Читать книгу Planet Mars sehen und sterben - 3 Romane Großband - Jo Zybell - Страница 9
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ОглавлениеEine Zeitlang saß der Uralte wie erstarrt. Seltsam leer blickte er vor sich hin. Vera Akinora begann sich Sorgen um seine Gesundheit zu machen, denn seine schmalen Schultern waren nach unten gesunken und seine langen knochigen Hände lagen wie leblos auf seinen spitzen Knien. Er sah aus wie ein Mann, aus dem von einem Atemzug auf den anderen sämtliches Leben gewichen war.
Windtänzer trat näher an das Feuer heran. »Hörst du, was die Dame Tsuyoshi sagt, Weltenwanderer? Mit dem Erdmann wird wahrscheinlich neues Wissen, vielleicht sogar neue Waffentechnik, in jedem Fall aber der ewige Zwist und unausrottbare Hader des verfluchten Erdgeschlechts in unsere Heimat eingeschleppt. Wir müssen …«
Der Uralte winkte ab. Er fixierte die Frau streng. »Wie kommt ihr zu diesen Neuigkeiten?« Zum ersten Mal schaute er ihr in die Augen – und sie ihm. Erstaunliche Augen – das Feuer der Jugend brannte in ihnen, und ein Lebenswille, den Vera Akinora bei sich selbst schon lange nicht finden konnte. Hatte Windtänzer nicht gesagt, der Erste Baumsprecher sei neunundsechzig Marsjahre alt, also noch acht Marsjahre älter als sie selbst?
»Meine Tochter kommandiert die PHOBOS«, sagte sie.
»Das Raumschiff startete Ende vergangenen Jahres zur Mondstation. Dort fanden sie den Erdenmann. Bei ihm war eine Frau aus dem Hause Tsuyoshi, eine Blutsverwandte der Erzmutter Akina. (eine der ersten Siedlerinnen auf dem Mars) Sie lag im Koma und soll inzwischen tot sein.«
Vera Akinora machte eine Pause, um dem Alten Zeit zu geben, das Gehörte aufzunehmen. Doch der gestikulierte ungeduldig, weil er mehr hören wollte.
Sie erzählte ihm, was sie wusste, und schloss: »Der Rat hat meiner Tochter befohlen, den Mann zum Mars zu bringen. All das trug mir über verschiedene Boten ein guter Freund zu, der Verbindung zum Rat hat.«
»Ihre Tochter Maya ist meine Vertraute«, fügte Windtänzer hinzu. »Deren Tochter Nomi wiederum wächst bei uns und ihrer Großmutter auf. Maya Tsuyoshi steht auf unserer Seite, auch sie lebte eine Zeitlang bei uns. Zusammen mit ihrer Tochter und der Dame Vera Akinora.«
Die Gestalt des Uralten straffte sich wieder; er bedeutete der Frau und den drei Männern, näher zu treten, und wies auf einige flache Sitzgelegenheiten nahe des Feuers. Sie waren mit einem Geflecht aus Pflanzenfasern überzogen, sodass Vera Akinora das Material darunter nicht erkennen konnte.
Die vier Besucher nahmen Platz. Die beiden Jünglinge murmelten schüchtern ihre Grüße. Vor allem den jüngeren, den blauhaarigen Aquarius, verstand man schlecht. Er verneigte sich ständig, während er sich niederließ, und wagte kaum den Blick zu heben. Der Greis, den Windtänzer Meister und Sternsang genannt hatte, quittierte es zunächst mit flüchtigem Nicken und bedeutete ihm endlich, damit aufzuhören. Aquarius gehorchte und saß still. Eine längere Phase des Schweigens folgte.
Über Aquarius wusste Vera Akinora wenig. Vor zwei Jahren war er aus den kargen Wäldern um die Elysium-Seen in die Waldgebiete östlich von Phoenix gezogen. Mit nichts als seinen Kleidern auf dem Leib und einem Brief seines Sippenbaumsprechers an Windtänzer. Seitdem folgte er dem Meister, wohin dieser ging.
Er hatte lange Glieder, sehr große und blaue Augen und etwas dunklere Haut als Schwarzstein, und weit weniger Pigmentflecken als der. Es hieß, Aquarius könne die Aura anderer Menschen sehen und ihre Gedanken und Gefühle erspüren.
Der Uralte blickte grübelnd in das schwelende Feuer. Seine Augen kamen Vera Akinora plötzlich größer vor, und ein feuchter Glanz lag in ihrem hellen Grün. Windtänzer und seine Schüler hockten auf den Fersen und betrachteten ihre gefalteten oder auf den Oberschenkeln liegenden Hände. Der Himmel über dem Felskesselgrund verdüsterte sich zusehends, im Feuer knisterte verglühendes Holz, und aus den Holzröhren vor den Felsspalten summte und flüsterte ein monotoner Klangstrom.
Der Feuerschein spiegelte sich in einem Schmuckstück am schwarzen Pelzmantel des Uralten. Groß wie eine Kinderhand war es und fesselte Vera Akinora Aufmerksamkeit. Es bestand zum größten Teil aus einem gelben, mit roten Edelsteinen besetzten Metall, hatte die Form eines Kreuzes und hing an der rechten Brustseite des Pelzmantels, also direkt über dem Herzen des alten Mannes.
Sicher kannte Vera Akinora das Symbol des Kreuzes, und als historisch gebildete Frau wusste sie auch um seine Bedeutung für jene große Religion, die ihre Vorfahren einst zusammen mit der Erde hinter sich gelassen hatten. Vom Vorkommen eines derart intensiv leuchtenden roten Edelsteins auf dem Mars wusste sie jedoch nichts. Diese Wissenslücke wäre noch zu erklären gewesen, denn das Waldvolk kannte viele Dinge, von denen man in den Städten keine Ahnung hatte. Ein gelbes Metall allerdings, das auf diesem Planeten geschürft wurde, müsste sie kennen. Immerhin hatte sie vor Jahren als Präsidentin der Regierung vorgestanden, und jede Tonne Metall, die aus dem Marsboden gewonnen wurde, gleich welcher Art, war sorgfältig dokumentiert über ihr Arbeitspult gegangen. Tatsache aber war: Sie hatte ein solches Metall noch nie zuvor gesehen.
Irgendwann fasste der Uralte wieder nach den Griffen an den Schnüren seiner Holzröhren und begann daran zu ziehen.
Sofort schwoll der Klangstrom von oben an und füllte die Luft über dem Plateau mit Summen, Heulen und Flüstern. Es war, als würde ein Chor toter Seelen aus dem Jenseits raunen. Vera Akinora zog die Schultern hoch. Sie fror, und sie hatte Hunger.
»Narren, Hohlköpfe, Dummbärte!«, zischte der Greis.
»Keine Speise des Kosmos, kein noch so geheimes Wissen wird sie jemals wirklich satt machen! Keine noch so kühne Kunst wird sie jemals befriedigen! Immer darauf bedacht, ihre Macht zu vergrößern und den Raum für ihre gefährlichen Spiele zu erweitern, wollen sie immer mehr und mehr und greifen nach allem, das Fortschritt und Wachstum verheißt. Ha! Wachstum der Bosheit! Fortschritt über den Rand des Abgrunds hinaus! Wie sie ihr eigenes Verderben lieben!«
Mit düsteren Worten geißelte er die Städter und ihr Vertrauen in Wissenschaft und Technik.
Vera Akinora hörte nichts wirklich Neues; fast langweilte der Uralte sie. Sie wusste doch selbst, welche Gefahr ein Erdenmann für das sorgsam austarierte politische Gleichgewicht auf dem Mars darstellte. Zumal einer, der leidlich zivilisiert erschien, wie Maya andeutete, ja, sogar über grundlegende Theorien und Fertigkeiten irdischer Wissenschaft und Technik verfügte. Nicht umsonst hatte sie die Waldleute aufgefordert zu handeln; nicht aus Vergnügen hatte sie sich auf den beschwerlichen Weg zum Obersten ihrer Baumsprecher gemacht. Doch war sie noch immer Diplomatin genug, um den geheimnisvollen Mann nicht zu unterbrechen. Höflich mimte sie die Aufmerksame, während ihre Blicke Einzelheiten in der Nähe des Feuers und vor der Einsiedlergrotte zu erfassen suchten.
Über das exotische Kreuz und die verrückten Sturmflöten hinaus gab es da noch jene Waffen über dem Höhleneingang.
Gekreuzte Klingen, lang und gekrümmt und mit fantastisch geschmückten Griffen. Oder das hölzerne Instrument rechts des Höhleneingangs. Sein Klangkörper verengte sich in der Mitte, wie die Taille einer jungen Frau, und von seinem Steg liefen vier Saiten zur Spannmechanik in kunstvoll spiraliger Schneckenform. Sie suchte in ihrer Erinnerung, aber sie konnte sich nicht entsinnen, ein derartiges Instrument je gesehen zu haben, abgesehen natürlich von Abbildungen in den Datenbanken der Zentralverwaltung. Sie wusste nicht einmal, wie man so ein Ding bezeichnete.
Oder der Tierschädel links des Höhleneingangs. Seine Augen reflektierten den Feuerschein, und aus seinem pelzigen Schädel ragte ein vielfach verzweigtes Gehörn. Sicher – aus Lyvia Paxtons Genkugeln waren mehr und mehr Tierarten des so genannten Alten Lebens entsprungen; man konnte sie gar nicht alle kennen. Zusammen mit der expandierenden Flora breiteten sich viele Gattungen über den Planeten aus, deren Existenz und Bestand noch nicht erfasst war, doch das Tier, dessen Schädel da neben der Höhle des Schamanenführers hing, kannte Vera Akinora nicht einmal vom Hörensagen.
Wanderer, so nannte Windtänzer seinen Lehrer manchmal; oder auch Weltenwanderer. Angesichts der fremdartigen Gegenstände fragte sie sich, was dieser Titel zu bedeuten hatte; und was genau es war, das Windtänzer noch zu lernen hatte, wenn er zweimal im Jahr aufbrach, um seinen alten Meister aufzusuchen.
Sternsang war endlich verstummt. Die Altpräsidentin nutzte die Gelegenheit und ergriff das Wort. »Du sprichst die Wahrheit, verehrter Herr Sternsang, deine Worte sind klar, und ich kann ihnen nur zustimmen. Doch was nun? Wenn der Erdmann bei den Städtern bleibt, wird er unter den Einfluss jener Fraktion gelangen, die schon lange darauf drängt, auf der Erde nach wissenschaftlichen und technischen Innovationen zu forschen. Sie wollen das alte, verderbte Wissen für den Mars nutzbar machen, daran kann kein Zweifel bestehen, und der Erdmann wird ihnen dabei helfen, denn ihn zieht es natürlich nach Hause.«
Der Uralte schwieg. Finster brütend starrte er ins Feuer.
»Nur ein Wort von dir, verehrter Herr Sternsang«, fuhr Vera Akinora fort, »und dein Volk wird sich aufmachen und den Fremden aus den Händen der Blinden und Narren befreien.«
»So ist es«, pflichtete Windtänzer bei. »Wir müssen ihn entführen. Am besten so schnell wie möglich, oder er wird sie infizieren mit seinem Gedankengut!«
»Entführen?« Schwarzstein ergriff das Wort. »Wohin denn entführen? Zu einer Sippe des Waldvolkes? Damit er dort Anhänger und Komplizen gewinnt?« Er ballte die Fäuste; eine Zornesfalte stand zwischen seinen weißen Brauen. »Wir müssen ihn töten!«
Sein Lehrer und der Uralte blickten ihn schweigend an, Windtänzer mit mildem Tadel, Meister Sternsang streng und zornig. Er hob gebieterisch die Hand. »Töten? Du bist ein Schüler des Baumsprechers und redest vom Töten? Die solche Reden führen, werden den Versuchungen des Erdmannes als erste erliegen.«
Schwarzstein senkte beschämt den Blick.
»Rechne es seiner Jugend zu, Meister«, sagte Windtänzer beschwichtigend. »Ich werde ihn angemessen bestrafen.«
Wieder verstummte der Uralte. Mit der Rechten seine Windorgel bedienend, warf er mit der Linken Holz und Reisig ins Feuer. Danach stierte er brütend vor sich hin. Bis er irgendwann tief durchatmete. »Nach dem Ende der Bruderkriegs vor hundertdreißig Marsjahren sah einer unserer ersten Lehrer in die Zeiten, die noch kommen würden«, sagte er leise. »Er sah hundertdreißig Jahre des Friedens – und danach einen falschen Propheten, der denkt, wie man auf der Erde zu denken pflegte, der Kampf predigt und Zwist sät. Einen, der die Wälder verderben und das Waldvolk ins Unglück stürzen wird.« Er hob den Schädel. Ernst und Würde gingen von ihm aus. Erst sah er die beiden Jungen, dann Vera Akinora und zuletzt Windtänzer an. »Es sei denn, einige Tapfere finden sich, dies noch im Keim zu verhindern.«
»Wir werden ihn also entführen?«, fragte Vera Akinora.
Wie ein warmer Strom wogte die Erleichterung durch ihren erschöpften Körper.
Der Uralte nickte langsam. »Geht listig vor, kein Verdacht soll auf uns fallen. Holt ihn und versucht ihn zu den Lehren des Waldvolkes zu bekehren.«
»Und wenn er sich nicht belehren lässt?«, fragte Windtänzer.
»Dann wird er den Rest seines Lebens in Ketten verbringen, allein und hier in der Einöde dieser Grenzregion, wo die Seelen unserer Mütter und Väter ihn bewachen werden.«