Читать книгу Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband - Jo Zybell - Страница 11
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ОглавлениеEin grauer Steinbrocken, unförmig und zerklüftet, als diene er kosmischen Titanen als Zielscheibe für Schießübungen, so hing der innere und größere der beiden Marssatelliten, Phobos, unter dem gleichnamigen Schiff. Unheimlich wirkte er, vollkommen öde und irgendwie abweisend.
Spiegelte er nicht die klammen Erwartungen wider, die Timothy Lennox befallen hatten, seit er hier oben allein in der Aussichtskuppel der PHOBOS stand und den Anflug auf den Mars beobachtete? Weiß Gott, das tat er!
Etwas in ihm wollte noch immer glauben, man müsste in der Marskolonie eigentlich dankbar oder doch wenigstens wohlwollend neugierig sein, einen friedlich gesinnten und zivilisierten Bewohner des Mutterplaneten empfangen zu dürfen. Doch gab es irgendeinen rationalen Grund für diese Annahme? Nein, den gab es nicht. Im Lichte emotionsloser Vernunft betrachtet, hatten sie ihn auf der PHOBOS im Grunde wie einen Gefangenen behandelt; jedenfalls bevor er mitgeholfen hatte, Kaios marodierendes Bewusstsein zu bändigen. Leute wie Leto Damarr begegneten ihm jetzt noch wie einem Barbaren, und die Beauftragte des Marsrates, Meta Paxton, hatte Naoki Tsuyoshis Tod mit verschuldet.
Noch Fragen?
Über ihm schwebte die gewaltige Marskugel, rötlich und grünlich und von grauweißen Wolkenbändern eingesponnen.
Nie zuvor hatte er einen solchen Mars gesehen. Das Raumschiff näherte sich dem Planeten von der Tagseite. Wie ein grüner Kontinent im rötlichen Ozean, so wirkte das Siedlungsgebiet der Menschen. Es war weit größer, als Timothy Lennox es sich vorgestellt hatte, viel zahlreicher auch die blauen Einsprengsel, blauen Linien und blauen Flecken – vereinzelte oder zusammenhängende Gewässer.
Es gab keinen Grund anzunehmen, dass man auf diesem Planeten eine Willkommens-Party für ihn geben würde. Es gab aber eine Menge Gründe anzunehmen, dass man ihn misstrauisch beäugen und wahrscheinlich als Gefangenen behandeln würde, vielleicht sogar als einen gefährlichen Feind …
Ein Raumschiff schob sich in sein Blickfeld – die Queen Victoria. Damarr hatte das Shuttle von der PHOBOS abgekoppelt und steuerte nun den Marsmond an. Kaum zu glauben, dass sie auf diesem Dreckklumpen eine Station unterhielten, in der sie ein nicht ganz unkompliziertes Gerät wie die Queen Victoria durchchecken und die Dateien auf ihrem Bordrechner analysieren konnten.
Etwas wie Wehmut beschlich Lennox, während das Shuttle sich mehr und mehr entfernte. So viele Erinnerungen hingen an der Raumfähre – würde er sie je wieder sehen? Würde er sie je wieder fliegen? Und schon begann es wieder zu rotieren, das Karussell in seinem Kopf: Bilder, Fragen, Gesichter, Gefühle …
Der Commander atmete tief durch. »Schluss!«, murmelte er. Er schluckte den Kloß im Hals hinunter, seine Gestalt straffte sich.
Drei Tage waren vergangen, seit er zum ersten Mal hier oben in dieser Aussichtskuppel gestanden hatte. Theoretisch war Lennox vorbereitet auf die dünnere Luft, auf den niedrigeren Luftdruck von etwa 750 Hektopascal (entspricht einer Höhe von ca. 3800 m auf der Erde ), die geringere Gravitation, und in den wichtigsten Punkten auch auf die andersartigen Sitten.
Man gehe ausgesucht höflich miteinander um in der Marsgesellschaft, hatte Maya Joy ihm erklärt. Eine hochgestellte Persönlichkeit wie zum Beispiel die Ratspräsidentin oder auch Maya selbst würden mit »Dame« angesprochen, normalsterbliche Frauen mit »Frau«. Männer einfach nur mit Namen, es sei denn, sie waren sehr alt oder hatten einen exponierten Rang inne. Das war jedoch nicht die Regel, denn auf dem Mars hatten Frauen das Sagen und besetzten den Großteil der Schlüsselpositionen.
Das ging noch auf die Zeit der ersten Siedlergenerationen zurück, als es das naturgegebene Vorrecht der Frauen gewesen war, eine zum Überleben ausreichende Population zu schaffen.
Damals waren auch die fünf Häuser mit den weiblichen Oberhäuptern entstanden, die dank umfangreicher Geburtslisten Inzucht vermieden hatten. Heute, nach über fünfhundert Jahren, existierte zumindest dieses Risiko nicht mehr.
Auch vor dem vertraulichen »Du« in Verbindung mit Vornamen sollte er sich hüten, hatte Maya Joy ihm eingeschärft. Das war angeblich nur innerhalb der Familien gebräuchlich. Aus den englischen Worten für they und your hatten die Marsianer ein Kunstwort entwickelt, das dem französischen Vous und dem deutschen Sie entsprach.
Beim Waldvolk herrschten wiederum ganz andere Sitten, doch die, so Maya, seien für Tim uninteressant, denn diese Leute würde er sowieso kaum zu Gesicht bekommen.
Die Konturen der Queen Victoria verschwammen mit dem Marsmond Phobos, und der Marsmond Phobos verschwand bald hinter dem Horizont des roten Planeten. Der Trabant war relativ schnell unterwegs und umkreiste den Mars mehrmals innerhalb eines Tag-Nacht-Zyklus.
Lennox hatte den Nachbarplaneten der Erde immer für relativ uninteressant gehalten. Viel weniger aufregend jedenfalls als etwa die Venus. Nun würde er auf ihm landen und dort unten Abkömmlingen der menschlichen Rasse begegnen.
Unglaublich! Sein Herz klopfte wie das eines Kadetten beim Abschlussexamen an der Militärakademie.
»Commander Lennox?«
Der Mann aus der Vergangenheit drehte sich um. »So förmlich?« Unten am Treppenaufgang stand Maya Joy Tsuyoshi. Der Sozialkundeunterricht bei ihr war aus drei Gründen interessant gewesen: Die Kommandantin der PHOBOS war ein wunderbarer Mensch, eine äußerst fähige Offizierin und eine attraktive Frau.
Sie zuckte mit den Schultern. »Das Protokoll holt uns langsam ein, da sind Vertraulichkeiten unzweckmäßig. Wir landen in dreiundsiebzig Minuten auf dem Raumhafen von Elysium. Bitte kommen Sie in den Passagierraum hinunter und schnallen sich an.«
»Okay.« Lennox wandte sich der Treppe zu. Die Kommandantin runzelte die Stirn. Die alte Redewendung schien auf dem Mars außer Gebrauch geraten zu sein. »Das heißt: In Ordnung, ich komme schon.‹« Mayas Gesichtszüge entspannten sich, sie eilte zurück in die Zentrale.
Timothy Lennox warf noch einen letzten Blick auf sein Reiseziel. Unausweichlich stand er vor ihm, der rote Planet, so groß inzwischen, dass die Horizonte schon außerhalb seines Blickfeldes lagen. Dafür glaubte er eine der fünf Städte, von denen Maya Joy erzählt hatte, in dem grünen Areal zu erkennen. Elysium? Bradbury? Oder das im Bruderkrieg mit den Waldleuten zerstörte Vegas? Die anderen Städtenamen fielen ihm nicht mehr ein.
Dort unten regelten die fünf Häuser die Regierungsgeschäfte: die Tsuyoshis, die Paxtons, die Damarrs, die Sandovals und die de Villas. Fünf Sippen herrschten über etwa zweieinhalb Millionen Menschen; die heutige Population des Mars.
Tim stieg die Treppe hinunter. Maya Joy war längst wieder im Cockpit verschwunden.
Im Passagierraum saßen die Besatzungsmitglieder, etwa ein Dutzend. Ihre Blicke begleiteten den Mann von der Erde, während er durch den Gang schritt. Tim setzte sich neben Palun Sandoval, den Bordarzt. »Alles klar?«, fragte der dünne, hoch gewachsene Mann, der eine metallic-blaue Strähne in seinem Schwarzhaar trug.
»Fast alles.« Tim Lennox schnallte sich an, sank in seinen Sessel, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Es gelang ihm nur für wenige Minuten, dann musste wieder an Marrela denken.
Marrela, Marrela, Marrela …
Ihr Name füllte sein Hirn aus, ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Stimme. Wie mochte es ihr gehen; ihr und den anderen, die seinen Weg sechs Jahre lang begleitet hatten: den Freunden, den Gefährten, den Feinden … Welche von ihnen lebten noch?
Und wenn – wie lange konnte man überleben auf einem Planeten, den Hunderte von Nuklearbomben verwüstet hatten und auf dem jetzt vielleicht schon die Yandamaaren herrschten?
Lennox riss die Augen auf. Wie Nebelschleier im Wind zerstoben die Bilder. Sein Mund war trocken. Er fuhr sich über die Stirn – kalter Schweiß blieb an seinen Händen kleben.
»Sie fühlen sich schlecht, nicht wahr?«, sagte der Arzt neben ihm leise.
Tim sah ihn an. »Wie kommen Sie darauf?« Seine Stimme klang heiser, viel zu heiser.
Sandoval zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Erstens gehört es zu meinem Beruf, aus Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen, und zweitens – wie soll es einem Mann schon gehen, der buchstäblich alles verloren hat, sogar seine Stiefel?«
Timothy Lennox antwortete nicht. Die neuen Stiefel, nun ja …
Wieder wurde im bewusst, wie unwohl er sich in dem Bordanzug fühlte. Hosenbeine und Ärmel waren ihm zu lang, an Taille, Schultern und Brust schnürte der Stoff ihn ein. Dabei hatten sie ihm die maximale Größe verpasst.
»Ich will nicht sagen, dass ich Sie gut verstehe, Tinnox«, fuhr Palun Sandoval fort, »aber ich kann mir ungefähr vorstellen, wie es einem Menschen gehen muss, der seine Heimat und sämtliche Verwandte und Freunde zurücklassen musste.« Er lächelte wehmütig. »Sie müssen sich unendlich einsam fühlen.«
Auf der Sesselreihe vor ihnen wandten zwei Frauen und ein Mann die Köpfe. Tim spürte Blicke von hinten und von der Seite. »Lassen Sie mich in Ruhe, Sandoval.«
Er lehnte sich zurück und machte wieder die Augen zu.
Minuten später tönte Maya Joys Stimme aus dem Bordfunk.
»Orbit erreicht, Landeerlaubnis empfangen, Landung in neunundfünfzig Minuten. Wir sind so gut wie zu Hause.«
In Gedanken versetzte Tim Lennox sich ins Cockpit eines Jets.
Mit dreifacher Schallgeschwindigkeit raste er in seiner Phantasie der Stratosphäre entgegen. Und diesmal schaffte er es, zu entspannen. Wie Geräusche aus einer anderen Welt drangen das Fauchen der Triebwerke und die Satzfetzen aus dem Bordfunk in sein Bewusstsein: »Haupttriebwerk auf elf Prozent, Kursstabilisatoren gezündet, Landevorgang eingeleitet …«
Er selbst aber flog über der Ostsee, unter einem blauen, fast wolkenlosen Himmel. Die Welt unter ihm war noch unberührt von einem Großen Auslöscher, von Yandamaaren und von fünfhundert Jahren Barbarei. So war es gut, so hätte es bleiben sollen …
»Wir steigen hinunter«, sagte die Stimme aus dem Bordfunk, eine künstliche Stimme. »Schubumkehr in Bereitschaft, Kurs stabil, Sinkgeschwindigkeit noch dreihundert Meter pro Sekunde, fallend, Flughöhe achthundertsechzig Kilometer.« Eine andere Stimme bestätigte, eine dritte forderte eine Anflugwinkelkorrektur und Informationen über die aktuelle Geschwindigkeit. Tim erkannte Maya und Leto Damarr. Die erste Stimme gehörte dem sekundären Bordrechner.
Die Fluggeräusche wurden lauter. Der Mann aus der Vergangenheit öffnete die Augen. Glutschwaden flirrten auf den Monitoren, die das Außenbild übertrugen. Es war, als würde die PHOBOS durch ein heißes Plasmameer treiben. Das Schiff raste bereits durch die dichteren Schichten der Marsatmosphäre.
So ungefähr hatte er sich das vorgestellt – allerdings an Bord der Queen Victoria mit einem Landeplatz in der Gegend um Moskau im Radar, mit Naoki Tsuyoshi neben sich im Copilotensitz und mit Mister Darkers und Marrelas Stimmen im Bordfunk …
»Druckausgleichsverzögerung aktiviert«, sagte die Stimme des Ersatzrechners. »Schubumkehr Stufe eins gezündet, Kurs stabil, Sinkgeschwindigkeit hundertachtzig Meter pro Sekunde, fallend, Flughöhe fünfhundert Kilometer, Gravitationsneutralisator bei fünfzig Prozent …«
Die Meldungen ertönten nun im Zehn-Sekunden-Takt.
Maya Tsuyoshis und Leto Damarrs Stimme bestätigten abwechselnd.
Irgendwann ging ein Ruck durch den Schiffsrumpf, und das Fauchen der Triebwerke schwoll für Sekunden zu brandungsartigem Brausen an. Neben Tim begann der Bordarzt zu keuchen. Auch die bisher unhörbaren Atemzüge der anderen Besatzungsmitglieder verwandelten sich jetzt in Gestöhne und Gekeuche. Er selbst spürte nur, wie ihm der Magen in den Unterbauch rutschte und die Gurte hart seine Schultern, Hüften und Schenkel bandagierten, so hart, als wären sie nicht gepolstert, sondern aus Holz oder Eisen.
Dank seines robusteren Körperbaus verkraftete er das Bremsmanöver besser als die an niedrigere Schwerkraft gewöhnten Marsianer mit ihrem grazilen Knochengerüst. Ein leichter Schwindel befiel ihn allerdings; vermutlich hatte er während der neunzig Tage Tiefschlaf konditionell ein wenig abgebaut.
Das Glutgewaber vor den Fenstern ließ nach, erlosch schließlich ganz und machte einem fahlen Licht Platz. Tim sah Wolkenschleier, eine erschreckend kleine Sonne und Bergmassive, deren Gipfel weit über Flughöhe und Blickfeld hinaus in den Marshimmel ragten.
Bald erkannte er einen bunten Fleck zwischen Wäldern und Seen. Je tiefer die PHOBOS sank, desto deutlicher konnte er die Gebäudekomplexe voneinander unterscheiden, die immer wieder durch unglaublich hohe, sich spiralartig in den Marshimmel schraubende Türme durchbrochen wurde.
Bald kam ein Flugfeld in Sicht, vergrößerte sich rasch, und Minuten später setzte die PHOBOS auf.
»Maya Joy Tsuyoshi an Raumfahrtkommando: Die PHOBOS und ihre Besatzung melden sich zurück auf dem Mars«, tönte Mayas Stimme aus dem Bordfunk.
»Hier spricht die Ratspräsidentin Cansu Alison Tsuyoshi«, antwortete eine fremde Stimme. »Im Namen des Rates, der Einwohner der fünf Städte und der fünf Häuser begrüße ich die Kommandantin der PHOBOS und ihre Besatzung. Willkommen zu Hause!«
Der Rest ging in lautem Jubel unter. Die Männer und Frauen im Passagierraum sprangen auf. Die meisten applaudierten, einige fielen einander um den Hals. Tim löste seine Gurte und sank in seinem Sessel zusammen. Er fühlte sich unendlich einsam.