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Abkürzungen

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Später behauptete Basti, er hätte schon vorher in meinen Augen gesehen, dass ich mitmachen würde. „Und zwar in dem Moment, als ich Katrin Morgentaler erwähnt habe.“ Aber das ist Unsinn. Auch meine Mutter wollte mir mein plötzliches Interesse an Wissenschaft nicht so recht abnehmen, beschloss aber, sich einfach über den Sinneswandel zu freuen und erklärte ihn sich selbst und mir als Zeichen meiner wachsenden Reife. Allerdings bedauerte sie, dass wir uns nicht für ihr Fach, Mathematik, oder wenigstens Biologie oder Chemie als Forschungsgebiet entschieden hatten. Aber als Basti ihr erklärte, dass unser Fachgebiet Geo- und Raumwissenschaft quasi zur Physik gehöre und das Ganze eine astreine naturwissenschaftliche Untersuchung werde, sah sie sehr glücklich aus. Sofort bot sie Unterstützung an. Wir könnten die Uni-Bibliothek nutzen. Sie wolle mit ihrer Chefin sprechen, damit wir Forscher interviewen könnten und so weiter. Basti musste sie bremsen. „Das ist leider verboten, Frau Boltenhagen. Wir müssen wirklich alles ganz alleine erarbeiten. Nur Herr Böttcher darf uns beraten. Er ist da offiziell als Betreuer angemeldet, wissen Sie.“ Das wirkte. Vor Regeln hatte meine Mutter Respekt. Wenn es verboten war, war es verboten.

Bastis Begeisterung und der Stolz meiner Mutter verdrängten meine eigenen Zweifel für etwa zwei Wochen. Dann traten wir bei Herrn Böttcher an, um unseren Arbeitsplan für die nächsten Monate zu erfahren und aus meinen Zweifeln wurde die Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben.

Zunächst hatte Herr Böttcher unser Thema so weit verändert, dass es kaum mehr etwas mit Regen zu tun hatte. „Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern“ lautete das Thema unserer JuFo-Arbeit, wie unser Projekt ab jetzt genannt werden sollte. Böttcher schaffte es gleich zu Beginn seines Monologs, die Abkürzung dreimal in einem Satz unterzubringen. „Die JuFo-Arbeit und die Teilnahme am JuFo-Wettbewerb eröffnen euch ein ganzes Universum an Möglichkeiten und Kontakten in der JuFo-Welt.“ Ich hasste dämliche Abkürzungen und diese brachte es direkt auf Platz eins meiner Liste, noch vor O-Saft und HDGDL. Meinen Einwand, dass wir doch eigentlich über die Wege der Regentropfen forschen wollten, hatte er offenbar erwartet. Mit einem künstlichen Showmaster-Grinsen tänzelte er zur Tafel und klappte sie mit großer Geste auf. Wir starrten auf ein gezeichnetes Rechteck mit Schlangenlinie und ich rechnete fest damit, dass jeden Moment diese Musik ertönte, die im Fernsehen immer dann kommt, wenn ein Kandidat gerade seinen ganzen Einsatz verzockt hat.

„Genau das machen wir natürlich auch, mein lieber Peter“, pries Böttcher seinen vermeintlichen Hauptgewinn an. „Ein Tropfen auf einer Scheibe ist ja nichts anderes als Wasser auf einer schiefen Ebene. Zugegeben: im Fall der Fensterscheibe ist diese Ebene mehr als nur schief. Wir bauen also eine solche Ebene auf einen verstellbaren Winkel und montieren am oberen Ende einen Wasserzufluss mit Druckregulierung. So erhalten wir zwei Variablen, den Wasserdruck und den Neigungswinkel der Ebene und können in drei Monaten ausreichend Experimente durchführen, um belastbare empirische Daten über das Fließverhalten des Wassers zu erhalten.“

„Fantastisch“, platzte es aus Basti heraus.

Ich bemerkte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Nicht genug, dass ich noch nicht so genau verstanden hatte, was wir da empirisch und mit zwei Variablen eigentlich veranstalten würden, das mit den drei Monaten meinte Herr Böttcher erschreckend wörtlich. „Wenn wir in zwölf Wochen jeden Tag zwei Durchläufe von je vier Stunden machen, kommen wir auf 120 Testreihen. Mit dem einen oder anderen Durchlauf am Wochenende oder abends sollten wir genügend Daten zusammenkriegen, um Mitte Juli fertig zu sein. Bis Ende August könnt ihr dann die Arbeit schreiben. Abgabe ist am 15. September. Was sagt ihr - ist das ein Plan?“

Nach diesem Gespräch hatten Basti und ich die schlimmste Krise unserer 15-jährigen Freundschaft. Drei Monate lang irgendwelche Variablen variieren? In den Sommermonaten am Schreibtisch sitzen und eine Arbeit schreiben? Ich erklärte Basti, ich würde aussteigen. Ich meinte es ernst, aber er nahm mir das nicht mal eine Sekunde lang ab.

„Mal ernsthaft, Pete - was würde deine Mutter wohl davon halten?“ Dieser Satz machte mich so wütend, dass ich fast geschrien hätte. Blöderweise standen wir mitten auf dem Schulhof. Noch mehr als dämliche Abkürzungen hasste ich dramatische Szenen in aller Öffentlichkeit. Also würgte ich ein erbärmliches „mirdochscheißegal“ hervor, schubste Basti so fest gegen die Brust, wie ich nur konnte und rannte wortlos nach drinnen.

Der Papierkorb im Jungs-Klo bekam dann meine ganze Wut zu spüren. Idiotischerweise war es mir nämlich gar nicht scheißegal, was meine Mutter davon halten würde. Scheiß Papierkorb. Kein winziges bisschen scheißegal, denn es war verdammt nochmal meine einzige sinnvolle Aufgabe auf diesem Planeten, ihr keinen Kummer zu bereiten. Verdammter Scheiß Papierkorb. Und Basti wusste das genau. Er hatte von Anfang an geplant, meine Mutter als Druckmittel einzusetzen. Verblödeter, dämlicher Blech-Papierkorb-Arsch.

„Sag mal, geht’s noch?“ Die Tür ging auf und Katrin Morgentaler stand vor mir. Ich starrte sie an, als spräche sie Suaheli. Sie starrte mich an, als sei ich bescheuert. Für eine solche Situation hatte ich eigentlich, gemeinsam mit Basti, eine ganze Liste cooler Sprüche vorbereitet - von Immer locker bleiben, Schätzchen bis Es ist nicht das, wonach es aussieht. Stattdessen nuschelte ich: „Das ist das Jungs-Klo“ und stürmte an ihr vorbei.

Zwei Sommer

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