Читать книгу Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich - Jo Hilmsen - Страница 5

Kapitel 3

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„Du Sackwok!“, kicherte Herr Urban.

„Du Sojafurz!“, johlte Herr Blumentritt und schlug mit beiden Händen auf seine dicken, kurzen Oberschenkel.

„Du Matratze!“

„Du Nudelhals!“

Herr Urban und Herr Blumentritt wieherten im Chor. Dann stand Herr Urban auf, strich sich über den fast kahlen Schädel und schaute zum Fenster hinaus.

„Du Eckfahne!“

„Du Schiedsrichter!“, konterte Herr Blumentritt und das Gelächter begann von vorn.

Unten fuhr ein Wagen vor. Der Wagen hielt vor dem Eingang des Heims und eine Tür wurde geöffnet.

„Ah, der Herr Benjamin“, sagte Herr Urban und pochte mit dem Zeigefinger auf die Fensterscheibe, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Stattdessen hörte er hinter sich: „Du Tornetz.“

Werner Blumentritt, der älteste Mann mit Down-Syndrom im gesamten Landkreis, rutschte von seinem Stuhl, blinzelte mit den Augen, (eine Folge seines Grauen Stars) und schlurfte in Richtung seines Zimmers.

„Ah, der Herr Benjamin“, wiederholte Herr Urban. „Sie sind ein rechter Lümich, Sie!“, sagte er und machte eine Geste, als würde er jemandem eine Verwarnung aussprechen. Dann kicherte er laut und winkte in Richtung des jungen Mannes, der gerade dem Auto entstieg. Normalerweise grüßte der Herr Benjamin immer zurück, wenn er zum Dienst kam. Mal winkte er, mal lachte er oder rief irgendetwas nach oben. Nichts passierte. Und Herrn Urbans Winken konnte er nicht sehen, weil er stur in Richtung Eingangstür starrte.

Dennoch drehte Herr Urban gut gelaunt seinen massigen Körper vom Fenster weg und öffnete die Tür zu seinem kleinen Zimmer.

„Du Suppensepp!“, sagte er irgendwohin, aber Herr Blumentritt, der sofort reagiert hätte, war inzwischen außer Hörweite.

Benjamin Krause war sauer. Stinksauer. Er nahm die Stufen zur Eingangstür mit wenigen Sprüngen, riss die Tür auf und stürmte die Treppe hoch in Richtung Dienstzimmer, ein Blatt Papier vor sich her wedelnd.

Neben dem Eingang hockte Ralf vor dem Hauskater: „Na, Felix. Wie war Ihr Tag?“

Es war lächerlich. Selbst die Bullen in der Mastbullenanlage, bei denen die Jungs tagsüber schufteten, wurden von den Behinderten gesiezt. Ein Ärgernis, das sich Benjamin schon seit Langem vorgenommen hatte, anzusprechen.

Im Dienstzimmer saß Corinna Baumgart, die Teamleiterin, und überprüfte ihre Fingernägel. Die anderen Kollegen waren irgendwo beschäftigt. Umso besser!

„Was soll der Scheiß?“, fuhr Benjamin sie an und Corinna erschrocken herum. „Ich hatte mir für das nächste Wochenende ein frei eingetragen und jetzt das hier.“ Er warf ihr den Dienstplan vor die Nase und schniefte. Corinna zupfte irgendwo herum und mimte Trotz. Beide bedachten sich mit bösen Blicken. Dass sie sich nicht riechen konnten, wusste jeder.

„Herr Jungmann hat den Dienstplan geändert. Nicht ich! Lisa ist krank geworden. Du musst einspringen.“

„Wieso ich?“

Schulterzucken als Antwort.

„Warum pfuscht Jungmann ständig in unseren Angelegenheiten herum? Ich dachte, das wäre deine Aufgabe.“

Erst seit ein paar Wochen war Corinna zur Teamleiterin aufgestiegen. Ein Ergebnis der Umstrukturierung des Hauses. Jetzt gab es zwei Gruppen mit zwei Teamleiterinnen. Zwei Frauen! Etwas anderes hatte Benjamin nicht erwartet. Er selbst war natürlich chancenlos geblieben, obwohl er sich ganz offiziell beworben hatte.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht arbeiten!“

Corinna seufzte hörbar.

„Du kannst nie arbeiten, wenn wir dich hier brauchen.“

„Also, das ist jetzt aber wirklich Quatsch!“ Jede Diskussion mit Corinna Baumgart endete meistens in einem Wust gegenseitiger Beschimpfungen. Es war sinnlos.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht. Ich... ich habe wichtige Termine.“

„Du hast wichtige Termine? Das ist ja das Allerneueste.“ Corinna tat alles, damit Benjamin sie hasste, und er bekam große Lust, ihr ein Auge auszustechen.

„Was ist mit dir? Warum arbeitest du nicht?"

Das war ein Fehler, dachte er, normalerweise konnte man Corinna leicht um den Finger wickeln. Eine eitle Schnepfe mit Hang zur Selbstaufopferung. Aber diesen Moment hatte er vergeigt. Jetzt half nur noch die Brechstange.

„Mich hat Herr Jungmann gar nicht gefragt“, antwortete Corinna, fast als wäre sie darüber gekränkt. Kein Wunder, dass Jungmann sie nie in sein Büro zitierte. Die würde ihm am Ende noch den Schreibtisch aufräumen. Leute wie sie waren eine Plage und jeder wusste, dass sie in ihrer Freizeit klöppelte.

„Okay. Hättest du denn unter Umständen Zeit?“

„Ich? Nein!“

„Komm, Corinna. Ich arbeite auch das Wochenende darauf für dich. Wenn du willst auch die beiden nächsten.“

„Du weißt, Benjamin, was Herr Jungmann über die Diensttauscherei denkt.“ Ja, natürlich Herr Jungmann. Das weiß ich doch, Herr Jungmann. Genau, das habe ich auch eben gedacht, Herr Jungmann. So lief das mit allem.

Benjamin verdrehte die Augen und äffte sie hinter ihrem Rücken nach. Corinna hatte sich über einen Fetzen Papier gebeugt und konnte ihn gerade nicht sehen.

„Was ist mit Thomas oder Anja? Ich bin doch nicht der Einzige hier!“

„Die fahren zusammen auf ein Open-Air.“ Benjamin wurde schmerzlich bewusst, auf welches Open-Air die beiden fuhren. Auf die Fusion. Er war letztes Jahr dort gewesen und hatte insgeheim gehofft, dass Anja in diesem Jahr mit ihm vielleicht dorthin fahren würde. Dummerweise war er nicht dazu gekommen, sie zu fragen.

„Ach, ja? Zusammen?“

Dem allgemeinen Tratsch im Haus schenkte Benjamin normalerweise keine Beachtung. Diese Information versetzte ihm einen kleinen Stich.

„Sind die jetzt´n Paar?“

Corinna drehte den Schreibtischstuhl in seine Richtung und lächelte spöttisch. „Möglich. Wieso?“

Der kleine Stich wurde größer. Tapfer ignorierte Benjamin die innere Temperaturerhöhung. Dieses Thema musste jetzt warten. „Ach, Scheiße. Ich kann wirklich nicht am Wochenende arbeiten!“

„Beschwer dich beim Chef!“

„Das werde ich, kannst dich drauf verlassen!“

Ums Verrecken hätte Benjamin Krause diese Ankündigung wahr gemacht. Jungmann war das allergrößte Übel und sein persönlicher Albtraum.

In dem Moment dröhnte die ihm verhasste Stimme ganz nah. „Herr Krause! Kommen Sie doch bitte nachher noch mal in mein Büro!“ Jungmanns roter Schopf erschien kurz in der Tür des Dienstzimmers und verschwand so schnell wie er gekommen war.

Es war immer dasselbe. Wenn man es wagte, Jungmann irgendwo im Haus mit einer Frage zu belästigen, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro! Wenn Jungmann etwas gefunden hatte, was seinen Unmut regte, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro.

Corinna warf schnippisch ihren Kopf zurück und schwieg.

Die Tür zu Jungmanns Büro war geschlossen, und Benjamin gezwungen, anzuklopfen. Ein unumstößliches Gesetz!

„Herein!“

Jungmann thronte hinter seinem Schreibtisch. Telefon, Faxgerät, Monitor, Drucker. Der einzige Computer in der gesamten Einrichtung befand sich in diesem Raum. Der Abstand zwischen dem Stuhl vor Jungmanns Schreibtisch und ihm selbst war so groß, dass man mit Speer oder Lanze bewaffnet hätte sein müssen, um an ihn heranzukommen. Spucken ginge vielleicht noch, aber dazu müsste man die Spucke von weit unten holen.

„Haben Sie sich schon einmal beobachtet, Herr Krause?“

Benjamins Hände badeten sogleich im Schweiß. „Wieso?“

„Weil Sie bei Ihrer Arbeit eine ähnliche Geschwindigkeit an den Tag legen wie unser Herr Blumentritt.“ Jungmann fand diese Bemerkung offenbar witzig. Seine magere Gestalt straffte sich, er grinste. Seine abstehenden Ohren bekamen Farbe.

„Ich...“

„Ich“, wiederholte Herr Jungmann gedehnt. „Genau das ist der springende Punkt. In meiner Einrichtung geht es nicht um Sie, sondern um die Menschen, die hier leben. Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?“

Töten, dachte Benjamin, eines Tages knall ich diese selbstgefällige Drecksau ab. Töten oder spucken.

„Was habe ich denn getan?“

„Sie sollten besser fragen, was Sie nicht getan haben.“

Benjamins Unterlippe bebte. Gleich würde sich das Beben über seinen ganzen Körper fortpflanzen. Das spürte er. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Jungmann wartete nicht auf eine Antwort.

„Zum einen schulden Sie mir noch einen Entwicklungsbericht.“

„Der ist...“

„Zum anderen“, unterbrach ihn Jungmann, „was haben Sie gestern Abend die ganze Zeit im Gemeinschaftsraum gemacht? Ferngesehen?“

„Ich habe mit Stephan Grube über ein Problem in seiner Werkstatt gesprochen. Es gab dort eine Unstimmigkeit wegen...“

„Dafür gibt es den Besprechungsraum oder das Dienstzimmer...“ Benjamin nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Herr Jungmann, im Dienstzimmer arbeitete Frau Baumgart am Gruppenkonzept und den Besprechungsraum halte ich für diese Dinge ein bisschen übertrieben. Ich meine, das war doch nur ein Gespräch.“

„Ein Gespräch? Aha. Was glauben Sie, was man in einem Besprechungsraum sonst macht. Kreuzworträtsel lösen?“

„Ich…“

„Wissen Sie, wenn Sie eines Tages eine Einrichtung wie diese leiten, können Sie gern alles anders machen, aber solange ich hier die Leitung habe, halten Sie sich bitte an die Regeln. Einen guten Tag!“

Das Gespräch war beendet. Benjamin war nicht einmal dazu gekommen, Jungmann auf das nächste Wochenende anzusprechen.

Raus hier, dachte er. Nichts wie weg! Dann lasse ich mich halt krankschreiben.

Am Eingang hockte Ralf immer noch neben dem schnurrenden Kater und kraulte ihm den Bauch.

„Das gefällt Ihnen, Felix. Jaja, das gefällt Ihnen!“

In der ersten Etage saßen sich Herr Blumentritt und Herr Urban am großen Fenster gegenüber, von wo man gut den Hof einsehen konnte.

„Du Nulpe“, krächzte Herr Urban und betrachtete kurz sein Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.

„Du…Teelöffel.“ Herr Blumentritt hielt sich einen grellroten Papierschnipsel dicht an die Augen. Seine Unterlippe war vorgewölbt und reichte fast bis zur Nasenspitze.

„Du Milchkanne!“

„Du Wischmopp!“ Beide brüllten vor lauter Spaß. Karl-Heinz kam auf sie zu getorkelt. Sein Körper wurde gelegentlich wegen seiner Zerebral-Parese geschüttelt. Von zerebralen Paresen hatte Herr Urban zwar keine Ahnung, dennoch war er voller Mitgefühl. Außerdem mochte er den Spastiker. Und wenn Karl-Heinz sprach und die Erzieher mal wieder Bahnhof verstanden, übersetzte er geduldig.

Winfried Urban – der Dolmetscher.

Herr Urban berührte mit der Stirn das kühle Glas der Fensterscheibe.

„Ah, der Herr Benjamin fährt wieder.“

Benjamin Krause spürte wie die Tatsache, vollkommen umsonst hierher gefahren zu sein, langsam in seinen Eingeweiden zu wüten begann.

Entsprechend geladen startete er seinen Wagen und ließ die Reifen beim Anfahren durchdrehen. Damit lieferte er Jungmann einen Grund, ihn zum nächsten Büromeeting zu rufen. Er hörte schon seine Stimme.

Kennen Sie eigentlich die Straßenverkehrsordnung auf diesem Gelände?

Scheiß drauf, dachte Benjamin und brauste Richtung Hirschfelde davon, ohne einen Blick auf das Zittauer Gebirge zu werfen, das sich gerade majestätisch im Sonnenlicht präsentierte.

Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

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