Читать книгу Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband - Jo Zybell - Страница 16
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ОглавлениеDas Badeöl duftete nach Birkenharz und frisch geschnittenem Gras. Der Rasierapparat erledigte seine Bartstoppeln in Nullkommanix und verlieh anschließend sogar seiner Frisur wieder eine ansehnliche Form. Rasierwasser und Körperlotion taten seiner Haut unendlich gut. Timothy Lennox fühlte sich fast wie neugeboren, als er nach ausgiebiger Körperpflege in frische Wäsche und neue Kleider stieg.
Vor einem Garderobenspiegel prüfte er sein neues Outfit.
»Gar nicht mal so übel …« Eine Hose, ein Gürtel, eine Jacke, ein Body, eine Art Pullover. Alles fühlte sich merkwürdig weich an und wog höchstens vierhundert Gramm.
Die Kleidung hatte nicht viel Ähnlichkeit mit seiner alten Pilotenkombi der US Air Force oder dem Anzug der Londoner Community mit all seinen Spezialfunktionen. Die Grundfarbe der neuen Kombination erinnerte an die gewisser Moose oder Flechten oberhalb irdischer Waldgrenzen. Nur Hüftgurt und das Schulterstück der Jacke einschließlich des Kragens waren rot, und zwar von einem dunklen, erdfarbenen Rot, wie man sie bei Blüten von Tundra- oder Heidegewächsen finden konnte.
Es gab nur Hosentaschen, keine an den Beinen, dafür ein breites Holster aus einem Material, das wie Leder aussah, sich wie Leder anfühlte, vermutlich aber dennoch keines war. Tim rätselte über seinen Zweck.
»Zufrieden?«
Er fuhr herum. Im Türrahmen stand die Weißblonde. Ihre Frage klang irgendwie gelangweilt.
»Nicht schlecht, doch …« Tim stieg in die ockerfarbenen Stiefel; auch sie unglaublich leicht. Er strich sich über Brust und Hüften. »Was ist das für ein Material?«, wollte er wissen.
»Synthetische Mikrofasern aus Kohlenstoff, Silizium, Kupfer und so weiter.«
»Klingt irgendwie nicht nach Schaf.«
»Schaf?« Sie lächelte müde. »Ach so, der irdische Paarhufer und Wolllieferant! Nein, kein Schaf. Was Sie da tragen, ist ein hochwertiges, intelligentes Schutzsystem: selbst reinigend, atmungsaktiv, Wasser abweisend, reißfest. Sogar ein Thermostat hat das gute Stück. Die ganz Harten unter unseren Forschern sind damit nachts in der Wüste unterwegs.« Die Frau stieß sich vom Türrahmen ab und kam näher. »Und haben Sie schon gemerkt, wie sich der Stoff Ihren Körperformen anpasst?«
»O ja, tatsächlich.« Timothy Lennox griff sich unter die Achsel und an die Hüften. Oberteil und Jacke saßen perfekt und spannten dennoch nicht. »Wie komme ich zu der Ehre eines solchen Hightechanzugs?«
Kassadra Tsuyoshi zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, die Kommandantin der PHOBOS hat darauf bestanden, Sie mit diesem System auszustatten.«
»Aha.« Mayas Verdienst also. Tim klopfte auf das Beinholster. »Ist das für Waffen gedacht?«
Die Marsfrau lachte laut auf. Sehr vergnügt klang das nicht.
Kopfschüttelnd kam sie näher. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blieb vor ihm stehen. »Typisch! Daran denkt ihr Erdenmenschen natürlich als erstes!« Der verächtliche Unterton war nicht zu überhören, und sie kam Lennox ein wenig arrogant vor, wie sie da breitbeinig vor ihm stand und auf ihn herabblickte. Immerhin zeigte sie zum ersten Mal so etwas wie inneres Engagement.
»Warum sagen Sie das?« Er musterte sie. »Vorurteile?«
»Ich bin Historikerin und Sprachwissenschaftlerin. Meine Magisterarbeit habe ich über die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben. ›Die Erde als Schlachthaus‹ lautet die Überschrift des letzten Kapitels.«
Zwei Atemzüge lang sahen sie sich schweigend an. Bis Kassadra sich abwandte und langsam zu einer Schrankwand ging.
Dass die Marsleute ihm kritisch begegnen würden, hatte Tim erwartet. Doch plötzlich begriff er, wie kritisch sie ihn hier sahen. Und dass er soeben eine verbale Ohrfeige bekommen hatte, begriff er auch.
»Hören Sie zu, Kassadra – wenn ich Maya Joy richtig verstanden habe, waren Ihre Vorfahren, dieser John Carter und diese Akina Tsuyoshi, Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts; genau wie ich. Wenn Sie so wollen, stehen diese Leute mir sogar näher als Ihnen.«
Die Hand schon am Schrankgriff, fuhr sie herum. »Was erlauben Sie sich!«, fauchte sie. »Unser verehrter Gründer und unsere verehrte Erste Präsidentin waren besondere Menschen! Auch in moralischer Hinsicht! Sonst hätten sie nicht das erschaffen können, was sie erschaffen haben!«
»Sorry, ich wollte Ihre Götter nicht beleidigen …«
»Was reden Sie da?« Böse funkelte sie ihn an. »Vor fast sechsundzwanzig Marsjahren landete eine Expedition auf der Erde! Die Nachkommen der Erdenmenschen empfingen uns mit Mord und Totschlag! Wir wissen, was aus der Menschheit geworden ist! Sie werden lange suchen müssen, bis sie bei uns auch nur Spuren von Gewalt finden. Sehen Sie sich auf dem Mars um, wenn Sie Gelegenheit dazu bekommen – wir haben ein kleines Paradies geschaffen! Das ist aus den Nachkommen des Gründers und der Ersten Präsidentin geworden!«
Sie drehte sich um und öffnete die Schrankwand. »Und was Ihre Story betrifft – raffiniert gesponnen, alle Achtung, doch glauben Sie im Ernst, irgendjemand hier auf dem Mars wird Ihnen diesen Zeitsprung abkaufen?«
Es lag auf der Hand – diese Kassadra repräsentierte marsianische Arroganz in ihrer reinsten Form. Sie hielt sich für etwas Besseres als er. Nun gut, ihr Problem. Lennox hatte keine Lust, noch mehr Öl ins Feuer zugießen. »Was ist jetzt mit dieser Tasche?«
Die Frau warf einige flache Objekte aufs Bett, die wie Pads für Kaffeeautomaten aussahen. »Dafür!« Eine Atemmaske und eine große Brille folgten. Tim begriff: Sauerstoffkapseln!
»Luftdruck und Sauerstoffkonzentration bei uns entsprechen in etwa den Verhältnissen auf irdischen Viertausendern. Das habe ich nicht selber erforscht, das habe ich mir sagen lassen. Tragen Sie also zeitweise die Maske, damit sie nicht schlapp machen. Solange wenigstens, bis sich ihre roten Blutkörperchen ein wenig vermehrt haben.«
Tim verstaute die Sauerstoffpatronen in dem Holster und setzte die erste gleich in das Mundteil der Maske ein. Vor dem Spiegel probierte er sie aus. Das transparente Material war weich und geschmeidig. Die Maske saß perfekt.
»Eine Kapsel reicht für etwa zwanzig Stunden und lässt sich wieder befüllen. Wir benutzen diese Masken bei der Erforschung höherer Berge. Der Olympus Mons ragt sogar aus der Atmosphäre heraus«, gab Kassadra Auskunft.
»Und wofür ist die Brille?« Tim zog sie über das Haar. Sie war aus dem gleichen Material wie die Maske und ähnelte einer Motorradbrille.
»In den Wüstengebieten toben öfter mal heftige Sandstürme. Manchmal so stark, dass der Sand sogar durch die Wälder bis in die Städte fegt.« Kassadra lehnte wieder mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen. Sie schien schnell wieder abzukühlen; ihre Miene wirkte so gelangweilt wie vor ihrem Wutausbruch. Oder war das alles nur Maskerade? »Aber darum müssen Sie sich keine Gedanken machen. Sie werden sowieso nicht oft Gelegenheiten haben, sich im Freien zu bewegen.«
»Was Sie nicht sagen.« Tim schob die Schutzbrille in das Beinholster und die Sauerstoffmaske unter das Kinn. »Wann kann ich mit dem Rat sprechen?«
»Der Rat wird mit Ihnen sprechen«, sagte sie spitz. Sie warf einen Blick auf ihren Armbandrechner. »Und zwar in der Abendsitzung. Die beginnt in exakt vier Stunden.«
»Prächtig. Dann haben wir ja noch Zeit für einen Spaziergang.« Tim schob sich an ihr vorbei, um zur Tür zu gehen.
Kassadra wich zur Seite, als fürchtete sie eine Berührung.
»Sie werden hier warten, bis der Rat einen Boten schickt, der Sie zur Visidienz abholt.«
»Erstens heißt das Audienz, zweitens werde ich jetzt einen Spaziergang im Freien machen. Ich brauche frische Luft.«
»Dann setzen Sie Ihre Sauerstoffmaske auf.«
»Ich will mir die Stadt von unten anschauen.« Tim stand vor dem Portal und tastete es nach einem Öffnungsmechanismus ab. Er fand keinen. »Öffnen Sie die Luke.«
»Tut mir Leid, das werde ich nicht tun. Verstehen Sie bitte …«
»Machen Sie schon!«
»Nein.«
Der Mann aus der Vergangenheit trat kräftig gegen die Kunststoffluke. Als sich nichts tat, nahm er Anlauf und wollte sich dagegen werfen – als das Portal von selbst in die Wand zurückglitt. Ein Mann in silbrig schimmerndem Anzug stand davor. Der weißhaarige Anführer der Eskorte, die ihn zu dieser Suite gebracht hatte.
»Gibt es Probleme?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
»Nicht, dass ich wüsste.« Timothy Lennox wollte an ihm vorbeigehen. Wieder fiel ihm auf, wie groß der Kerl war – mindestens zwei-zwanzig, schätzte er.
Der Weißhaarige streckte seine Linke aus, legte sie Lennox von vorn auf die Brust und stoppte ihn. »Wenn Kassadra sagt, Sie gehen nicht in die Stadt, dann werden Sie auch nicht in die Stadt gehen, haben Sie mich verstanden?«
»Nein.« Tim schob den Arm zur Seite. »Oder bin ich hier ein Gefangener?« Gegenüber des Portals, auf der anderen Gangseite, erhoben sich zwei weitere Männer der Eskorte aus ihren Sesseln. Rechts und links des Ausgangs standen bereits zwei.
»Ihr Status ist meines Wissens noch ungeklärt.« Der Weißhaarige packte Tim von hinten am Arm. »Zurück in ihre Suite, bitte. Der Rat wird Sie rufen lassen, wenn …«
Mit einem schnellen Schritt war Tim Lennox heran und stieß die Wache in Richtung des Mannes links vom Portal. Beide stürzten zu Boden. Der Posten rechts der Tür zog ein kleines, stabartiges Gebilde aus seinem Gürtel. Tim warf sich gegen die Hüften des Größeren, fasste durch dessen Schritt und nach seiner Rechten und hob ihn hoch. Sekundenbruchteile später flog der Marsianer durch die Luft. Seine Stabwaffe rollte über den Boden, und Tim Lennox bückte sich danach …
»Aufhören!« Kassadra stand auf einmal vor dem Portal und streckte dem Anführer, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte, die Linke entgegen. Mit der anderen Hand deutete sie auf den Erdmann. »Sofort aufhören! Sie sollen Ihren Spaziergang bekommen, Commander.«
Tim ließ die Waffe, wo sie lag, und richtete sich auf. Sein Herzschlag trommelte in seinen Schläfen, er schnappte nach Luft. Die Männer halfen einander auf die Beine. Halb erschrockene, halb feindselige Blicke trafen den Blonden von der Erde. Seine Bewacher stellten die Stühle auf, ordneten ihre Silberanzüge und Haare.
»Kommen Sie, Lennox! Los, kommen Sie schon!« Kassadra, inzwischen schon ein paar Schritte entfernt, winkte ihn zu sich.
»Ich habe mit dem Präsidium gesprochen!« Sie deutete auf den Minicomputer an ihrem Handgelenk. »Zwei Stunden Stadt, keine Minute mehr! Machen Sie schon!«
Timothy Lennox wankte hinter ihr her zu den Liftsäulen. Er sah zurück, während er die Sauerstoffmaske auf Mund und Nase stülpte. Die Fünf machten Anstalten, ihnen zu folgen. Ihr weißhaariger Chef murmelte irgendwas in seinen Armbandrechner.
Tim hatte plötzlich Mühe, seiner Begleiterin zu folgen. Ihm war schwindlig, der Druck im Kopf steigerte sich zu rasendem Schmerz. Er atmete keuchend.
Kassadra stand auf der Liftschwelle und wartete auf ihn. An ihr vorbei wankte er in die Kabine, lehnte sich gegen die Rückwand und atmete tief und schwer.
»Sie sollen die Maske doch aufsetzen! Sie lernen auch nur, wenn es weh tut, was?«
Die Lifttüren schlossen sich. Tims Magen stieg ihm in den Hals, als es abwärts ging. »Sturer Barbar!« Wütend blitzte sie ihn an.
»Arrogante Zicke«, keuchte Tim.