Читать книгу Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich - Jo Hilmsen - Страница 13

Kapitel 11

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Winfried Urban und Werner Blumentritt saßen wie üblich am Fenster in der ersten Etage des Behindertenwohnheims und beschimpften sich.

„Du Wasserkübel“, sagte Winfried Urban gerade, und Herr Blumentritt antwortete laut kichernd.

„Du Kaffeemaschine.“

Auf den Hof rollte ein Auto mit zwei blauen Lichtern auf dem Dach wie Winfried Urban registrierte. Irgendetwas sollte ihren Alltag bereichern. Während des Sommerfestes letzten Jahres hatte schon einmal ein ähnliches Auto im Hof gestanden. Er und Karl-Heinz – für den er den Übersetzer spielte – waren als Ehrengäste geladen. Sie durften an verschiedenen Knöpfen drücken und zuhören, wie lautes Gelärm plötzlich den Hof erschallte. Das war aufregend und gleichzeitig bedrohlich. Lange brauchte er, um sich später zu beruhigen. Es war, als ob plötzlich die ganze Welt in ihrem kleinen Hof schreien würde. Nicht auszudenken, was das in der unteren Etage für Verwirrungen zu stiften vermochte. Die konnten nicht so einfach weglaufen, das wusste Herr Urban.

Aus dem Wagen stiegen zwei Polizisten, wie Herr Urban sah. Er klopfte mit seinem Zeigefinger an das Fenster und winkte. Die Polizisten reagierten nicht darauf. Der eine musterte die Eingangstür, der andere ruckelte seine Hose zurecht, die ihm fast über seinen Hintern gerutscht war. Herr Urban lächelte nachsichtig, denn so etwas passierte ihm andauernd. Meistens ruckelte ihm die Frau Corinna seine Hose wieder richtig. Er drückte seine Nase an der Scheibe platt und versuchte es noch einmal mit der Scheibenklopferei. Dann überlegte er kurz nach unten zu gehen, um vielleicht den Hof wie beim Sommerfest mit dem lauten Gelärm zu beschallen. Dabei fiel ihm ein, dass ihm dies ja ziemlich bedrohlich erschienen war. Also blieb er besser sitzen und starrte weiter in den Hof. Aus dem Mastbullenstall kamen gerade der Lutz und der Mathias. Die Beiden wankten mit ihren Gummistiefeln, deren Sohlen mit einer zentimeterdicken Schicht beschwert waren. Auch nach dem gründlichen Spülen in der Stallküche stanken die Stiefel noch nach Bullenmist. Und die Stallküche stank ohnehin nach Bullenmist.

Herr Blumentritt stand auf und stapfte davon, weil ihm nicht mehr geantwortet wurde.

Und nun tat Herr Urban etwas, was er so gut wie nie tat. Er ging den langen Flur entlang und schließlich zur Treppe. Stieg hinab und befand sich just am Ausgang. Er öffnete die Tür. Ein Wind aus frischer Luft und einem Hauch von Kuhkacke schlug ihm entgegen. Vertrauter Geruch eigentlich. Und plötzlich passierte etwas, was er sich vor ein paar Tagen noch gar nicht hätte vorstellen können. Herr Urban schaute sich um und entdeckte einen Weg, der hinter dem Hof irgendwohin führte. Er wusste, dass sich am Sonntag alle am liebsten vor dem Haus versammelten, um dann zusammen mit dem diensthabenden Betreuer in diese Richtung zu spazieren. Besonders die Frau Corinna mochte dieses Ritual gern. Er und Herr Blumentritt brauchten daran nicht teilzunehmen. Sie beide mussten auch nicht jeden Tag in der Woche kleine Plastiklöffel sortieren und in Tüten stopfen wie all die anderen im Heim, die nicht im Stall arbeiteten. Herr Urban und Herr Blumentritt waren von allem befreit und seine einzige Aufgabe bestand darin, Karl-Heinz´ seltene Sprache zu dolmetschen.

Und wie er so da stand und ein bisschen über all das sinnierte, überkam ihm plötzlich eine große Lust. Die Lust auf eine Entdeckungsreise. Winfried Urban kicherte leise. Hinter dem Stall sah er, wie sich die Wipfel der Bäume hin und her wiegten. Er beobachtete eine schwarze Krähe, die hinkte, und bekam sofort Mitleid. Sein Blick wanderte zu seinen Füßen, die noch in seinen karierten Pantoffeln steckten. Er überlegte kurz, kehrt zu machen und noch einmal nach oben zu gehen, um die Pantoffeln gegen seine schönen Lederschuhe einzutauschen. Diese Schuhe waren wirklich etwas Besonderes, denn sie hatten keine Schnürsenkel, sondern Klettverschlüsse. Und darin lief es sich sehr bequem. Dagegen sprach, dass er möglicherweise von seiner Entdeckungsreise abgehalten werden könnte. Von Karl-Heinz zum Beispiel, weil die Frau Corinna ihn mal wieder nicht verstand oder weil ihm selbst ganz einfach irgendetwas anderes in den Sinn kam.

Erst nachdem das Heim mit seinem weißen Anstrich schon klitzeklein geworden und hinter der nächsten Biegung schließlich ganz verschwunden war, dachte er an Herrn Blumentritt und daran, dass der ihm vielleicht folgen könnte. Er blieb stehen und sah sich um. Weder Herr Blumentritt noch sonst wer waren ihm hinterhergelaufen. Also ging er weiter.

An der nächsten Weggabelung bog Herr Urban nach rechts, an der übernächsten nach links. Allein das Laufen war Abenteuer und Entdeckung zugleich. Der Weg führte nun schnurstracks in den Wald, und Herr Urban folgte ihm.

Als die ersten Bäume seinen Weg säumten, stoppte er abermals und hielt eine Weile seine Nase in die Luft. Es duftete nach Wald. Ein Geruch, der ihn an die Zeit erinnerte, als er noch ein ganz kleiner Herr Urban gewesen war.

„Ganz genau“, sagte er laut vor sich hin. „Der Wald.“

Winnilein, pass auf, wo du hintrittst. Tollpatsch! Mit diesen Worten hatte ihn seine Mutter immer getadelt, wenn er auf ihren gemeinsamen Spaziergängen übermütig losgerannt war. Meistens passierte dann tatsächlich eine Katastrophe. Mal stolperte er über einen Ast und schlug sich die Knie wund, mal peitschte Gestrüpp sein Gesicht und hinterließ blutige Striemen, oder er übersah ein Loch im Boden und musste anschließend mit einem verstauchten Knöchel mühsam von seiner Mutter nach Hause geschleppt werden. Ganz unglücklich war er danach immer. Unglücklich darüber, dass bei ihm die Beine nicht so gut funktionierten wie bei den anderen Kindern, die in der Nachbarschaft wohnten, Hans oder Martin zum Beispiel. Und der kleine Herr Urban weinte über dieses Unglück und irgendwann machten ihm diese Spaziergänge überhaupt keinen Spaß mehr.

Jetzt beobachtete Winfried Urban einen Schmetterling, dessen dunkle Flügel mit kleinen farbigen Kreisen geschmückt waren. Der Schmetterling steckte seinen Rüssel in eine gelbe Blüte und schien daraus zu trinken.

Herr Urban trat einen Schritt zurück, streckte seine rechte Hand aus und berührte zaghaft einen Flügel des schönen, zarten Geschöpfs.

„Pass auf, du kleiner Schmetterling, wo du hinfliegst und sei nicht so tollpatschig“, sagte er und kicherte leise. Der Admiral bewegte seine Flügel zwei-, dreimal und flog auf. Kurz darauf landete er auf der Schulter von Herrn Urban und blieb sitzen. Herr Urban war verdattert. Nun war er nicht nur Übersetzer, sondern auch Dompteur. Schmetterlingsdompteur.

Ganz fröhlich geworden, ging er weiter in den Wald. Mit Pantoffeln an den Füßen und einem Schmetterling auf der Schulter. Während Herr Urban immer tiefer in den Wald hineinlief und erst am nächsten Tag von einer Polizeistreife in der Nähe des kleinen Örtchens Ostritz aufgegriffen werden sollte, zum Glück wohlbehalten, klopften dieselben Polizisten an die Tür des Heimleiters.

Die beiden Beamten hatten ein paar Fragen zu einem Mitarbeiter der Behinderteneinrichtung. Harmlos, wie sie beteuerten. Nichts von Belang. Außerdem kannte man sich ja. Reine Routine. Herr Jungmann bot Kaffee an, beantwortete alle Fragen und schließlich plauderten sie über gemeinsame Bekannte.

Und dennoch sollte dieser Besuch Benjamin Krauses unfreiwillige Reise in die mongolische Steppe um einiges beschleunigen.

Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

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