Читать книгу Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband - Jo Zybell - Страница 10

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»Wann?« Kerzengerade saß Kassadra auf der Kante ihres Sessels. Man wurde nicht jeden Tag zur Ratspräsidentin gerufen.

»Sofort.« Der Mann im Display schien seine gelangweilte Miene gründlich einstudiert zu haben. Irgendein Sekretär im Vorzimmer des Vorzimmers des Sekretärs der Chefsekretärin der Präsidentin. Kassadra hätte ihm gern etwas über Stil und sprachliche Gepflogenheiten Ratsmitarbeitern gegenüber erzählt, und es wäre nicht besonders herzlich ausgefallen, doch sofort klang irgendwie dringend, und sie hatte keine Zeit zu verschwenden. Also unterbrach sie einfach die Verbindung.

Das junge Männergesicht im Display ihres Armbandrechners verblasste. »Schraubenwurm!« Sie lehnte sich zurück, verdrehte die Augen und seufzte. Termin bei der Ratspräsidentin! Was um alles auf dem Mars hatte das jetzt wieder zu bedeuten?

Wehmütig blickte sie erst nach rechts, wo auf einem Lesepult zwei aufgeschlagene Bücher lagen – Originalquellen –, und dann auf das Hauptdisplay ihres Arbeitsterminals. Die Übersetzungen der alten Texte hätten in drei bis vier Stunden fertig sein sollen. Es ging nur um Vorstudien zur eigentlichen Forschungsarbeit, die man ihr anvertraut hatte – eine Untersuchung des Einflusses antiker monotheistischer Religionen auf die Außenpolitik irdischer Großmächte. Seit gestern Abend sollte die Übersetzung erledigt sein.

Aber gut, jetzt war ein Gespräch bei der verehrten Dame Präsidentin angesagt. Worüber auch immer.

Kassadra seufzte, bückte sich nach der untersten Schublade ihres Arbeitspultes und zog sie bis zum Anschlag auf. Ganz hinten, sorgfältig gebettet unter dem Seidensäckchen mit ihrem abgeschnittenen Haar und zwischen noch verpackten Stapeln von Visitenkärtchen lag ein dunkelrot schillerndes Chitin-Etui.

Ein Erbstück ihrer Großmutter. Kassadra holte es heraus, die Lade schob sie mit dem Fuß zu.

Einen Augenblick saß sie reglos mit dem Etui in den Händen und lauschte ihrem Herzschlag: deutlich beschleunigt und schon im Hals spürbar. Wie ärgerlich! Immer dieses Gefühl, auf dem Prüfstand zu stehen! Wann würde sie jemals lernen, Gesprächen mit ranghöheren Persönlichkeiten gelassen entgegenzusehen? Andererseits kannte Kassadra niemanden, der gelassen zu einem Termin bei der Ratspräsidentin ging; geschweige denn gern. Cansu Alison Tsuyoshi galt als unberechenbar, unter anderem.

Sie schob Tastatur und Exzerptzettel zur Seite, öffnete das Etui und entnahm ihm einen Stoß Karten. So viel Zeit musste sein. Während sie mischte, schloss sie die Augen und murmelte vor sich hin. »Wird sie mich in die Baumschulen der Grenzgebiete versetzen, oder wird sie mich zur Beraterin befördern? Habe ich gute Nachrichten zu erwarten oder schlechte?« Mit einer einzigen routinierten Bewegung warf sie die Karten so auf das Pult, dass sie zu einem Halbkreis auseinander fächerten.

Die Karten waren abgegriffen, manche geklebt. Frauen aus fünf Tsuyoshi-Generationen hatten sie benutzt. Auf den ehemals schwarzen und inzwischen dunkelgrauen Rücken trugen alle dasselbe Motiv: eine stilisierte Darstellung des Sonnensystems. Die Planeten konnte man nur noch undeutlich erkennen, die Sonne und die wenigen Sterne waren mit echtem Gold aufgeprägt und glänzten auch nach zwei Jahrhunderten noch.

Kassadra öffnete die Augen und ließ ihre Rechte dicht über dem Halbkreis aus Karten schweben, dabei wiederholte sie in Gedanken ihre Fragen. Sie deckte die erste Karte auf: eine Pyramide mit dreieckiger Grundfläche aus der Vogelperspektive, an jeder Ecke ein Sonnenrad. Die Arbeitskarte. »Viel Arbeit, großes inneres Engagement gefordert …« Sie schüttelte den Kopf und spähte zu den aufgeschlagenen Quellentexten. »Sehr witzig.«

Die zweite Karte zeigte die zu einer Acht gerollte Riesenschlange; in jedem der beiden so entstandenen Kreise leuchtete das uralte Symbol der ewigen kosmischen Dialektik, das Zeichen für Yin und Yang. Die Karte des Wechsels. »Wie bitte?« Kassadra runzelte die Stirn. »Also doch Baumschule?«

Seufzend deckte sie die dritte Karte auf. »Bitte nicht …«

Kassadra biss sich auf die Unterlippe. Vor einer blasenartigen Kulisse mit allerhand Getier – mit eigenen Augen hatte Kassadra auf dem Mars bisher nur die Schlange und eine Abart des Skorpions gesehen – tanzte ein Skelett mit einer Sense. Die Todeskarte. »Mist!«

Hektisch räumte sie die Karten zusammen, verstaute das Etui wieder in der untersten Schublade und sprang auf.

»Arbeit, Veränderung, Tod und ein Termin bei der Ratspräsidentin …«

Sie lief zu ihrem Garderobenschrank, brachte ihr kurzes weißes Haar mit drei, vier gezielten Handgriffen in die gewünschte Unordnung. »Herzlichen Glückwunsch, Kassadra Tsuyoshi!« Sie zog sich ein schwarzes Kunstseidenjäckchen über den roten Ganzkörperanzug und stieg in schwarze, extrem hochhackige Stiefeletten, die ihre für marsianische Verhältnisse mit einem Meter achtundachtzig geringe Körpergröße kompensieren sollten. Dann raus aus dem Arbeitsraum und durch den Gang zu den Liften. Das Knallen ihrer Absätze hallte von den Wänden wider.

Während sie in der eiförmigen Kabine nach oben glitt, ging ihr einer der Lieblingssätze ihrer Großmutter durch den Kopf: Jede Veränderung ist ein kleiner Tod.

Die Lifttüren glitten auseinander. Vor der hohen, gewölbten Fensterfront war es längst Abend geworden. An den Ausgängen zur Terrasse, am Ratssaal und an den Portalen zu den Bürotrakten der Ratsmitglieder vorbei lief Kassadra zur Bürosuite der Präsidialverwaltung.

Außenterrasse, Fensterfront und Gang umgaben das mehrstöckige Herzstück der Marsregierung wie eine ovale Fassung einen Edelstein. Die Terrasse war von jedem Bürotrakt der Ratsresidenz aus zugänglich. Unterhalb dieser monumentalen Gebäudespitze glitzerte das Kunstlichtmeer der abendlichen Skyline von Elysium, über der gläsernen Deckenwölbung glitzerten die Sterne. Sie betrat das Foyer der Präsidialsuite.

Mach dich nicht verrückt, die Todeskarte muss ja nicht gleich auf den physischen Tod hinweisen!

An der Sicherheitskontrolle gab sie ihre persönliche Kennzahl ein und verharrte ein paar Sekunden im Detektorbereich.

Bei den Monden – wie viele Tode muss man nicht sterben, bevor man für immer die Augen schließt. Das Ende einer Beziehung, das Ende eines Arbeitsverhältnisses – das sind doch alles kleine Tode, das hat Großmutter doch gemeint …

Ein Schott schob sich auf, Kassadra betrat einen großen Büroraum.

Todeskarte und Wechselkarte korrespondieren also miteinander, klar, wie aber passt die verdammte Arbeitskarte da rein?

An zehn Terminals vorbei – die meisten waren mit jungen Männern besetzt – schritt sie zum nächsten Schott. Das öffnete sich automatisch. Wie immer, es sei denn, der Zentralrechner hatte beim Abgleichen der persönlichen Kontrollzahl mit dem Zentralregister irgendwelche Auffälligkeiten entdeckt.

Kontakte mit Wurzelfressern zum Beispiel, illegale Waffenkäufe, oder so was in der Art. Kassadra betrat einen Raum, in dem drei Männer und eine Frau an Rechen- und Kommunikationsterminals arbeiteten.

Arbeit, Wechsel, gravierende Veränderungen – also doch ein neuer Auftrag? Ein Aufstieg in den Beraterstab des Rates womöglich? Alt genug bin ich ja. Höchste Zeit für einen Karrieresprung. Hab ich nicht verdammt gute Arbeit abgeliefert? Hab ich nicht eine Menge Erfahrung gesammelt?

Ein Sessel im Beraterstab … Wann denn, wenn nicht jetzt?

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Hinter einem der Terminals erkannte sie den Kerl, der ihr die Vorladung zur Präsidentin an den Kopf geworfen hatte. Sie blieb stehen, ging zu ihm und stützte sich auf seinem Pult auf. »Ich werde Sie der Präsidentin für einen Grundkurs in Kommunikationstechniken vorschlagen.« Flüchtig registrierte sie sein Namensschild: Ein gewisser Curd Renatus aus dem Hause Paxton. »Thema: Wie gebe ich Informationen angemessen an wissenschaftliche Assistenten des Rates weiter? Möglicherweise haben Sie dann doch noch eine Chance, das zu lernen.« Ihre Stimme klirrte vor Kälte, die wächserne Haut des Mannes färbte sich rosa.

Zum nächsten Raum führten vier Stufen hinauf. Dort arbeiteten zwei Frauen aus dem Hause Tsuyoshi; im nächsten, nach wiederum vier Stufen, die Chefsekretärin der Präsidentin, ebenfalls eine Tsuyoshi. Die begleitete sie persönlich weitere vier Stufen hinauf in das Büro der Präsidentin.

Cansu Alison Tsuyoshi stand auf der Terrasse, als das holzverkleidete Schott sich öffnete. Sie trat durch die offene Terrassentür und blieb stehen.

Kassadra ging zu ihr. »Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Abend, Dame Cansu Alison«, sagte sie. Unter vier Augen duzte Kassadra ihre Cousine und sprach sie mit Vornamen an. Die Begrüßung seitens der Präsidentin fiel denkbar knapp aus, Kassadra hatte nichts anders erwartet.

»Ich muss dich versetzen, Kassadra.« Wie immer hielt die Ratspräsidentin sich nicht mit verschnörkelten Einleitungen auf. »Ich brauche dich vorübergehend an anderer Stelle.«

Na also! Haben die Karten nun Recht oder nicht? Der Aufstieg in den Beraterstab, endlich! Wird auch Zeit!

Die Ratspräsidentin taxierte sie kühl, ihre Miene blieb undurchdringlich. Ein einziger Gedanke machte Kassadras Vorfreude zunichte – und wenn es nun doch zu den Baumschulen ging?

Das Herz rutschte ihr in die Leistengegend.

»Du bist Historikerin.« Die Präsidentin schritt zu ihrem Pult, nahm dahinter Platz und wies mit flüchtiger Handbewegung auf einen freien Sessel davor. Kassadra setzte sich.

»Spezialgebiet Erdgeschichte.« Cansu Alison Tsuyoshi sah auf einen Monitor, dessen Frontseite Kassadras Blicke nicht erreichten. »Und du bist Sprachwissenschaftlerin. Das Projekt, an dem du gerade arbeitest, ist wichtig …« Aufmerksam las sie die Informationen auf ihrem Bildschirm. Ihr Personendossier, wie Kassadra annahm.

Cansu Alison Tsuyoshi war von schmaler, fast zerbrechlicher Gestalt. Selbst von unterdurchschnittlicher Körpergröße – zweihundertzwei Zentimeter – überragte sie Kassadra doch noch um vierzehn Zentimeter. Cansu Alison galt als kühl, pragmatisch, machtorientiert und konservativ. Sie hatte es nicht aus Versehen zur Ratspräsidentin gebracht: Von Jugend an setzte sie alles auf die Karrierekarte – Hobbys, Freizeit, Liebe, Partnerschaft, Kinder. Sie lebte nur für ihre Arbeit.

»… eine wichtige Untersuchung, ja, muss aber warten. Ich habe eine noch wichtigere Aufgabe für dich. Sie wird nur wenige Tage Zeit in Anspruch nehmen.« Cansu Alison hob den Kopf und richtete den Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen auf die Ältere und dennoch Attraktivere. »Du weißt, dass die PHOBOS den dritten Tag im Orbit kreist?«

Kassadra nickte.

»Morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang, wird sie landen.«

Die Ratspräsidentin drehte den Monitor zu Kassadra um. »Sieh ihn dir an.«

Kassadra empfand wenig Sympathie für ihre Cousine. Vor allem deren herrische Art verabscheute sie. Und es ärgerte sie insgeheim, dass Cansu, obwohl fünf Marsjahre jünger als sie, so weit über ihr auf der Karriereleiter stand. Sie schüttelte den Ärger ab und konzentrierte sich auf den Monitor. Er zeigte das Bild eines ungewöhnlich kräftig gebauten Mannes mit kurzem blonden Haar. Er hatte keine Pigmentstreifen im Gesicht!

»Ein Erdenmann«, sagte die Präsidentin. »Ein hässlicher Bursche, ich weiß, und vermutlich genauso ungehobelt in seinen Umgangsformen, wie er aussieht. Trotzdem wirst du ein paar Tage in seiner Nähe bleiben müssen.« Sie fixierte Kassadra. »In seiner unmittelbaren Nähe, meine ich.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Kassadra war enttäuscht. Kannte Cansu Alison denn ihre Qualitäten nicht? »Wer ist dieser Mann?«

»Die PHOBOS hat ihn auf dem Erdmond aufgelesen.«

Cansu lehnte sich zurück und legte die Arme auf die Sessellehne. Die Nägel ihrer langen Finger waren metallic-grün gefärbt. »Wenn es nach mir gegangen wäre, würde er auch jetzt noch dort sein Leben fristen – oder auch nicht. Aber der Rat wollte ihn unbedingt persönlich verhören, also hat Maya Joy ihn hergebracht. Es ist noch nicht ganz klar, was danach mit ihm geschehen wird.« Ein freudloses Lächeln flog über das Gesicht der Präsidentin. »Das heißt, mir ist es schon klar, doch im Rat herrschen naturgemäß unterschiedliche Ansichten, besonders wenn es um solch lebenswichtige Angelegenheiten geht.« Sie schwieg und musterte ihr Gegenüber.

Wenn Kassadra das ausdruckslose Gesicht und die Wortwahl der Präsidentin richtig deutete, hatte der Erdmann keine schöne Zukunft zu erwarten, vielleicht überhaupt keine, falls Cansu Alison sich im Rat durchsetzen sollte. Doch was ging sie das an?

»Und ich soll den Erdmann bis zum Verhör durch den Rat bewachen, Dame Ratspräsidentin?«, fragte sie zweifelnd.

»Betreuen und begleiten. Bewachen wird ihn ein Sonderkommando. Es wird sich immer in Sichtweite zu euch aufhalten. Betreuen und begleiten wirst du ihn auch nur vordergründig. Mein eigentlicher Auftrag für dich lautet so: Prüfe die Geschichten, die er erzählt, auf ihre historische Wahrheit. Er behauptet nämlich, aus der Vergangenheit der Erde zu kommen! Sammle so viele Informationen über ihn, wie du kannst. Das war‘s.«

Die Ratspräsidentin erhob sich, und Kassadra blieb nichts übrig, als es ihr gleich zutun. »Kann ich nicht noch ein wenig mehr erfahren?«

»Ich lasse dir das Dossier des Gefangenen auf dein Terminal schicken.« Cansu Alison Tsuyoshi kam um das Pult herum, blieb vor Kassadra stehen und musterte sie von oben bis unten.

»Der Erdbursche ist nur eins fünfundachtzig groß, also drei Zentimeter kleiner als du. Wir wollen ihn nicht unnötig entmutigen, zieh also flache Schuhe an und toupier dein Haar nicht so hoch.«

Wut und Enttäuschung machten Kassadras Stimme heiser, als sie sich verabschiedete. Beides wuchs mit jedem Schritt, während sie durch die Vorzimmer stelzte, denn auf einmal dämmerte ihr eine niederschmetternde Einsicht: Es gab viele Historiker und etliche Sprachwissenschaftler auf dem Mars.

Aber es gab kaum jemanden, der den Erdenmann nur um wenige Zentimeter überragte. Wahrscheinlich hatte Cansu sie einzig und allein ihrer unterdurchschnittlichen Größe wegen für diese undankbare Aufgabe ausgesucht.

Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband

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