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St. Peter-Ording, Dienstag, 3. August 2010
ОглавлениеNachdem Sie in unserer Sitzung am Vormittag auf so viele Details meines Berichtes eingegangen sind, möchte ich gerne zugeben, dass ich vielleicht an manchen Stellen ein bisschen was hinzugedichtet habe. Also nicht wirklich erfunden oder so. Aber ob ich jeden Satz genau so gesagt habe oder ob Katrin Morgentaler vielleicht etwas mehr nach Pfirsich gerochen hat, als nach Aprikose, das weiß ich nicht mehr genau.
Aber ich weiß, dass Sie Ihren Job gut machen, Frau Doktor. Ich will mich nicht einschmeicheln. Es ist mehr weil - Sie haben sich überhaupt nicht in die Karten gucken lassen. Das finde ich gut. Ich kann wirklich nicht sagen, ob Ihnen jetzt gefällt, was Sie da gelesen haben oder nicht. Ob es uns vorwärts bringt oder nicht. Ob ich so weiter machen soll oder nicht. Sie lassen das erstmal so stehen. Wertfrei. Das ist professionell.
Aber meine Mutter. Das hat Sie interessiert. Das habe ich dann doch bemerkt. Ob ich mich ihr damals nah gefühlt habe? Ob ich mich ihr jetzt nah fühle? Was sie mir bedeute? Das haben Sie gefragt. Darüber wollen Sie mehr wissen.
Aber ich fand das jetzt nicht aufdringlich. Sie haben ganz selbstverständlich gefragt. Ganz natürlich. Und es war OK, dass ich nicht geantwortet habe. Sie lassen mich machen. Ich hab keine Ahnung, ob Sie das aus einem Lehrbuch haben oder so. Aber für mich ist das gut.
Natürlich wollen Sie mehr darüber wissen, wie ich hierher gekommen bin. Das ist mir klar. Warum Maja mich als vermisst gemeldet hat. Also… meine Freundin. Das wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, bis Sie es gestern erwähnt haben. Aber natürlich, wenn einer einfach so verschwindet. Obwohl ich ihr ja diese Nachricht geschrieben habe, dass alles in Ordnung sei. Aber vielleicht hat sie das nur noch mehr verwirrt. Bitte erzählen Sie ihr irgendetwas Tröstliches. Irgendeine Diagnose. Sie kann das alles gar nicht verstehen. Aber ich kann ihr das auch nicht erklären. Also nicht jetzt. Wobei ich eigentlich dachte, Maja hätte etwas gemerkt. An dem Abend als ich den Brief bekommen habe. Und sie uns im Treppenhaus getroffen hatte. Mich und den Hasen.
Am 30. Juni kam ich ziemlich spät nach Hause. Ich war gegen 7:30 Uhr zur Arbeit gefahren, hatte die erste Hälfte des Tages lesend, die zweite schreibend verbracht und die Kanzlei um 19 Uhr verlassen. Um 19:30 stand ein Abendessen mit Dr. Lang und seiner Frau an. Maja hatte keine Lust auf ein „getarntes Arbeitsessen, bei dem ich Beate unterhalten soll“ und mir schon Wochen zuvor abgesagt. Meinem Chef erzählte ich erst am Abend etwas von plötzlichem Unwohlsein. Er war ganz offensichtlich enttäuscht, fügte sich aber mit einem kraftlosen Kopfnicken und einem Seitenblick auf seine Frau in sein Schicksal.
„Die Gesundheit ist das allerwichtigste“, flötete Beate Lang übertrieben heiter über den Tisch. „Gerade in Majas Alter ist es für eine Frau besonders wichtig, auf die Zeichen des Körpers zu achten. Wer weiß, was er euch sagen will… euch beiden.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. Gut, dass Maja nicht mitgekommen war.
Dr. Lang blickte entrückt in Richtung Tür, hob entschuldigend die Schultern und während er im Verlauf der Konversation auf seinem Stuhl langsam immer kleiner wurde, wuchs seine Frau stetig in Richtung Zimmerdecke.
Am Ende gehörte ihr der ganze Abend. In Ermangelung eines anderen Ansprechpartners erzählte sie mir alles über die Erfüllung, die ihr die Mutterrolle gebracht hatte, wie schwer - aber auch lehrreich - es gewesen sei „loszulassen“ und wie sehr sie sich wünsche, möglichst bald Großmutter zu werden. Je mehr Wein sie trank, desto lauter wurde sie und weil ich aus vergangenen Treffen wusste, dass das für alle Anwesenden unangenehm enden könnte, bemühte ich mich, sie mit gezielten kleinen Fragen zum Weiterreden zu bringen, wann immer sie zum Glas greifen wollte. Dr. Lang unterstützte mich, indem er einen großen Teil des für Beate so gefährlichen Rebensaftes während ihrer Monologe, mit bewundernswerter Opferbereitschaft höchstselbst vernichtete. Wie immer arbeitete er konzentriert, effektiv und gründlich. Den ganzen Abend hindurch sprach er nicht mehr als drei oder vier Sätze. Als mich die beiden zum Abschied übermütig an die jeweilige Brust zogen, fühlte er sich deutlich wackliger an als sie. Sein Blick war trüb. Es fiel ihm schwer mir in die Augen zu sehen. Doch das Lächeln um seine Mundwinkel bedeutete mir, dass er zufrieden mit uns beiden war. Ich hatte mir brav alles über Stoffwindeln, Milchstau und Homöopathie angehört, er hatte seine Niere gründlich durchspült und niemand war unter Heulkrämpfen in den Ficus gestürzt oder rückwärts im Springbrunnen gelandet.
Ich kam in einer eigenartig melancholischen Stimmung zu Hause an. Möglich, dass auch ich mehr getrunken hatte, als mir gut tat, aber es lag auch an Beates Auftritt. Sicher - Beate war schräg und exzentrisch. Beate war alt und frustriert. Beate war dekadent und unverschämt reich. Aber sie tat mir leid. Ihre Trauer über die verlorene Mutterrolle war echt und berührte mich. Ihre Kinder waren weg und Beate hatte ihre Lebensaufgabe verloren. Und nach zwanzig Jahren zu Hause, hatte sie keine Idee, was als nächstes kommen könnte.
Natürlich musste ich dabei an Maja denken. Maja tat mir auch leid. Sie hatte zwar unbestritten sehr viele Ideen, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte, aber mehr als alles andere, sehnte sie sich nach dem, was Beate verloren hatte. Sie wollte ein Kind.
Nur ich wollte nicht. Ich kann nicht so genau benennen warum. Natürlich werden Sie als Fachfrau meine Vaterlosigkeit als Erklärung anführen. Tun Sie das ruhig. Ich glaube, das ist es nicht. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann eher den, dass beides keine übermäßig große Rolle für mich gespielt hat. Ich hatte keinen Vater. Ich hatte kein Kind. Ich will gar nicht sagen, dass mir ein Vater nie gefehlt hätte. Aber eine Tochter oder ein Sohn haben mir bisher tatsächlich nie gefehlt. Ich glaube, man kann ein fehlendes Elternteil nicht durch ein Kind ersetzen.
Aber es gab noch etwas, was zwischen mir und einem Kind stand. Also, einem Kind mit Maja. Ich wollte mir das nie eingestehen, weil es so lächerlich klang. Aber ich hatte eben dieses starke Gefühl, dass ich vorher noch etwas erledigen musste. Ich musste mir Gewissheit verschaffen. Über mich. Über den Sommer 95. Ich musste hierher kommen. Auf die Bank. Auf den Deich. Wo sie mich gefunden haben. Und an dem Abend, am 30. Juni, wurde mir das endlich klar.
Ich betrat also spätabends unser Treppenhaus, holte die Post aus dem Briefkasten und begann meinen Aufstieg ins Dachgeschoss. Zwischen Werbeprospekten und offiziell aussehenden Schreiben fiel mir ein handgeschriebener Brief auf. Ein schmuckloser weißer Umschlag ohne Absender. Adressiert war er an mich. Im Innern befand sich ein sauber gefalteter Zettel. Ich faltete ihn auf und las die kurze Nachricht, die aus einem Datum und einem Imperativ bestand: „28. 7. 2010 - Komm!“.
Während ich das Treppenhaus hinaufstolperte, drehte ich das Blatt drei oder viermal hin und her, aber das war alles. Also - nicht, dass mir diese Nachricht nicht ausgereicht hätte. Ich verstand sehr gut. Aber wer von den beiden hatte den Brief geschickt? Liv? Oder Paco? Und warum anonym?
Ich wollte mir den Umschlag gerade genauer ansehen, da öffnete sich zu meiner Rechten eine Wohnungstür. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich erschrak. Einen kurzen, unheimlichen Moment lang schien es mir, als wären alle Geräusche im Treppenhaus mit einem Schlag verschwunden. Die Türöffnung wurde immer größer und wie in Zeitlupe trat ein Schatten auf die Schwelle. Dann kehrte der Sound zurück, das Tempo zog an und mit einem großen Satz landete der Hase direkt vor mir auf beiden Füßen, rollte sich über die linke Schulter ab und setzte sich auf die Stufen nach oben. Sein Oberkörper pendelte von links nach rechts, er blickte mir direkt in die Augen und ich sah, dass er am Rande einer Panik stand.
„Peter!“, rief er. „Bist du Peter??“
Ich war so erschrocken, dass ich nichts anderes sagen konnte als „Ja.“ Er starrte mich an. Ich starrte ihn an. Er schien nicht wirklich zu begreifen. Also beugte ich mich zu ihm runter und sagte so sanft wie möglich: „Peter. Ich bin Peter.“
Das funktionierte. Die Gesichtszüge des Hasen entspannten sich. Er lächelte. Ich lächelte. Dann sprang er mit einem Satz auf die Beine und nahm mich in den Arm.
„Peter“, flüsterte er kaum hörbar in mein Ohr. Und dann noch einmal wie zu sich selbst „Peter“. Dann bückte er sich urplötzlich und hob die Nachricht auf, die aus dem Umschlag gefallen sein musste. Mit einem kleinen Sprung war er zurück in seinem Türrahmen und hielt mir den Zettel hin. Als hätte er ihn gelesen sagte er nur: „Komm.“
In seiner Küche versuchte mir der Hase in seiner üblichen pendelnden Sitzhaltung zu erklären, was geschehen war. Er mache seit einigen Monaten eine Therapie. „Doktor ist nicht zufrieden“, erklärte er. „Doktor sagt, muss ich loslassen im Kopf. Aber ich verstehe nicht. Wie kannst du lassen, was ist in dir drin? Wenn du lässt, ist immer noch in dir drin, oder?“
Er blickte mir forschend ins Gesicht und so nickte ich zustimmend. Der Hase lächelte. „Ich wusste, du verstehst, Peter.“
Heute Abend hatte der Hase auf Anweisung seines Arztes versucht, vor dem Schlafengehen eine Stunde lang still im Sessel zu sitzen.
„Hab ich probiert, Peter, wirklich. Hab ich gesessen wie Stein für dreißig Minuten. Nicht gedacht. Nicht gefühlt. Hab ich losgelassen. Aber dann hab ich gehört. Da waren die Schritte. Im Treppenhaus. So spät. Hab ich gedacht - ist vielleicht Peter. Aber hab ich nicht gefühlt. Was, wenn ist nicht Peter? Wenn ist jemand Übles? Wenn ausgerechnet jetzt kommt zu mir und ich bin Stein und bin nicht Hase. Verstehst du? Bin ich gesprungen. Zuerst in Ecke. Dann Wohnzimmer. Dann Treppenhaus. Konnte ich nicht loslassen.“ Er blickte mich durchdringend an. Dann schlich sich ein Lächeln in seine Mundwinkel. „Aber bist du wirklich Peter.“ Er grinste.
Ohne weitere Worte sprang er auf, hüpfte den Flur entlang und öffnete die Wohnungstür. Er hatte gesagt, was er sagen wollte und ich war froh, ins Bett zu kommen. Bevor ich ging hielt ich ihn an der Schulter fest.
„Alles in Ordnung?“
Er lächelte breit.
„Alles in Ordnung Peter. Doktor versteht nicht. Was ist in deinem Kopf, ist in deinem Kopf.“
Wieder blickte er mir genau in die Augen und ich hatte das Gefühl, als spräche er gar nicht über sich, sondern von mir. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken tippte er auf den Brief, den ich vor meiner Brust hielt und sagte.
„Du kannst nicht loslassen, was ist in deinem Kopf. Du bist Peter. Wenn du gehen musst, du musst gehen.“
Verwirrt trat ich ins Treppenhaus und sagte: „Ja. Vielleicht muss ich das wirklich.“ Aber er hatte die Tür schon zugeklappt. Eine halbe Treppe tiefer blickte jemand zu mir hinauf. Es war Maja, die gerade erst nach Hause kam.
„Was musst du?“
„Gehen“, sagte ich ganz automatisch.
„Gehen? Wohin denn?“
„Ich…“, fing ich an, aber mir fiel nicht ein, wie es weitergehen sollte. Ich schüttelte mich kurz und fand meine Fassung wieder.
„Nichts. Er hatte Panik, als er mich im Treppenhaus gehört hat. Aber jetzt ist alles wieder gut. Und jetzt muss ich eben gehen.“
Ich lächelte und verdrehte die Augen, um zu unterstreichen, wie absurd die ganze Situation war. Aber Maja lächelte nicht. Und genau in dem Moment hatte ich den Eindruck, sie wüsste ganz genau wohin ich gehen musste.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, haben Sie wohl recht - woher hätte sie das wissen sollen? Ich glaube, es wäre wirklich gut, wenn Maja irgendwann die ganze Geschichte erfährt. Ich weiß nur nicht, ob ich ihr das alles erzählen kann. Aber vielleicht machen Sie das? Sie könnten ihr einfach meine Akte zeigen. Den ganzen Text. Diese Zeilen. Irgendwann. Wenn alles wieder seinen Gang geht.
Welchen Gang alles wieder gehen soll, weiß ich noch nicht. Aber ich tue was ich kann, um das herauszukriegen. Das Schreiben ist mir dabei momentan das Wichtigste. Ich könnte auch damit aufhören und mit Ihnen über alles reden - auch wenn diese Liege in Ihrem Zimmer sehr viel weniger einladend wirkt als die Sofas, die man im Fernsehen bei Therapeuten sieht. Aber das ist nicht dasselbe. Ich kann sprechen, aber ich will es nicht. Noch nicht. Ich fürchte, dann alles auf einmal erklären zu wollen. Dabei habe ich es selbst noch nicht verstanden.
Ich denke, es liegt auch an diesem Zimmer. An der Aussicht. Wenn ich hier sitze, an dem kleinen Tisch vor dem Fenster, dann spüre ich Ruhe in mir. Eine Ruhe, die mir in meinem Alltag abhandengekommen ist. Niemand kommt rein. Niemand will etwas von mir. Dazu liegt mein Schweigen wie eine Schutzglocke über diesen Raum. Ich habe Zeit nachzudenken und auszuwählen, was ich Ihnen erzähle und wie ich es erzähle.