Читать книгу Zwei Sommer - Jochen Ruderer - Страница 11
Wachsen
ОглавлениеDie Wochen bis zu den Sommerferien verbrachte ich mit Schule, Schwimmen und Schach. Immer öfter saß ich auch alleine im Keller, denn Basti hatte sich von Sandra getrennt und investierte all seine überschüssige Energie in Lisa. Manchmal war ich dann auch mit Katrin allein. Wir führten lockere Gespräche über dies und das, und immer wieder auch über ihre Beziehung mit Ben und wie gut alles lief und wie dankbar sie mir war und so weiter. Ich kam erstaunlich gut damit klar. Letzten Endes hatte Basti doch recht gehabt: im Bikini gesehen hatte ich sie. Das konnte mir keiner nehmen. Genau wie die Erinnerung an das Gefühl ihrer Brüste durch den Pullover oder den Geruch ihres Haares. Ab und an bekam ich einen leichten Stich in der Herzgegend, wenn ich mir vorstellte, was hätte sein können, aber ich war weit von dem entfernt, was ich von einem echten Liebeskummer gelesen und erwartet hatte. In meinen Träumen schloss Katrin die Kellertür immer noch von Innen ab, aber in der Wirklichkeit kam ich mit der Rolle des Kumpels ganz gut zurecht.
Die Episode mit Katrin hatte außerdem zu echten Verbesserungen in meinem Alltag geführt. Niemand fiel mehr in dunklen Gängen über mich her, niemand tuschelte hinter meinem Rücken und ich absolvierte mittlerweile auch mal ein Gespräch mit einem Mädchen, ohne mich wie ein vollkommener Trottel zu verhalten. Der Zauber, der mit ihrer Bekanntschaft begonnen hatte, blieb bestehen.
Dazu bemerkte ich im Sportunterricht, dass ich Rainer Seelemann mittlerweile um gut zwei bis drei Zentimeter überragte. Damit war ich offiziell zwar immer noch der zweitkleinste Zehntklässler der gesamten Schule, aber es war ein Anfang, der mir Hoffnung gab.
Kurz vor den Sommerferien stellte ich einen neuen Vereinsrekord über 100 Meter Delphin in meiner Altersklasse auf und hatte das Gefühl, gleich mehrere Zentimeter an einem Tag zu wachsen. Ben änderte meinen Spitznamen in Mini-Albatros und bot mir an, in den Sommerferien an einem zweiwöchigen Schwimmcamp an der französischen Mittelmeerküste teilzunehmen. Der Verein zahlte die Unterkunft und Verpflegung. Für uns blieben nur die Fahrkosten von je 80 D-Mark und ein bisschen Taschengeld.
„Frankreich. La France. Das ist das Land der Liebe.“, schwärmte Basti, der auch eingeladen war. „Überall kleine Mademoiselles, für die wir Liegestütze am Strand machen können.“
„Heißt es nicht Stadt der Liebe und geht es dabei nicht nur um Paris?“, wandte ich ein.
„Stadt, Land, scheißegal. Paris ist die Hauptstadt, also ist Frankreich auch das Land der Liebe, klar?“
„Und was ist mit der Arbeit?“
Basti grinste. „Ich hab schon mit Böttcher gesprochen. Er ist zwar nicht begeistert, aber so lange wir alles bis Ende August fertig haben, ist es ihm egal.“
„Aber wie sollen wir das schaffen? Alles auswerten und fünfzehn Seiten schreiben. Ich hab keine Ahnung, was wir überhaupt rausbekommen haben.“
„Ach das ist kein Problem. Wir beschreiben einfach, wie sich die Mäander entwickelt haben. Wann sie länger wurden und wann breiter und so was. Vornedran noch ein paar Zusammenfassungen und am Ende unsere Schlussfolgerung.“
„Und was ist unsere Schlussfolgerung?“
„Weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall sowas wie die Ausbildung der natürlichen Wasserbögen zu unterdrücken, wie es bei Flussbegradigungen geschieht, erscheint uns als höchst unratsam.“
Ich starrte Basti mit offenem Mund an.
„Was ist? Das war von vorne rein unser Ergebnis. War dir das nicht klar?“
Und als ich mal wieder nichts sagte, nahm Basti mich in den Arm und rief laut „Vive la France!“
Als er zweieinhalb Wochen später braun gebrannt aus Südfrankreich zurückkam, war Basti nicht mehr mit Lisa zusammen, sondern mit Yvette. Ich hatte die vergangenen Wochen mit meiner Mutter im städtischen Freibad und alleine am Schreibtisch verbracht. Sie freue sich zwar über meinen Erfolg im Schwimmen, hatte meine Mutter erklärt. Leider ließen es aber weder unsere finanzielle Situation noch meine schulischen Leistungen zu, dass ich den Erfolg meiner Forschungsarbeit gefährde, indem ich mit irgendwelchen Fremden nach Frankreich fuhr. Außerdem freue sie sich auf ein paar freie Tage für uns beide. Sie übermittelte mir ihren Beschluss fast beiläufig beim Abendessen und ich kam nicht auf die Idee, daran zu rütteln. Als Basti und später Ben für mich auf die Barrikaden gehen wollten und beide sogar anboten, die Gebühr auf unbestimmte Zeit vorzustrecken, musste ich sie bremsen. Ich könnte ja auch im Freibad trainieren. Ich könnte anfangen, die Arbeit zu schreiben. Und schließlich schien die Sonne auch bei uns. Ben hatte es nicht verstanden und Basti war richtig sauer geworden.
„Dann bleib doch bei Mutti. Aber ich fahre, sag ich Dir. Ich fahre.“
Also war er gefahren und ich war hier geblieben.
Bei unserem Wiedersehen war von Groll nichts mehr zu spüren. Basti platzte gut gelaunt in mein Zimmer und war euphorisch wie eh und je.
„Das Land der Liebe, Pete. Ich hab’s dir gesagt. Sonne, Strand und l’amour française. Jetzt kann ich sterben!“
Ich lächelte und schloss die Tür hinter ihm.
„Das wolltest Du schon, nachdem wir Katrin Morgentaler im Bikini gesehen haben.“
„Ja stimmt. Aber was interessiert mich mein Geschwätz von vorgestern. Yvette…sie ist…na weisst Du…sie ist neunzehn. Sie weiß Bescheid, verstehst Du?“
„Na dann stirb’ lieber noch nicht. Wäre ja schade.“
Basti sah mich an, als wäre das das Lustigste, was ich je gesagt hätte.
„Ja, Mann. Das wäre verdammt schade. Ich kann noch so viel lernen. Ich muss noch so viel üben. Am liebsten würde ich jetzt gleich damit weitermachen.“
Er schürzte die Lippen zu einem Kussmund und stürzte sich in einer wilden Umarmung auf mich. Ich ließ mich aufs Bett fallen und schüttelte ihn lachend ab. Wir lagen einen Moment nebeneinander auf dem Bett, so dass unsere Blicke genau auf das Foto von meinem Vater und mir als Baby fielen.
„Dein Alter war ein ziemlich großer Mann, oder? Also sieht zumindest auf dem Foto so aus.“
„Er hat ein kleines Baby auf dem Arm. Da sieht jeder groß aus“
„Ich meine… guck doch mal die Hände an. Er hat echt große Hände.“
„Naja. Er war Pianist.“
„Ja und wenn man Pianist ist, wachsen einem automatisch große Hände oder was?“
Ich betrachtete das Bild von dem feingliedrigen Mann, mit dem winzig wirkenden Baby auf dem Arm. Keine Ahnung, wie groß er war. Aber er blickte sehr ernst in die Kamera. Das fiel mir auf. Und das Baby auch. Mit den gleichen tief-schwarzen Augen. Fast schon feierlich. So als wüssten sie, dass dieses Foto, das einzige Bild von Vater und Sohn bleiben würde.
Basti rappelte sich auf.
„Wie war’s an der Heimatfront?“
„Gut. Es war wirklich gut. Ich glaube, es hat nicht einen Tag geregnet.“
„Ich mein doch nicht das Wetter. Ich mein: wie war’s? Was hast Du gemacht? Wie lief’s mit Mutti?“
Basti wusste, dass Mutti in unserer Familie ein Unwort war. Aber ich ging nicht darauf ein.
„Ich meine nicht nur das Wetter. Es war gut. Wir waren jeden Tag im Freibad. Ich hab mein Pensum absolviert. Wir haben Karten gespielt und Schach und sowas. Ich hab natürlich nicht einmal gewonnen.“
„Nichtmal Remis?“
„Nichtmal Remis.“
„Oh Mann. Ich muss mal gegen deine Mutter spielen.“
„Geh. Frag sie. Da kannst du auch was lernen.“
„Ach echt?“, grinste Basti und ich erahnte seine Gedanken.
„Boah, du hast echt ein massives Hormonproblem, weißt du das?“
„Absolut“, grinste Basti. „Und du? Was hast du mit deinen Hormonen so angestellt in den letzten Wochen?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Alles wie immer.“
In Bastis Abwesenheit hatte ich mit genau zwei weiblichen Wesen gesprochen. Das eine war meine Mutter und das andere war eine etwa vierzigjährige Frau, mit der ich beim Schwimmen zusammengestoßen war. Sie hatte gelächelt und mich ermahnt, ich solle nicht so stürmisch sein. Dann hatte sie mir zugezwinkert und war weitergeschwommen. Manchmal habe ich ein paar von Katrins Freundinnen am Volleyballplatz gesehen, ohne irgendein Wort mit ihnen zu wechseln. Katrin selbst war mit Lisa und ihren Eltern in einem Ferienclub auf Lanzarote. Volle sechs Wochen lang. Aber dennoch hatte ich die Tage genossen. Meine Mutter hatte frei. Wir spielten Sechsundsechzig, Rommé und Canasta und meistens eben Schach. Ich las Unterm Rad von Hermann Hesse und war ehrlich beeindruckt. Nicht nur, dass der jugendliche Held am Ende starb. Das kam mir sehr erwachsen vor. Es gab auch eine zarte, zumindest leicht erotische Szene, die mir sehr gefiel. Meine Mutter hatte mir das Buch gegeben und ich hatte das Gefühl, sie beobachtete mich beim Lesen. So als wollte sie testen, ob mich Liebe und Sex und Mädchen überhaupt interessierten. Es war peinlich von ihr so angestarrt zu werden, aber das Buch war trotzdem gut.
An den Nachmittagen hatte ich mich an der Forschungsarbeit versucht. Meine Mutter hatte mir ein Programm gezeigt, mit dem ich aus unseren Tabellendaten, Grafiken erstellen konnte.
„Hey. Die sehen ja prima aus“. Basti klickte sich in unserem Wohnzimmer durch die Bilder. „Damit kriegen wir die fünfzehn Seiten locker gefüllt.“
Die restlichen Wochen der Sommerferien verliefen in etwa so, wie die ersten beiden, nur dass ich statt meiner Mutter nun Basti dabei hatte. Immerhin spielten wir jetzt ein paar mal Volleyball. Aber seitdem Basti mit Lisa Schluss gemacht hatte, war die Mädels-Gang nicht wirklich gut auf ihn zu sprechen. Wir blieben meistens für uns und hängten uns beim Schwimmen voll rein. Auch das Training am Nachmittag begann wieder und wenn wir danach an unserm Computer vor der JuFo-Arbeit saßen, war ich oft zu müde, auch nur eine Taste zu drücken. Glücklicherweise wusste Basti genau, was er schreiben wollte und wie er unsere Ergebnisse zu interpretieren hatte. Ich las einen Artikel über Mäander in einer Fachzeitschrift, fügte die Schaubilder ein und den Rest erledigte er. Am letzten Tag der Ferien, lag unsere Arbeit fix und fertig ausgedruckt vor uns. Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern von Sebastian Reuscher und Peter Boltenhagen, Klassenstufe 10.
„Fünfzehn Seiten mit Literaturverzeichnis und Anhängen“, triumphierte Basti.
„Müssten wir mittlerweile nicht Klassenstufe 11 drauf schreiben, fragte ich?“
„Richtig, Pete“, freute sich Basti. „Wenn ich dich nicht hätte.“
Während er die Titelseite neu ausdruckte, beschlich mich das Gefühl, damit meinen wichtigsten Beitrag zu unserem Werk geleistet zu haben.