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Der Regen bleibt

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Das neue Schuljahr begann mit viel Routine, aber auch einigen Neuerungen. Trotz meines milde vorgetragenen Protests besuchte ich immer noch die Lateinklasse, um irgendwann das große Latinum zu erreichen. Latein war eines der Themen, über das meine Mutter nicht mit sich reden ließ. All meine Hoffnungen ruhten auf Basti und den Reclam-Übersetzungen, die wir bei Klassenarbeiten auf dem Klo deponierten.

Chemie hatte ich abwählen dürfen. Immerhin. In Physik hatten wir weiterhin Herrn Böttcher, so dass ich mit einer sicheren Drei am Jahresende rechnen konnte. Mathe war kritisch wie immer, aber mit ein bisschen Fleiß würde ich schon durchkommen.

Frauen hingegen waren das Thema, das mir wirklich Sorgen machte. Katrin Morgentaler war tief gebräunt aus ihrem Urlaub zurückgekommen. Trotz der brutalen Wochen der Distanz, wie sie erzählte, war sie immer noch mit Ben zusammen und dieses Jahr endlich zur Schülersprecherin gewählt worden. Den Schwimmunterricht hatte sie wieder aufgegeben. Er ließ sich wohl doch nicht so günstig mit Volleyball verbinden. Da wir auch nicht mehr im Keller zusammen hockten, sahen wir uns kaum noch, aber waren immer noch befreundet. Sie winkte mir im Schulflur zu und ich nickte mit einem Lächeln zurück. Ich war nicht mehr in sie verknallt und unsicher, ob ich es jemals wirklich gewesen war. Nach wie vor turnte sie mit und ohne Bikini durch meine Träume und machte dort ziemlich spannende Sachen mit mir. Das schon. Aber die Realität war nun mal die Realität.

Wenigstens hatte sich mein Körper endgültig für die Idee des Wachsens begeistern lassen. Badehosen, Turnschuhe und alles was sonst noch unbedingt nötig war, wurden durch größere ersetzt. Leider standen Shirts und Pullover nicht auf der Prioritätenliste meiner Mutter ganz oben, so dass ich oft wie ein Clown durch die Gegend lief, bis Basti mir aushalf. Im Sportunterricht standen mittlerweile eine ganze Reihe von Jungs zwischen mir und Rainer Seelemann, dessen Wachstumsprozess offenbar bei 1,70m sein Ende gefunden hatte. Dazu gab es kein einziges Mädchen mehr, das größer war als ich. Tanja Hofmann war vielleicht genau so groß. Aber ich wirkte um einiges größer als sie. Wenn ich mich selbst irgendwo in einer Scheibe sah, erschrak ich jedes Mal. Ich sah tatsächlich aus wie sechzehn. Wie ein ganz normaler Teenager. Das Tolle daran war: alle um mich herum schienen das auch zu sehen. Die Mädchen ließen bei der Begrüßung ein kleines Lächeln aufblitzen und manche der coolen Jungs klatschten mich sogar ab. Das Blöde daran war: ich nahm mir die Rolle selbst nicht ab. Ich war unsicher, wie ich mit wem sprechen sollte und vor allem worüber. Ich fragte mich andauernd, was die anderen über mich dachten. Und ich war vollkommen planlos, wie ich ein Mädchen dazu bringen konnte, mich endlich von meiner schmerzhaften Unberührtheit zu erlösen. Da ich keine Strategie hatte, unternahm ich in dieser Hinsicht einfach gar nichts, hoffte auf ein Zeichen des Himmels oder die Hilfe von Basti.

Wie Basti es vorhergesehen hatte, war Herr Böttcher begeistert von unserer JuFo-Arbeit. Oder besser gesagt von Bastis Arbeit.

„Damit haben wir reelle Chancen auf den Landeswettbewerb, vielleicht sogar auf den Bundeswettbewerb. Dieser Bezug zu den Flussbegradigungen ist geradezu genial. Überall Hochwasser - da kommt so eine Arbeit genau zur richtigen Stunde.“

Böttcher war in der Pause auf dem Schulhof auf Basti und mich zugestürmt. Wir standen in Sichtweite der Raucherecke und von dort drehten sich einige Köpfe in unsere Richtung. Böttcher schrie fast vor Begeisterung.

„Ha. Und das Bundesfinale ist dieses Jahr auch noch in Köln. In Köln. Direkt am Rhein.“

Basti beugte sich verschwörerisch nach vorne und lotste Herrn Böttcher in Richtung Hauptgebäude.

„Wissen Sie, Herr Böttcher. Wir hatten da noch so eine Idee.“

Während wir uns von den grinsenden Oberstufenschülern entfernten, schlug Basti vor, wir könnten doch noch einen zweiten Versuchsaufbau starten. Statt Brett würden wir diesmal eine Art Sandkasten bauen.

„Den könnten wir mit Erdreich füllen, wie bei einem echten Flussbett. Und dann machen wir noch eine Testreihe.“

Böttcher dachte nach.

„Das ist ein wenig aufwändig, aber gut. Und für den Wettbewerb wäre es sehr anschaulich. Sehr gut. Das machen wir. Prima, Sebastian. Prima, Peter.“

Anerkennend klopfte er uns auf die Schultern und hätten wir nicht auf dem Schulhof gestanden, wäre er uns vermutlich um den Hals gefallen.

„Wahnsinn, was wir so für Ideen haben“, sagte ich zu Basti, als wir eine Woche später neben dem neu gebauten Sandkasten standen. Basti hatte für unsere Forschungsarbeit schnell eine Seite eingefügt, dafür bei den Grafiken wieder gekürzt und schon hatte unsere Arbeit einen handfesten Bezug, zur Hochwasserproblematik, die seit vergangenem Frühjahr das ganze Land beschäftigte.

„Du hast es gehört“, grinste Basti. „Wir sind echte Genies. Der Wettbewerb kann kommen.“

Der Regionalwettbewerb Junge Forscher fand im Casino genannten Speisesaal des lokalen Opel-Werkes statt. Mit Stellwänden und Tischen waren in dem riesigen Raum sieben Gänge geschaffen worden, in denen nebeneinander die Teilnehmer jedes Wissensgebietes auf den Besuch der Jury warteten. In Biologie, Physik, Mathematik, Chemie und Technik quetschten sich in jeden Gang zwölf Projekte. Bei Arbeitswelt waren zwei Tische frei. In unserem Gebiet Geo-und Raumwissenschaften sah es genau umgekehrt aus. Insgesamt traten nur drei Projekte an. Ein neunzehnjähriger Nerd, der ein eigenes Teleskop gebaut hatte und überall Fotos vom Mond an seinem Stand hängen hatte, ein ebenso altes Geschwisterpaar, das über Fossilien im Hunsrück forschte und wir. Auch wenn es nur zwei Konkurrenten waren - ihre professionell wirkenden Stände, die Fragestellungen, über die ich noch nie nachgedacht hatte und ihr bloßes Alter, machten starken Eindruck auf mich.

„Wir sind die jüngsten“, raunte ich Basti zu, während wir den mitgebrachten Sand eimerweise in unsere Kiste schütteten.

„Ja“, lächelte er. „Sehr gut.“

Auch Herr Böttcher schien allerbester Laune, als er unsere Konkurrenz sah. Fast so, als hätte er alles genau so erwartet. Ich war dennoch nervös. Es war schon peinlich genug, mit einer Streberarbeit in einer Halle voller Streber an seinem Streberstand rumzustehen. Ich wollte nicht auch noch gegen die Streber verlieren.

Als wir aufgebaut hatten, machten wir einen Rundgang durch den Saal. Das machte mich noch nervöser. Überall gut gekleidete junge Menschen mit ebenso gut klingenden Themen: Strom aus Aluminium. Fluoreszierenden Algen. Antibiotika-Resistenzen. Das klang alles viel wichtiger als als Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern.

Mitten im Gewühl entdeckten wir Katrin. Ihr Stand war mit Abstand der schönste von allen. Sie war mit Abstand die Schönste von allen. Sie stand hinter einer ausgestopften Eule und unterhielt sich mit einem jungen Mann im Anzug. Sie wirkte vollkommen ruhig. Nicht anders, als bei uns im Keller. Wir winkten kurz hin und her, dann kehrten Basti und ich zu unserem Stand zurück. Wir waren als erste dran.

Den Vortrag, den wir der Jury lieferten, hatten wir genau abgesprochen. Basti hielt eine kleine Einleitungsrede, in der er alles über Mäander zusammenfasste, was man wissen konnte. Er sprach sogar von ihrem Vorkommen als Muster auf byzantinischen Vasen. Mein Job war es, unseren Versuchsaufbau zu erklären. Das waren alles technische Dinge: wie lang das Brett war, welche Winkel wir einstellen konnten, welchen Wasserdruck und so weiter. Gleich im ersten Satz fiel mir das Wort Mäander nicht mehr ein. Ich stockte, wurde still, meine Schläfen pochten wie wild und schließlich sagte ich. „Bögen“. Es war absurd, dass mir ausgerechnet dieses Wort entfiel. Aber offenbar konnte sich niemand in der Jury ernsthaft vorstellen, dass ich unser Thema vergessen hatte und so erntete ich verständnisvolles Lächeln überall.

Basti übernahm den langen Teil mit den Ergebnissen und Schlussfolgerungen. Danach stellte ich kurz und ohne Zwischenfälle unseren neuen Versuch mit dem Sandkasten vor und Basti referierte abschließend zu Flussbegradigungen und Hochwasser. Nach fünfzehn Minuten von Basti und fünf von mir, waren wir fertig.

Die Juroren lächelten auf ihre Klemmbretter und jeder machte sich schweigend Notizen. In die Stille hinein fixierte mich der Vorsitzende, ein etwa Fünfzigjähriger, der aussah wie Lothar de Maizière und fragte:

„Und warum haben Sie das alles gemacht?“

Ich wurde knallrot.

„Warum?“ wiederholte ich.

De Maizière lächelte aufmunternd.

„Ja. Warum? Was war ihr Antrieb?“

„Na die Wissenschaft voran bringen natürlich“, sprang Basti ein und erntete dafür tatsächlich Lacher der beiden weiblichen Jury-Mitglieder. Aber de Maizière ließ nicht locker.

„Ich meine, wie fing das denn an? Wie haben Sie Ihr Thema gefunden?“

Sein Blick war eindeutig auf mich gerichtet. Er wollte, dass ich antwortete. Auch die Damen blickten jetzt zu mir. Böttcher blickte zu mir. Und selbst Basti schien nicht zu wissen welche Antwort an dieser Stelle erwartet wurde. Also sagte ich: „der Regen.“

De Maizière zog überrascht und ein wenig verwirrt die Augenbrauen hoch.

„Der Regen?“

Ich nickte. „Wir waren auf dem Weg zum Training. Also, zum Schwimmen. Wir gehen in den gleichen Schwimmklub, den KSK. Und es regnete…“

Ich weiß nicht woher die Worte kamen, aber als ich einmal angefangen hatte, erzählte ich der Jury die ganze lange Geschichte, inklusive aller Nebensächlichkeiten und einiger Ausschmückungen. Dass wir im gleichen Haus wohnten zum Beispiel und deswegen immer zusammen mit dem Bus fuhren. Dass wir Musik gehört hätten. Was ja stimmte, auch wenn es nicht unser Walkman war. Dass im Bus eine alte Frau mit Pudel saß. An dieser Stelle hatte ich das Gefühl, Basti wollte mich unterbrechen. Aber ich redete einfach weiter. Wie wir gemeinsam die Tropfen auf der Scheibe beobachtet hätten, obwohl Basti eigentlich die Augen geschlossen hatte. Ich beschrieb in blumigen Worten, wie unsere Neugier erwachte und erklärte unsere Begeisterung für die Tropfen mit unserer Liebe zu Wasser im Allgemeinen, schließlich seien wir Schwimmer. Dazu erfand ich noch eine Großmutter, deren Keller voll gelaufen sei, durch die wir auf das Thema Hochwasser gekommen wären. An diesem Punkt geriet ich ins Stocken, denn mir fiel ein, dass die Jury das möglicherweise überprüfen könnte und ich verstummte. Wieder war es sehr still. Ich sah zu Basti. Sein Mund stand offen und er blickte mich mit einer Mischung aus Schreck und Belustigung an. Ich blickte zu de Maizière. Auch sein Mund stand offen. Ganz langsam jedoch verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Dann lächelten auch die Frauen. Wieder notierten alle irgendwas auf ihren Klemmbrettern und es gab keine weiteren Fragen.

Als wir abends beim Italiener saßen, zu dem Katrins Eltern auch Herrn Böttcher und uns eingeladen hatten, stand ich immer noch voll im Bann der Ereignisse des Tages. Um mich herum prosteten sich alle zu und gratulierten sich gegenseitig. Ich saß nur da und hielt mich an meinem Glas Sekt fest, dass es zur Feier des Tages gab. Ich fühlte mich, als wäre ich nur um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen. Der einzige Überlebende eines Schiffbruchs. Das Gefühl war beängstigend, aber auch gut. Ich war hier. Ich war heil. Wir hatten’s gepackt.

Basti legte zum x-ten Mal den Arm um mich und flüsterte mir zu:

„Wir haben gewonnen, Pete. Gewonnen.“

„Ich weiß“, flüsterte ich zurück.

Basti nahm den Kopf ein wenig zurück und blickte mir forschend ins Gesicht.

„Du siehst aber nicht so aus, als ob du das wüsstest.“

„Es ist nur…“, fing ich an. Dann blickte ich Basti in die Augen und musste unwillkürlich grinsen. „Ich dachte, ich hab’s verkackt, Mann. Ich dachte, mit dieser bescheuerten Geschichte hab ich uns alles versaut.“

Basti strahlte.

„Quatsch, Mann. Die fanden die Geschichte obergut. Die beiden Wasserratten aus dem Hochhaus auf dem Weg durch den Regen. Wegen dieser geilen Geschichte haben wir überhaupt gewonnen. Du hast es nicht verkackt. Du hast es gebracht, Mann.“

„Meinst Du?“, fragte ich und grinste noch mehr.

„Na klar. Das war authentisch. Da gab’s Plattenbau, Musik und sogar ne abgesoffene Omma. Das war the real shit. Auf sowas stehen Akademiker.“

„Ja“, sagte ich. „Das war cool“. Und in dem Moment spürte ich, wie etwas von mir abfiel. Druck oder Stress oder was-weiß-ich. Ich fühlte mich leichter und größer und stärker und schaffte es endlich, mich einfach nur zu freuen. Freuen über unseren Sieg. Freuen über die Anerkennung. Freuen über meine verrückte Geschichte.

„Und beim Landeswettbewerb erzählst du die Story gleich nochmal“, lachte Basti.

„Aber nicht, das mit der Oma?“, fragte ich erschrocken.

„Unbedingt das mit der Oma. Diesmal kriegt sie noch einen lustigen Namen, einen ulkigen Hut und ein chronisches Rückenleiden dazu. Und aus dem Regen machen wir ein Gewitter.“

„Nein“, lachte ich. „Finger weg vom Regen. Der Regen bleibt.“

Zwei Sommer

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