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Wendung

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Das Problem mit mir war: ich war verdammt schlecht im Streiten. Wirklich schlecht. Meist kam es überhaupt nicht dazu, dass ich mit irgendjemandem in Konflikt geriet. Aber wenn doch, war ich drüber so erschrocken, dass ich alles dafür tat, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten. Der Anlass war mir egal. Der Schuldige war mir egal. Ich wollte Frieden. Wenn meine Mutter mich als fernsehsüchtig beschimpfte, wenn Sie nach 19 Uhr nach Hause kam und bemerkte, dass der Fernseher noch warm war, schrie ich ihr nicht etwa entgegen, ich hätte nur MTV Europe im Hintergrund laufen lassen, weil es in diesem Irrenhaus nicht mal ein Radio gäbe. Und dabei hatte ich immerhin eine Stunde lang Wäsche zusammen gelegt. Stattdessen sagte ich einfach tut mir leid und verschwand in meinem Zimmer. Wenn sie mich einmal in drei Monaten von einem Schwimmwettkampf abholen sollte, eine ganze Stunde zu spät kam und sich kaum war die Autotür geöffnet, wortreich entschuldigte, war ich schon nicht mehr sauer, bevor ich auf dem Sitz saß. Natürlich, ich hatte sie mehrfach daran erinnert. Aber dann hatte es beim Friseur eben länger gedauert, sie hatte sich ein wenig verquatscht und dann waren da tatsächlich auch noch andere Autos auf den Straßen.

Im Grunde war mir meistens alles nicht so wichtig. Ich konnte die Beweggründe von anderen besser verstehen, als meine eigenen. Basti wollte mich unbedingt dabei haben. Er wusste, worauf ich anspringen würde. Also hat er das ausgenutzt und es hat funktioniert. Das war zwar berechnend, aber er hatte sich entschuldigt. Und ganz ehrlich - ich hatte eh nix besseres vor.

Eine Woche nach unserem Streit begannen wir mit dem ersten Experiment.

Unser Labor war ein nicht genutzter Klassenraum, dessen hintere Hälfte bis unter die Decke mit alten Holzstühlen vollgestellt war. Der Raum lag im Keller des Altbaus, unterhalb der Straßenebene, so dass kaum Licht durch die Fenster hineindrang. In der Luft hing eine undefinierbare Mischung aus schimmelndem Holz, Rattengift und toter Ratte.

Unsere Experimentierfläche war eine drei Meter lange Pressspanplatte, die Basti mit Bootslack eingepinselt und auf das Holzgerüst eines Liegestuhls geschraubt hatte. Mit Hilfe eines Schlauches am oberen Ende der Platte konnte man Wasser die Ebene runterlaufen lassen, wobei sich Mäander ausbildeten, diese typischen Schleifen.

Unsere Hypothese war: verändern wir Wasserdruck oder Neigungswinkel der Platte, verändern sich auch die Mäander.

Unser Forschungsziel war: Regeln und Gesetze für die Herausbildung der Wasserbögen zu finden.

Unsere Motivation war: in die tieferen Sphären der Wissenschaft vorzudringen und den Rätseln des Kosmos ein weiteres wertvolles Geheimnis abzutrotzen. Zumindest konnte ich genau das in Bastis Gesicht lesen, als er zum ersten Mal den Wasserhahn öffnete und zusah, wie sich ein winziges Rinnsal Wasser über unsere Platte wand, um leise strullernd in die Auffangwanne zu laufen.

Meine ganz eigene Motivation war es, Basti zu unterstützen, meine Mutter zufriedenzustellen und auf irgendeine überraschende Wendung dieser Forschungsgeschichte zu hoffen. Bisher erschien mir nämlich alles genau so, wie ich es erwartet hatte: aufgeblasen, mühselig und unendlich langweilig.

Unsere gesamte Arbeit bestand darin, Neigungswinkel und Druck einzustellen, die ganze Apparatur vier Stunden lang laufen zu lassen und in Intervallen von dreißig Minuten zu zählen, wie viele Schleifen sich ausgebildet hatten, zu messen wie breit ihre Ausdehnung war und alles sorgfältig zu notieren und zu fotografieren. Jede Messung dauerte weniger als eine Minute, so dass uns am Vormittag im Namen der Forschung erlaubt wurde kurz den Unterricht zu verlassen, um im Keller Notizen zu machen.

An den Tagen, an denen ich dafür eingeteilt war, hielt ich mich streng an den Plan, vergaß nie auch nur eine Messung und dokumentierte gewissenhaft jede kleinste Veränderung. Allein - ich verstand immer noch nicht, warum wir das alles taten. Zugegeben, den Unterricht einfach so verlassen zu dürfen, fand ich gut. Die Kehrseite davon war: die ganze Klasse wusste, warum einer von uns immer mal wieder kommentarlos den Saal verließ. Und nicht nur die Klasse. Die ganze Schule wusste es. Basti und Peter aus der 10b, der Große und der Kleine, dieses ohnehin schon merkwürdige Pärchen, waren freiwillig und anscheinend mit Begeisterung in die JuFo-Welt übergetreten. Und während Basti von unserer wachsenden Berühmtheit wenig bis nichts mitzukriegen schien, hörte ich auf den Gängen immer öfter Getuschel oder spürte spöttische Blicke in der Pause.

Trotz all dieser negativen Vorzeichen klopfte dann aber tatsächlich die überraschende Wendung an unsere Tür. Es war Montag in unserer zweiten Forschungswoche. Ich war gerade dabei, das Schachbrett aufzubauen, mit dem Basti und ich uns am Nachmittag die Wartezeit vertrieben, als die Tür aufging und Herr Böttcher mit der Wendung mitten in unser Laboratorium gelaufen kam. „Jungs, ich bringe euch heute eine Kollegin. Wir brauchen einen Raum, in dem wir einen kleinen Windkanal aufbauen können. Und ich denke, hier ist genug Platz für zwei Forschungsprojekte. Wir müssen nur schnell die Stühle auf den Hof räumen. Herr Schneider lässt sie morgen abholen.“ Er hielt kurz inne, als er unsere ungläubigen Gesichter sah. Dann wandte er sich um. „Ihr kennt doch Katrin aus der 10a, oder?“

„Klar“, antworte Basti für uns beide. Dabei grinste er mich dermaßen auffällig an, dass ich verzweifelt wünschte, statt einer nutzlosen Liste mit coolen Sprüchen, lieber eine Tarnkappe zu besitzen.

Die Begrüßung hatte ich verpatzt und danach wollte mir kein einziger brauchbarer Satz einfallen. Also schnappte ich mir wortlos die ersten beiden Stühle und fing an, sie auf den Hof zu schleppen. So konnte ich in Ruhe darüber nachdenken, was hier gerade geschah. Katrin Morgentaler sollte sich mit uns ein Labor teilen. Katrin Morgentaler war tatsächlich auch Teil der JuFo-Welt. Aber wieso? Oder besser: womit hatte ich das verdient? Katrin war das beliebteste Mädchen der ganzen Klassenstufe. Sie stand in allen Fächern auf Eins, war Klassensprecherin, Mittelstufensprecherin und Kapitänin der Volleyball-Schulmannschaft. Dazu sah sie aus wie ein Fotomodel. Lange braune Haare, riesige Rehaugen und über ihren Po oder ihre Brüste nachzudenken, geschweige denn sie in halbwegs verständlichen Worten zu beschreiben, wäre mir nur nach monatelanger Meditation in einem tibetanischen Mönchskloster möglich gewesen. Katrin Morgentaler war fester Bestandteil meiner erotischen Tag- und Nachtträume. Aber bis auf unsere Begegnung auf der Toilette hatte ich nie auch nur ein direktes Wort mit ihr gesprochen. Ich lächelte beim Stühle schleppen vor mich hin. Das würde sich jetzt ändern.

Durch Katrins Ankunft bekam der Mikrokosmos unseres Labors eine Ordnung. Bisher hatten wir zwar pflichtbewusst unsere Messungen gemacht, aber unser ganzes Dasein war mir vollkommen sinnlos erschienen. Wir waren ziellos im Raum umhergewabert - jetzt hatten wir unsere eigene kleine Sonne, um die wir kreisen konnten. Vielleicht kreiste Basti etwas aktiver und ich war eine Art Trabant, ein Mond, der an Basti dranhing. Aber auch ich bekam meine Portion Sonnenlicht ab und alles war gut. Bisher hatte ich an diesem JuFo-Projekt teilgenommen, weil meine Mutter und Basti es wollten. Jetzt wollte ich es selbst. Nicht wegen der Wassertropfen auf dieser schiefen Ebene, die wenig mit meiner Busscheibe zu tun hatte. Wegen Katrin. Die echte Welt machte endlich den ersten Schritt auf mein Fantasie-Universum zu und ich war mehr als gespannt, wie weit die beiden sich annähern würden.

Wir räumten für Katrin die hintere Saalhälfte frei, bewiesen unsere Tapferkeit an einem halb skelettierten Nagetier und schleppten für sie ein riesiges Windrad aus der Physiksammlung in den Keller. Als Lohn dafür durften wir von nun an regelmäßig ein paar Stunden mit Katrin verbringen.

Am zweiten Tag schaffte dann auch ich es, eine Art Konversation mit ihr zu führen. Basti ließ sich gerade den Windkanal erklären, als sie darüber klagte, die Lichtverhältnisse im Keller seien wirklich schlecht.

„Sind doch Nachtvögel“, sprach ich in den leeren Raum vor meinem Mund. Ich rechnete nicht mit einer Reaktion, aber die beiden drehten sich abrupt zu mir um. Basti hatte direkt wieder sein Grinsen angeknipst.

„Was?“

Katrin bedachte mich mit einem ausdruckslosen Blick, so als gälte es ein weiteres Versuchsobjekt zu beobachten.

„Na, Eulen. Eulen sind Nachtvögel. Für die ist es gut, dass es hier dunkel ist.“

„Aber ich will doch keine echten Eulen hier runter bringen.“

Ich versuchte ein Lächeln, das mir allerdings hoffnungslos über die Unterlippe entglitt.

„Ich weiß“, stammelte ich.

„Das war ein Scherz!“, sprang Basti mir bei. „Pete macht ständig solche Sprüche. Er ist wirklich witzig.“

Ich rückte meine Unterlippe zurecht und dachte sehnsüchtig an die Tarnkappe. Katrin betrachtete mich einen Moment lang still, ohne dass irgendetwas ihre Gedanken verriet. Zu meiner Verblüffung öffnete sie dann ihren Mund und schenkte mir ein großes, weißes Lächeln.

Zwei Sommer

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