Читать книгу Parsifal - Joachim Stahl - Страница 10
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Bald würde auch sie ersticken.
Der einzige lebende Verwandte, von dem ihre Mutter jemals erzählt hatte, war ihr Bruder Jago, der Raumfahrer. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren schon lange tot, gestorben bei dem Bombardement, das im letzten Krieg über Kharaks Städte niedergegangen war. Ihren Vater hatte sie niemals kennengelernt, ihre Mutter wusste nicht einmal seinen Namen. Es war wohl irgendein Raumfahrer, der auf der Suche nach Spaß und Abwechslung beim Landgang ihre Mutter, die attraktive und arme Kellnerin, kennengelernt hatte und ihr dafür anschließend ein paar Kredits in die Tasche steckte. War schön mit dir, vielleicht sehen wir uns mal wieder, du Hübsche. Leb wohl. Andere Frauen hätten ihr ungeborenes Kind abgetrieben, doch Carmens Mutter war davon überzeugt, dass das Leben mit der Empfängnis beginnt und töten ein Verbrechen ist, auch wenn die gerade geltenden Gesetze etwas anderes besagen.
Onkel Jago kam, so schnell er konnte. Es brauchte gut eine Woche. In der Zwischenzeit halfen einige Nachbarn dem Waisenmädchen, das zwar kein Kind mehr war, aber auch nicht allein für sich sorgen konnte, schon gar nicht ohne Geld. Die Nachbarn ließen sie bei sich essen, dafür half sie ihnen nach der Schule im Haushalt und versuchte sich nützlich zu machen. Das Arbeiten lenkte auch ab und sie war froh, dass sie dabei nicht viel über ihre Lage nachdenken konnte. Nur abends im Bett vor dem Einschlafen überfielen sie die Sorgen um ihre Zukunft wie ein Schwarm bösartiger Fluginsekten.
Und eines Tages stand Onkel Jago vor dem Haus, zum ersten Mal seit Jahren sah sie wieder sein hageres Gesicht, das von schwarzen, struppigen Haaren und einem schütteren Vollbart umrahmt war. Er streckte die Arme aus und versprach ihr, sie mit ins All zu nehmen. Er habe bald sein eigenes Schiff und könne darauf schalten und walten, wie er wolle.
Und hier war sie also, im All. Damit beauftragt, einen Notruf zu senden. Vor etlichen Stunden schon hatte sie damit begonnen, eingepfercht in dieses Wrack. Doch was, wenn der Notruf seinen Adressaten wider Erwarten nicht erreichte? Würde Jago dann aus seinem Versteck herbeieilen, um sie zu retten? Wusste er überhaupt, dass seiner einzigen Nichte gerade der Atem ausging?
Tränen traten in ihre Augen. Seltsam, dass sie erst jetzt kamen, wo ihr doch schon so lange zum Heulen zumute war. Und sie konnte sie nicht einmal unter dem Helm ihres Raumanzugs wegwischen. So werde ich also den Weg meiner Mutter gehen, wenn auch etliche Lebensjahre früher als sie. Sie musste ersticken, weil sie kein Geld für wirksame Medikamente hatte, ich muss ersticken, weil mein lieber Onkel ein geldgieriger Raumpirat ist, der mich als Lockvogel einsetzt.
Aber das Leben ist zwar meist ein eintöniger, ermüdender und berechenbarer Ablauf lauwarmen Wassers, manchmal aber verwandelt es sich wie durch den Zauberklang sinfonischer Melodien zum mitreißenden Strom einer dramatischen Oper. Während die junge Frau in dem wracken Beiboot die letzten Reserven ihres Sauerstoffes in die Lungen sog, tauchte ein Lichtpunkt in der Schwärze des Alls auf, genau wie erhofft und geplant.
Parsifal flog in die Falle.