Читать книгу Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband - Jo Zybell - Страница 14
8
ОглавлениеSeltsam düster kam ihm der Marsmorgen außerhalb des Gleiters vor. Die Rechte ans Kinn gestützt und die Stirn nahe am Sichtfenster, lauschte Timothy Lennox seinem Herzschlag.
Der hörte sich eigentlich ganz normal an. Warum dann der kalte Schweiß auf der Stirn? Nervosität?
Der Weg aus dem Cockpit zur Mittelluke und dann die Treppe hinab bis zum Gleiter war zwar nicht der Rede wert gewesen; andererseits jedoch hatte er seit mehr als drei Monaten nicht mehr so viele Schritte an einem Stück zurückgelegt.
Das Flugfeld blieb zurück, der Wald dahinter sah aus wie ein grünes Meer und schien kein Ende zu haben. Im Himmel tief über dem Horizont hing die Sonne und sah aus wie eine überdimensionale Venus in der irdischen Morgendämmerung.
Darunter, fern im Nordosten, zeichnete ihr Licht die scharfen Umrisse eines Vulkangipfels. Der Berg, von dem diese Ebene und Stadt ihren Namen hatte, der Elysium Mons?
Gebäudekomplexe glitten unter dem Fluggerät vorbei und lenkten Lennox‘ Aufmerksamkeit auf sich. Himmel, was für eine Architektur, was für Formen! Ein wahrer Dschungel exotischer Gebäude! Vor allem die wie langgestreckte Spindeln aussehenden Türme faszinierten ihn. Bei genauerem Hinsehen erwiesen sich die Fassaden von spiralartig gedrehten Konstrukten verkleidet, die Tim an die Megarutschen jener Spaßbäder aus den goldenen Zeiten vor »Alexander-Jonathan« erinnerten.
»Wie hoch sind diese Türme?«, fragte Tim Lennox, ohne sich direkt an einen seiner beiden Begleiter zu wenden. Oder sollte er sie lieber Bewacher nennen?
»Im Schnitt drei- bis vierhundert Meter« , sagte ein Mann, dessen Name der Commander nicht kannte. »Es gibt aber auch ein paar Fünfhunderter.«
Zwischen den Wolkenkratzern entdeckte der Mann von der Erde immer wieder kleinere Kuppelbauten, oder runde Terrassenhäuser. Manchmal glitt eine ausgedehnte Grünanlage unter transparenter Kuppel vorbei, manchmal pilzartige Plattformen voller Bäume, Zierteiche und Pavillons. In den Straßenschluchten glaubte er so etwas wie Fahrzeugkolonnen zu erkennen.
»Wie viele Menschen wohnen in dieser Stadt?«, wollte Tim wissen.
»Etwas mehr als sechshunderttausend.«
Die Zahl verblüffte Tim. Er hätte wetten mögen, über eine Millionenstadt zu fliegen. Doch dann erinnerte er sich, von Maya gehört zu haben, dass nur zweieinhalb Millionen Menschen auf dem gesamten Mars lebten. Vermutlich war der Regierungssitz sogar die größte der vier Städte.
Er entdeckte ein metallic-blaues Fluggerät, das ihn entfernt an Zeppeline aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erinnerte. Allerdings wurde es von großen Propellern an Bug und Heck angetrieben.
»Das ist die Bradbury-Chaussee.« Der Mann neben ihm deutete auf eine breite Schneise zwischen den Gebäuden. Auf ihr glitten Fahrzeuge in zwei Reihen hin und her, an ihren Seiten bewegten sich Menschen so schnell, als würden Förderbänder sie transportieren. »Gleich erreichen wir das Regierungsgebäude.«
Der Gleiter war auf wenige Dutzend Meter hinuntergegangen und näherte sich jetzt in einer engen Schleife einem weißen Spindelturm, dessen Spitze von Wolken verhüllt wurde. Das Gebäude war höher als alle anderen, die Tim bisher gesehen hatte. Die Fassade, so weit sie nicht aus einem transparenten Material bestand, war grünlich oder von einem unwirklich strahlenden Weiß.
Die durchweg weißen Spiralgänge schienen nach einem bestimmten System rund um den Turm angeordnet zu sein, und auch die Spitze, so weit die Wolken sie nicht einhüllten, strahlte weiß. Der Anblick schlug Timothy in seinen Bann.
Der Großraumgleiter landete in einer Halle, die sich etwa siebzig Meter über dem Marsboden im zentralen Turmkörper öffnete. Die beiden Marsianer stiegen aus und winkten den Erdmann aus dem Transportraum. Draußen warteten bereits die Kommandantin, der Bordarzt und Damarr, der Pilot.
»Und? Wie war der Flug?« Damarr lächelte sein herablassendes Lächeln.
»Eine unglaubliche Stadt.« Lennox wandte sich demonstrativ an Maya Joy. »Ich bin sprachlos.«
Maya Joy antwortete nicht. Überhaupt wirkte sie merkwürdig ernst und geistesabwesend; wahrscheinlich wegen des bevorstehenden Berichtes vor dem Rat. Der Arzt fasste Lennox am Arm und führte ihn vom Gleiter weg in das Innere der Halle. »Nun, unsere Vorfahren haben den Städtebau und die Architektur auf der Grundlage irdischen Knowhows aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts weiter entwickelt. Die Ästhetik und die Technik der Alten allerdings hat sie stark beeinflusst.«
»So weit wir überhaupt Hinterlassenschaften dieser Kultur kennen«, beeilte sich Leto Damarr hinzuzufügen. »Viele Zeugnisse sind uns ja nicht geblieben. Und von den meisten entdeckten fehlt uns die Beschreibung ihrer Funktion. Die Schrift der Alten haben wir nie entschlüsseln können.«
Die Alten – war es nicht seltsam, dass die Marskolonisten für die untergegangene Marskultur den gleichen Begriff benutzten wie die postapokalyptische Menschheit für die westlichen Kulturträger vor dem Kometeneinschlag?
Irgendwann, wenn Trauer und Verlustschmerz vernarbt waren, wenn seine eigene Zukunft sich geklärt hatte und sein Kopf wieder frei war, würde er sich die Spuren dieser Alten einmal ansehen.
Maya Joy, Damarr und der Arzt führten ihn zu einer von sechs Liftsäulen. Kein weiter Weg, doch Tim Lennox spürte plötzlich einen Anflug von Kurzatmigkeit. Auch Palun Sandoval schien es zu bemerken, denn er sah ihn prüfend von der Seite an. »Man wird Ihnen eine Sauerstoffmaske zur Verfügung stellen, Commander«, sagte er.
»Wann?«
»Bald«, antwortete Maya Joy an seiner Stelle. »Auch passende Kleider und vernünftige Stiefel warten bereits auf Sie. Wir haben Ihre Maße nach Hause durchgegeben, während Sie im Kälteschlaf lagen.«
»Oh, sehr freundlich …« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Vermutlich wäre es unhöflich gewesen, jetzt noch auf ein Mitspracherecht im Hinblick auf Farbe und Schnitt zu bestehen; und außerdem sinnlos.
Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft, metallen irgendwie.
Vielleicht auch nur ein ungewohnter Geruch. Durst meldete sich, und ein Anflug von Kopfschmerzen. Sie stiegen in den Lift, eine ovale Kapsel schloss sie ein und trug sie nach oben.
Nach wenigen Sekunden hielt der Lift an; in halber Höhe des Turmbaus, schätzte Lennox.
»Zeit, Abschied zu nehmen«, sagte Maya Joy. »Sie steigen hier aus, Commander. Wir fahren hinauf zur Turmspitze. Dort liegen Präsidium, Ratszentrale und Kabinettssaal. Die Räte erwarten unseren Bericht, wie Sie wissen. Danach bereiten wir uns auf den nächsten Mondflug vor.« Sie reichte ihm die Hand.
»Leben Sie wohl … Tinnox.«
Tim öffnete die Lippen, doch kein Wort wollte von seiner Zunge. Abschied? Schon wieder? So ergriff er nur behutsam die dargebotene Hand und hielt sie ein paar Sekunden lang fest.
In Mayas schönen Augen las er, dass sie vor dem Rat für ihn eintreten würde. Und dass sie mehr nicht für ihn tun konnte.
Sie entzog ihm die Hand, nickte und senkte den Blick.
Der Bordarzt hob grüßend die Hand und lächelte. Leto Damarr musterte ihn ausdruckslos und machte nicht einmal die Andeutung einer Geste oder einer Miene, die Timothy Lennox als Abschiedsgruß hätte deuten können.
Die beiden Männer, die ihn aus dem Raumschiff geführt und im Gleiter bewacht hatten, nahmen ihn wieder in ihre Mitte und verließen mit ihm den Lift. Die Türen schlossen sich.
Das war es gewesen. Tim starrte die Liftsäulen an und konnte es nicht glauben. Das war es gewesen? Er würde die Männer und Frauen der PHOBOS nie wieder sehen?
»Kommen Sie.« Seine Begleiter fassten ihn unter den Achseln und zogen ihn von den Liftsäulen fort.
»Wohin?«
»Lassen Sie sich überraschen.« Sie schritten über einen breiten Gang und an vielen Türen vorbei. Fast bedauerte Lennox, nicht mehr im Freien zu sein, sich nicht mehr von der Faszination dieser fremden Welt verzaubern lassen zu können: von ihrem Dämmerlicht, ihrer metallen riechenden Luft, von ihrer traumhaften Stadtlandschaft mit ihren skurrilen Gebäuden …
Am Ende des Ganges schoben sie ihn in einen großen Raum. Fünf Männer in silbrig schimmernden Anzügen nahmen ihn wortlos in Empfang. Genauso wortlos zogen sich die anderen beiden zurück. Die fünf Neuen geleiteten ihn zu einer Treppe und dann über mehrere Stufen zu einem Portal. Auf der letzten Stufe schnappte Tim nach Luft, sein Herz schlug plötzlich hoch im Hals. Konnte das sein? Von der kurzen Strecke?
Das Portal öffnete sich wie von Geisterhand. »Gehen Sie hinein«, sagte der Anführer seiner Eskorte, ein Mann mit silbergrauem Kurzhaar. »Ziehen Sie sich um, duschen Sie, ruhen Sie ein wenig.«
Lennox betrat einen runden Raum, eine Art Foyer. Drei offene Türen führten zu weiteren Räumen. Einer sah aus wie ein Bad.
Eine Suite? Hinter ihm schloss sich das Portal.
Unschlüssig ging Tim zu dem Raum, den er für das Bad hielt. Er lehnte gegen den Türrahmen und atmete schwer.
Tatsächlich: Ein kupferfarbenes Becken hing an der Wand, muschelförmig. Am Boden ein Bassin gleicher Farbe, großzügig und ebenfalls muschelförmig.
»Sind Sie endlich da?«, rief eine Frauenstimme aus einem der anderen beiden Räume. Tim wandte sich dessen Eingang zu und sah hinein. Eine Frau von graziler Gestalt und mit weißblondem, gerade einmal nackenlangem Haar ordnete irgendwelche Wäsche in einen Schrank. Sie drehte sich um.
»Hallo.« Mit dem Kopf wies sie zum Bett, wo säuberlich gefaltet und gestapelt ein paar Kleider lagen. »Für Sie. Baden Sie zuvor, wenn Sie wollen.«
Die Frau, nur wenig größer als er selbst, mochte Anfang dreißig sein. Ihre leicht schräg stehenden Augen erinnerten Tim an Mayas Mandelaugen, allerdings waren sie bernsteinfarben. Ihr Gesicht, das mit den Pigmentstreifen irgendwie katzenhaft wirkte, war von jener Art Schönheit, die Tim seit jeher kalt ließ: glatt, weich und ebenmäßig. Ein wenig erinnerte sie ihn an einen Puppentyp, der in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Triumphe auf dem Markt feierte und leider erst dank des Kometen wieder von selbigem verschwand. Allerdings standen ihre weißen Haare störrisch und wild nach allen Seiten ab. Das wiederum verwischte den Eindruck von Plastik und Künstlichkeit; dies und die großen wachen Augen.
»Wer sind Sie?«, fragte Tim.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, bevor sie antwortete.
»Kassadra Tsuyoshi. Ich bin vorübergehend Ihre Ansprechpartnerin.«