehen konnte.

Mann, dachte er, du bist ein verdammter Glückspilz, da haben bestimmt gleich mehrere Schutzengel Überstunden gemacht. Er überlegte kurz, die Polizei zu rufen, entschied sich aber dagegen.

Der Kaffee war durchgelaufen, und Karl trank ein paar gierige Schlucke. Zurück im Wohnzimmer drückte er die Playtaste der Fernbedienung.

Der Mann begann zu sprechen. Karl musste schlucken.

Zunächst möchte ich Ihnen gratulieren. Denn sollten Sie mich jetzt sehen, haben Sie überlebt. In dieser Stange befand sich tatsächlich TNT.

Der Mann lächelte süffisant und verzog das Gesicht zu einer spöttischen Maske. Karl bedauerte einen Moment, den Whisky zurückgestellt zu haben, denn der Schauder, der ihm jetzt den Rücken herunterlief, war eine Potenzierung von American Stafford, weißes Rauschen und Dynamitstange. Der Schluck Kaffee, den er mit zittriger Hand versuchte zu trinken, lief ihm heiß über das Kinn und tropfte auf den Tisch.

Karl wischte die Pfütze mit seinem Hemdsärmel auf. Inzwischen war er hoch konzentriert.

Aber, fuhr der Mann im Fernseher fort, glauben Sie nicht, dass Sie jetzt in Sicherheit sind. Ich zeige Ihnen jetzt eine Realität, die Ihnen nicht gefallen wird. Das, was sie jetzt sehen werden, sind Aufzeichnungen von geheimen Treffen… und eine riesige Schweinerei. Ich spreche zu Ihnen nicht als Opfer, sondern als Täter. Mein Name ist Doktor Rudolph Hofmann. Ja, ich gestehe, dass ich an diesen… diesen Abscheulichkeiten beteiligt war. Sie werden mich vermutlich hassen. Das Einzige, was mir bleibt, ist um Vergebung zu bitten. Möglicherweise erscheine ich Ihnen als Feigling, als jemand, der sich seiner Verantwortung nicht zu stellen bereit ist. Das bin ich. Und doch bitte ich Sie, für mich zu beten. Denn ich bin bereits tot.

Und dann kamen die Bilder.


Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

Подняться наверх