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Kapitel 10

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Milmersdorf war ein schmuckloses Kaff, ungefähr 60 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, zerschnitten von der B 109 und so gewöhnlich wie Tausende andere Dörfer. In der Mitte des Dorfes fielen sofort die grob sanierten Plattenbauwohnklötze auf. Ansonsten bestand der Ort aus einer Tankstelle, einem Holzgroßhandel mit Sägewerk, einer Filiale der Uckermärkischen Sparkasse, einem Supermarkt und den typischen märkischen Höfen und Häuschen.

Benjamin Krause hatte seit einer Dreiviertelstunde seinen Bestimmungsort erreicht und mittlerweile die Reste seiner fünften Kippe aus dem heruntergekurbelten Fenster geschnippt. Sein Blick wanderte zum hundertsten Male die 109 entlang. In beide Richtungen. Er wusste weder, von wo seine Kontaktperson kam, noch wie sie aussah, noch welches Auto sie fuhr. Das einzige, was er wusste, war: dass es ein Er war. Nun ja.

Wie ihm angewiesen worden war, hatte Benjamin einen geschlossenen VW-Caddy bei Robben & Wientjes in Berlin gemietet, das Logo sollte deutlich an der Karosserie sichtbar sein, und war hierher gefahren.

Und nun?

Nun starrte er abwechselnd auf seine Uhr und die Bundesstraße hoch und runter. Die Zeit schleppte sich zäh dahin. Noch immer blieben ihm 35 Minuten Warten bis zu der Verabredung, die sein Leben auf den Kopf stellen sollte.

Bleib ruhig, sagte sich Benjamin Krause – und fummelte fahrig nach der nächsten Zigarette.

Mit den Radiosendern in dieser Region kannte er sich nicht aus, also drückte er solange den Sendersuchlauf, bis Musik erklang, die seinen Ansprüchen genügte. Auf einem der vielen Sender lief gerade Feel von Robbie Williams, und Benjamin ließ die Musik laufen. Dieser Song entsprach seinen Ansprüchen. Sehr sogar. Benjamin drehte das Radio lauter.

Gerade als er ein wenig entspannt mitsingen wollte, hielt plötzlich ein Wagen neben seinem Robben & Wientjes Caddy.

Es war ein schwarzer 5er BMW mit getönten Scheiben.

Um möglichst ruhig zu wirken, schaltete er das Radio aus und hielt den Atem an.

Der Wagen war aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. Die beiden Fahrzeuge standen nebeneinander und der Fahrer saß jetzt quasi neben ihm.

Die getönte Scheibe senkte sich und ein Mann stülpte seinen Ellenbogen heraus.

Benjamin Krause wagte nicht zu atmen, sondern reagierte nur mit einem sprachlosen Zwinkern.

Hinter dem Ellenbogen erschien ein Gesicht. Es war viel jünger, als es Benjamin erwartet hätte. Das Gesicht eines jungen Mannes in seinem Alter, der irgendwie genauso nervös wirkte wie er selbst es war.

„Bist du Benjamin Krause?“

„Ja.“

„Ich habe den Auftrag, dir etwas zu übergeben.“

„Hm.“

Sie musterten sich gegenseitig. Keiner von Beiden hatte eine Ahnung, welche Rolle der andere spielte. Also taten sie so, als wäre die eigene Rolle die Wichtigere.

Gerade als Benjamin Krause eine Frage stellen wollte, randalierte sein Handy in der Hosentasche. Mechanisch zog er sein Sony Ericsson aus der Tasche und klappte es auf.

„Ha, ich wusste, dass du nicht zu Hause bist und dich irgendwo rumtreibst“, ertönte es im Hörer vorwurfsvoll. Corinna Baumgart. Benjamin legte seine Stirn in Falten.

„Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung empfehlen die Ärzte sogar ausgiebige Spaziergänge“, konterte er und schielte gleichzeitig hinüber zu dem jungen Mann im schwarzen BMW.

„Sekunde“, sagte er schnell in dessen Richtung, und der junge Mann nickte als Antwort.

„Eine was?“, fragte unterdessen Corinna. Bei einer Frau wie ihr trafen alle Blondinen-Witze irgendwie zu, als wären sie reale Erzählungen.

„Corinna, ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Warum rufst du mich an?“

Benjamin hatte sich sofort geärgert, als er den Anruf entgegen genommen hatte, nun schalt er sich einen unverbesserlichen Blödmann.

„Mandy hatte einen ziemlich furchtbaren Durchfall heute Nacht. Deswegen rufe ich an… Möglicherweise muss sie in die Klinik.“ Ihr kurzes darauf folgendes Schweigen sollte auf theatralische Weise dieses Unglück dramatisieren und ihren Vorwurf dadurch bekräftigen.

„Oh“, entfuhr es Benjamin Krause. Mandy war eine siebzehnjährige Schwerstmehrfachbehinderte aus der Mäusegruppe, die weder sprechen noch laufen konnte. Ein Mensch, der nur durch seine Augen sprach. Hübsch, trotz ihrer schweren Behinderung. „Oh“, sagte er noch einmal. „Das tut mir leid. Oje…“ Sein Bedauern war aufrichtig, wenngleich nicht ganz selbstlos.

„Ich wollte dir nur sagen, dass dies eine schwere Belastung darstellt, und wir dich hier brauchen, trotz deines postdramatischen Belastungsdingsbums.“

„Natürlich, Corinna. Selbst bei hohem Fieber würde ich kommen.“

„Gut.“

„Grüße alle von mir, besonders Herrn Jungmann.“

Ein bisschen Zynismus tat ihm jetzt gut. Corinna verstand nicht.

„Wieso Herrn Jungmann?“, fragte sie.

„Egal. Bis später.“ Benjamin Krause klappte das Handy zu und schob es zurück in seine Hosentasche. Sein Gegenüber grinste.

„Wer war´n das?“

„Meine Vergangenheit“, Benjamin grinste zurück. „Lass uns zurück zum Jetzt kommen. Was hast du für mich?“

Der junge Mann stieg aus und ging zum Heck des BMW. Er öffnete den Kofferraum und entnahm ihm einen silberfarbenen Koffer, der nicht besonders schwer zu sein schien. Benjamin kletterte ebenfalls aus seinem Auto und ging langsam zu dem Mann. Der reichte ihm den Koffer.

„Hier, die Ware.“

„Das ist alles?“, beschwerte sich Krause verdutzt. „Deswegen sollte ich extra einen geschlossenen Caddy mieten?“ Der Mann zuckte als Antwort mit den Schultern, dann entblößte er mit einem weiteren breiten Grinsen die Reihen nicht ganz tadelloser Zähne.

„Egal“, antwortete er. „Jedenfalls bringst du die Ware nach Hengelo in den Niederlanden. Hier hast du die Lieferanschrift.“ Der junge Mann reichte Benjamin Krause einen Zettel.

„Ich gebe dir fünf Minuten, um dir die Adresse einzuprägen, danach wirst du den Zettel vernichten. Der Adressat wird dir die Ware abnehmen und etwas anderes mitgeben. Morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder an dieser Stelle. Erst dann kriegst du die Kohle. Alles verstanden?“

Benjamin nickte. Wie von ihm verlangt wurde, prägte er sich Namen und Anschrift ein, zerriss den Zettel und gab die Papierfetzen dem jungen Mann zurück. Beinahe hätte er gefragt, was sich denn in dem Koffer befände, biss sich aber Gott sei Dank noch rechtzeitig auf die Lippen. Dass er für fünftausend Euro keine Kollektion Unterwäsche hin- und hertransportierte, verstand sich von selbst. Illegalität hat seinen eigenen Reiz, und Benjamin verspürte ein leichtes Kribbeln.

„Also dann bis Morgen.“ Er zwinkerte seinem Gegenüber zu, diesmal wesentlich entspannter, schnappte sich den Koffer und stieg zurück in den Mietwagen.

Während er den Motor startete, wiederholte er immer wieder murmelnd die Adresse, die auf dem Zettel stand.

Die nächsten 500 Kilometer sollte er sie vor sich hinmurmeln. Exakt solange, bis die Katastrophe ihren Anfang nahm.

Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

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