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Neues Land

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Im Frühjahr 1995 war ich siebzehn Jahre alt, hatte die gleichen Schulprobleme wie im Jahr zuvor und nach wie vor keine Ahnung, wie ich meine quälende Jungfräulichkeit loswerden könnte. Ich war immer noch nicht besonders groß, nicht besonders gut aussehend, nicht besonders schlau und gelangte dennoch mehr und mehr zu der Überzeugung, das Universum könnte vielleicht am Ende doch irgendetwas Gutes mit mir vorhaben.

Neben der Tatsache, dass ich tatsächlich gewachsen war, fühlte ich mich auch größer als im Vorjahr. Ich drückte meine Brust raus beim Laufen und hob meinen Kopf. Die zahllosen Pickel, die mittlerweile auf meiner Stirn und an den Wangen heimisch geworden waren, trug ich mit Stolz, als Zeichen meiner unaufhaltsamen Mannwerdung. Bartstoppeln als Zeichen wären mir lieber gewesen, aber das konnte ja noch kommen. Wie ich mittlerweile wusste, war mein Vater 1,88m groß gewesen. Diese Marke setzte ich mir als Ziel und hoffte insgeheim, sie noch zu übertreffen.

Ein Grund für meine gestiegene Zuversicht lag tatsächlich in der verachtenswerten Streberveranstaltung. Der JuFo-Wettbewerb hatte mir einen Schub gegeben. Oder besser: die Wettbewerbe. Kurz vor Weihnachten hatten wir nämlich am Landesentscheid teilgenommen und trotz der diesmal deutlich größeren Konkurrenz wieder gewonnen. Diesen Sieg konnte ich noch weniger fassen, als den vorherigen. Nicht, dass es für unseren Erfolg keine nachvollziehbaren Gründe gegeben hätte. Durch den Sandkasten lieferten wir einen Beitrag zur aktuellen Hochwasserproblematik, wir hatten tatsächlich ein paar Zusammenhänge zwischen Gefälle, Wasserdruck und Ausbildung der Mäander beweisen können und unsere Arbeit war formal einwandfrei. Was mich verblüffte war: der Grund für unseren Erfolg lag nicht in unserer Forschung, sondern ganz offensichtlich in unserer Show. Und damit zu einem Großteil in meinem Auftritt als niedlich-naiv plapperndes Vorstadt-Kid. Das war es, was die Jury für uns einnahm.

Wie Basti es vorgeschlagen hatte, war die Geschichte noch lebendiger geworden. Die Oma hieß jetzt Hedwig, ein Name, der uns zwar alt, aber nicht so klischeebelastet erschien. Sie hatte seit Wochen ihr Leibgericht, Reibekuchen, nicht mehr essen können, da ihr Kartoffelkeller, der den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, den Fluten unseres Kleinstadtflüsschens zum Opfer gefallen war. Und ihre niedlichen Enkel grübelten bei einer Busfahrt darüber nach, wie sie das Problem ihrer Oma für künftige Generationen lösen könnten. Das mit dem Zweiten Weltkrieg enttarnte ich als scherzhafte Übertreibung und die Jury lachte. Im Gegenzug nahmen sie mir den Rest der Story gerne ab.

Unsere Geschichte wog schwerer als all die Fakten, die unsere Konkurrenten in sachlichen Vorträgen vor der Jury aufstapelten. Die Leichtgläubigkeit der Erwachsenen und ihr offensichtliches Bedürfnis, eine schöne Geschichte erzählt zu bekommen, verblüfften und erfreuten mich. Genauso, wie meine Rolle dabei.

Die Kombination aus geschickt gewähltem Thema, grundsolider Empirie und unserer Performance brachte uns schließlich nach Köln zum Bundeswettbewerb der Jungen Forscher. Auch hier schien unser Zauber zu wirken und wir landeten auf einem, nicht mal von Herrn Böttcher erwarteten, fünften Platz.

Auf dem Foto mit allen Preisträgern, das meine Mutter aus dem Lokalteil der Zeitung ausgeschnitten hatte, lächeln wir ungläubig neben jungen Genies, die komplizierte Geräte wie Gezeitengravimeter entwickelt hatten oder die Erosionsgefahr im Oberweser Bergland bekämpften. Genau neben mir, im Zentrum des Bildes, steht ein riesiger Mann, der damalige Bundeskanzler, dem ich beim Reden gerade so über die Schulter, oder besser gesagt, am Oberarm vorbei, hatte sehen können. Ich erinnere mich, dass er frei formulierte und unterstützt von kleinen Stichpunktzetteln durch einen Text navigierte, der von muffigen Schulräumen zu den Laboren künftiger Einsteins führte. Nach ungefähr zehn Minuten hielt er plötzlich inne, blickte irritiert in seine Hände und ich konnte erkennen, dass er ganz oben wieder das Kärtchen über die muffigen Klassenräume hielt, das erste seiner Rede. Er ließ die Zettel kurz in seinen teigigen Händen vor- und zurückwandern, ohne neue Informationen zu finden, schob die Karten schließlich zusammen und legte die Hände auf seinem enormen Bauch ab. Ich rechnete mit einem entschuldigenden Satz und erwartete jeden Moment einen unglücksseligen Assistenten auf der Bühne, der mit schuldvollem Stammeln die fehlenden Karteikärtchen brächte, doch nichts dergleichen geschah. Noch bevor die Stille in Raum unbehaglich wurde, setzte der große, dicke Mann sein breitestes Lächeln auf, blickte entspannt in die Kameras und begann von der Küche seiner Mutter zu erzählen. Die Verbindung zu den bisherigen Sätzen seiner Rede zimmerte er hölzern über einen jungen Spenglermeister hin. Mit unglaublichem Erfindergeist habe der aus alten Munitionskisten aus dem Krieg, ein Podest für Herd, Schränke und Arbeitsplatten der Mutter gebastelt, denn diese sei, was niemanden überraschen möge, eine ungewöhnlich große Frau gewesen und habe vom ständigen Gebücke, böse unter Rückenschmerzen gelitten. Das Publikum lachte. In meinen Ohren machte die Geschichte wenig Sinn - was auch immer ein Spengler genau war, mit Holz hatte er meiner Meinung nach wenig zu tun. Und nebenbei löste dieser Typ auch noch die orthopädischen Probleme der Mutter eines künftigen Kanzlers? - aber um mich herum sah ich nichts als glückliche Gesichter. Niemand außer mir schien an der Geschichte irgendetwas unglaubwürdig zu finden. Und wenn doch, so war es allen egal. Das Publikum war einfach dankbar für die persönliche Anekdote. Und als der Kanzler seine Rede mit der absurden Aufforderung beendete, wir alle - und ich glaube er meinte mindestens alle Menschen in Deutschland, wenn nicht sogar der ganzen Welt - sollen sein wie der Spengler, gab es begeisterten Applaus. Nach kurzem Zögern fiel ich selbst mit ein. Nur war ich wohl der einzige im Raum, der nicht der Geschichte selbst applaudierte. Ich honorierte die Improvisationsleistung des Kanzlers und war wieder einmal verblüfft, welch starke Wirkung eine meisterhafte Schauspieleinlage erzielen konnte.

Nach und nach gelang es mir, ein wenig von diesem Zauber in meinen Alltag hineinzutragen. Meine Unwissenheit in Latein versteckte ich hinter einer Maske aus gelangweilter Gleichgültigkeit. Dadurch verstand ich zwar nicht eine Silbe mehr von der toten Sprache, doch es führte verblüffenderweise dazu, dass ich weniger oft an die Tafel musste. Meine Angst vor den Schulrowdies überspielte ich mit einem irren Starren, dass ich mit Bastis Hilfe auf der Busfahrt zum Schwimmunterricht einstudiert hatte und sogar meine Schüchternheit in Gegenwart weiblicher Wesen, bekam ich besser in den Griff. Wenn ich nicht wusste was oder wie ich überhaupt etwas sagen sollte, starrte ich einfach angestrengt in die Ferne. Ich hoffte, dadurch nachdenklich oder gedankenverloren zu wirken. Das fand ich besser, als wie ein Volltrottel vor mich hin zu stottern. Von all meinen neuen Methoden funktionierte das zwar noch am schlechtesten und ich musste immer wieder Rückschläge hinnehmen, aber zumindest reichte es aus, um mich mit Simone Arndt fürs Kino zu verabreden.

Ich habe überlegt, ob diese Geschichte für Sie überhaupt interessant ist. Schließlich geht jeder 17-jährige doch irgendwann mal mit irgendeiner Simone ins Kino, ohne dass daraus gleich ein Fall für die Abendnachrichten wird. Objektiv gesehen hatte auch unser Kinobesuch keine erderschütternden Folgen. Es gab keinen Vulkanausbruch, keine Lavaströme. Die Landmassen um mich herum blieben an Ort und Stelle.

Und doch wirkte danach alles verändert. Es war, als hätte ich einen Gipfel erklommen und ein unbekanntes Tal entdeckt, das dahinter lag. Es sah vollkommen anders aus als alles, was ich bisher kannte: schön, wild, fremd und vor allem beängstigend.

Ich habe oft gedacht, wenn ich mich gleich am Anfang ein wenig weiter in dieses Tal hinein getraut hätte, dann wäre die Geschichte mit Liv vielleicht anders gelaufen. Ich hätte es einfach riskieren sollen. Voll reinstürzen. Und wenn ich irgendwo runtergefallen wäre - egal. Aber so bin ich nach wenigen Schritten umgekehrt und habe versucht, vom sicheren Gipfel aus alles zu verstehen. Ich muss zugeben, dass ich jetzt vielleicht wirklich etwas verwirrt klinge. Also der Reihe nach.

Simone Arndt war eine der Fluppen. So nannten wir die etwa zehn bis fünfzehn Mädchen, die in jeder Hofpause hinter der Turnhalle standen und rauchten. Die Besetzung der Gruppe wechselte ständig. Jahr für Jahr dezimierte der Schulabschluss die verrauchten Reihen gnadenlos, aber immer wieder kamen neue storchenbeinige Sechzehnjährige nach, die sich mit feuchten Augen durch die Aufnahmezigarette husteten. Viele von ihnen verschwanden kurz darauf wieder in der formlosen Masse des Schulhofs, andere standen an einem Tag in der Raucherecke am anderen nicht, aber ein kleiner Teil der Mädchen war praktisch immer da. Zu dieser Gruppe gehörte auch Simone Arndt.

Simone war ein Jahr jünger als ich und ich kannte sie schon seit der Grundschule. Wir waren nicht befreundet. Ich wusste eben wer sie war. Ihre ältere Schwester Steffi war in der Grundschule noch ein Jahr über mir und ging mittlerweile in meine Parallelklasse. Die Familie wohnte in der Neubausiedlung direkt hinter unseren Hochhäusern. Wenn man sich auf Bastis Balkon etwas vorreckte, konnte man das Haus gut sehen. Mit dem weinroten Ziegeldach, dem gepflegten Rasen, dem Carport für den Polo von Frau Arndt und der Garage für Herrn Arndts Mercedes, sah das Zuhause der Familie toll aus. Aber anscheinend war es nicht so toll. Simone und Steffi waren eigentlich immer unterwegs. Jede von ihnen hatte eine feste Clique und wenn bei keiner ihrer Freundinnen irgendwas los war, hingen die Schwestern zusammen in der Stadt rum oder fuhren rauchend mit Steffis uraltem, blauen Renault 4CV durch die Gegend. Für Basti war die Familie ein klassischer Fall. „Zu viel Geld - zu wenig Hirn. Die Alten Spießer - die Kinder Hippies.“ Möglich, dass er recht hatte.

Nur dass mit dem Hirn stimmte meiner Meinung nach nicht ganz - zumindest bei Simone. Zum einen las sie Salinger und Kerouac und all diesen Kram und zum anderen - und das war für mich das überzeugendere Argument - trug sie T-Shirts von New Model Army und den Ärzten. Wer die Ärzte hörte, konnte nicht vollständig blöd sein.

Zufälligerweise war es dann auch bei einer echten Intellektuellenversammlung, auf der wir die ersten Worte miteinander wechselten, einem Matchday vom Schachclub meiner Mutter. Als ich kleiner war, hatte sie mich immer zu diesen Spieltagen mitgeschleppt. Zum einen, weil sie nicht wusste, wo sie mich hätte unterbringen sollen. Zum anderen hatte sie wohl die Hoffnung, dadurch ein kleines Genie aus mir zu machen. Ich sah das in ihrer anfänglichen Begeisterung, wenn es mir gelang, einen deutlich älteren Gegner zu schlagen. Vor allem aber bemerkte ich es in der stillen Enttäuschung, wenn ich vollkommen chancenlos unterging. Es schien beim Schach eine Art unsichtbare Grenze für mich zu geben, über die ich niemals hinauskam. Meine Mutter operierte jenseits dieser Grenze. Sie spielte ein ganz anderes Spiel, zu dem ich keinen Zugang fand. Ich verlor immer gegen sie. Und es gehörte zu ihren unumstößlichen Erziehungsprinzipien, mich niemals absichtlich gewinnen zu lassen.

Normalerweise nutzte ich die Stunden, in denen meine Mutter beim Schach war, um mit Basti Musik zu hören oder mal in Ruhe fernzusehen, aber an diesem Tag gab es einen guten Grund, sie zu begleiten. Das Match fand im Gemeindezentrum eines Dorfes statt, in dem es ein Kino gab, das Filme ausschließlich im englischen Original zeigte. Meine Mutter liebte diesen Ort und da ich die Sprache weitaus besser verstand als Latein oder die positionellen Schwächen meiner Bauernstruktur, sahen wir uns manchmal gemeinsam einen Film an.

An diesem Samstag wurde „Stargate“ gespielt, der neue Film von Roland Emmerich. Meine Mutter machte sich nichts aus Science-Fiction, aber sie kannte die Schwester des Regisseurs von früher und sah sich deswegen alle seine Filme an.

Während meine Mutter verbissen damit beschäftigt war, die Tabellenführung der Universitätsmannschaft zu verteidigen, verlor ich zuerst drei Freundschaftspartien gegen einen Zwölfjährigen und dann die Lust am Spielen. Ich gratulierte artig, verließ das Gemeindezentrum und setzte mich auf eine Bank vor dem Haus ohne einen größeren Plan, was ich dort tun sollte. Ich hatte noch keine zwei Sekunden gesessen, da sprach mich jemand von der Seite an.

„Ach nee. Der Boltenhagen. Was machstn du hier? Bist du bei diesem Schachdings?“

Ich blickte auf und vor mir stand Simones Schwester Steffi. Natürlich rauchte sie. Natürlich war sie geschminkt als würde sie gleich auf eine Party gehen und natürlich hatte sie Simone im Schlepptau.

„Schachdings?“ wiederholte ich.

„Na da drin ist doch son Turnier, oder?“

„Ach so, ja.“ Ich spielte den Ahnungslosen. „Die spielen da drin Schach, ja. Aber ich bin ja hier draußen.“

„Stimmt“, grinste Steffi und zog an ihrer Zigarette. „Du bist hier draußen.“

Simone klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte und kam zu uns rüber.

„Und was machst du dann hier?“

„Haste doch gehört.“ Steffi lachte. „Er ist hier draußen. Hat mit dem Schachturnier gar nix zu tun.“

„Wirklich“, beeilte ich mich zu erklären. „Ich… bin nur hier weil…wir gehen ins Kino.“

Steffi lachte laut auf. „Oh Kino. Wie cool. Na dann viel Spaß!“ Sie schnippte ihre Kippe auf den Boden, trat mit der Fußspitze drauf und ging in Richtung Straße davon. Simone blieb vor mir stehen.

„Ist heute wieder diese De Niro-Reihe?“

„Ääh…was?“

„Na die zeigen doch gerade ständig Filme mit Robert De Niro. Hier. Den hab ich letzte Woche gesehen.“

Sie hielt mir ihr Buch hin. Nicholas Pileggi. Der Mob von innen: ein Mafioso packt aus.

Ich blickte sie verständnislos an.

„Kenn ich nicht.“ Um nicht völlig ahnungslos zu wirken, fügte ich hinzu. „Also…ich hab Taxi Driver gesehen und Good Fellas. Aber den kenn ich nicht.“

Simone lächelte. „Das IST Good Fellas. Also die Vorlage. Der Roman.“

„Ach so….das ist… wusste gar nicht, dass es dazu ein Buch gibt. Ich dachte dieser Mafioso hätte wirklich gelebt.“

Wieder lächelte Simone. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirkte sie nicht spöttisch oder feindselig.

„Das stimmt ja auch. Dieser Pileggi hat eben über einen echten Fall geschrieben. Sozusagen als Inspiration.“

„Ach so“, sagte ich. Und diesmal musste ich auch lächeln.

„Und?“ fragte Simone.

„Und was?“

„Na guckst du De Niro?“

„Ach so. Nein. Stargate. Science-Fiction. Da spielt de Niro bestimmt nicht mit.“

„Nein“, grinste Simone. „De Niro hat ein bisschen mehr Klasse. Mit wem gehst du?“

Steffi rief von der anderen Straßenseite rüber. Ich blickte zwischen den Schwestern hin und her.

„Ich glaub Steffi will los“, sagte ich schnell.

„Oh ja. Wir wollen rüber zu den Ammies. So ein Soldat hat Steffi zum Bowling eingeladen. Sie wollte unbedingt, dass ich mitkomme.“

„Oh. Klingt toll.“

Simone rollte mit den Augen.

„Bowling ist absolut bescheuert. Findet Steffi auch. Aber deswegen ist sie ja auch nicht hier, verstehst du?“

Sie zwinkerte. Ich nickte. Steffi rief.

„OK. Ich muss. Wenn du willst kannst du das Buch gerne mal ausleihen. Aber ich sag’s nicht gern: der Film ist besser. Im Buch fehlt De Niro.“

„Klar“, stammelte ich. „Gern.“

Sie streckte mir das Buch hin. „Weißt du was? Nimm’s einfach gleich. Ich bin eh fast durch.“

Ich nahm es, hielt das Buch aber mit ausgestrecktem Arm von mir weg.

„Willst du es nicht erst fertig lesen?“

Aber Simone war schon ein paar Meter weiter gelaufen.

„Ach was. Ich weiß eh wie es ausgeht. Und ohne De Niro macht es keinen richtigen Spaß. Wir sehen uns.“

Sie überquerte die Straße und ging einfach an ihrer Schwester vorbei, die lachend auf sie einredete und ihr dann folgte.

„Cool“, murmelte ich vor mich hin und blickte auf das Cover auf dem sich zwei Hände kreuzten, die beide eine Pistole hielten und je einen imaginären Gegenüber außerhalb des Bildrands bedrohten. „Wir sehen uns.“

Meiner Meinung nach irrte sich Simone. Das Buch war kein Meilenstein der Literaturgeschichte, aber es war gut. Es hatte Spannung, gute Sprüche, coole Gangster und es hatte De Niro. Man konnte ihn nicht sehen oder hören, aber gerade wenn man den Film kannte, war er überall in dem Buch. Es lag völlig auf der Hand, warum der Regisseur ihn für den Film ausgewählt hatte. Und Liotta, mit seinen glasigen Augen. Ich sah sein verlorenes Gesicht beim Lesen bildhaft vor mir. Ich bin ein durchschnittlicher Niemand. Ich werde den Rest meines Lebens wie irgendein Trottel verbringen. Das gefiel mir. Das kannte ich.

Am Montag in der großen Pause stattete ich den Fluppen den ersten Besuch meines Lebens ab. Ich hielt das Buch deutlich sichtbar in der Hand und hob es sogar etwas in die Höhe, als mich die ersten kritischen Blicke der rauchenden Mädchen trafen. Es war mein Kruzifix, meine Eintrittskarte, meine Berechtigung, mich dem Haufen zu nähern.

Als sie mich sah, löste sich Simone sofort aus der Gruppe und kam zwei Schritte auf mich zu.

„Ich bringe das Buch zurück, das ich mir geliehen habe“, sagte ich dabei so laut, dass möglichst viele der Mädels es hören konnten. Tatsächlich schien damit für die anderen alles geklärt. Sie ließen ihre Blicke sinken und konzentrierten sich ganz darauf, weiter ihre Fußspitzen anzustarren und dabei aus den Mundwinkeln Gespräche zu führen. Simone musterte mich mit einem forschenden Blick.

„Bringst du mir echt das Buch schon zurück?“

„Naja. Es gehört doch dir.“

Simone grinste.

„Ja tatsächlich. Es scheint genau das Buch zu sein, was ich dir vorgestern in die Hand gedrückt habe. Aber hast du es auch gelesen?“

„Ach so. Ja. Klar.“

Simone zog die Stirn in Falten.

„Scheint ein langweiliger Sonntag gewesen zu sein.“

Ich spürte die alt bekannte Beklemmung in meinem Hals aufsteigen. Doch statt mich um sie zu kümmern fixierte ich einen Punkt an der Wand der Turnhalle und sagte möglichst unbeteiligt.

„Nein. Gar nicht. Es war cool.“

Simone musterte mich eingehend und um ihren Mund schien etwas von dem spöttischen Grinsen ihrer Schwester zu zucken.

„Ooookayyy“, sagte sie gedehnt. „Und wie war der Film?“

„Der Film? Ach so, der Film. Naja… also es sah schon alles cool aus und so. Aber die Geschichte war Mist. Soldaten und ein Wissenschaftler, die durch ein Steintor auf einen anderen Planeten reisen, um dort die Welt zu retten.“

„Ach dieses Tor ist das Stargate oder was?“

„Ja, genau. Aber es ist alles total absurd. Am Ende wird der Fiesling mit einer Atombombe in die Luft gejagt und der Held bleibt auf dem fremden Planeten zurück, weil er seine Liebe gefunden hat.“

Es gab eine kleine Pause.

„Und mit wem warst du?“

Ich suchte wieder den Punkt an der Wand. Ich dachte an die Liste mit den coolen Sprüchen. Ich überlegte, ob ich die Frage vielleicht ignorieren konnte. Und dann tat ich etwas für mich völlig untypisches. Etwas, von dem ich bis heute nicht weiß, woher ich den Mut dazu hatte. Ich sagte: „Mit meiner Mutter.“

Simone sagte nichts.

Ich sagte nichts.

Simone hob den Kopf und blickte mir direkt in die Augen. Und dann sagte sie: „Ich war noch nie mit meiner Mutter im Kino.“

Ein paar Tage später verließ Simone den Schutz ihrer Raucherecke und kam quer über den Schulhof auf mich zu. In der Hand hielt sie eine Zeitung. Basti erzählte gerade vom Schwimmcamp in Frankreich und einer gewissen Véronique, von der ich zum ersten Mal hörte. Als er Simone kommen sah, verstummte er abrupt. Simone lächelte entspannt.

„Kann ich dich was fragen?“

„Klar“, antwortete ich.

Simone zögerte. Basti zog deutlich hörbar die Luft ein und drehte sich mit einem Grinsen weg.

„Ich lass euch mal.“

Ich versuchte ihn am Arm zu packen.

„Nein. Musst du nicht.“

Aber Basti kümmerte sich nicht um mich. Ich blickte ihm nach und drehte mich entschuldigend zu Simone.

„Keine Ahnung, was er hat.“

Simone hielt mir die Zeitung hin.

„Hier. Hast du gesehen?“

Auf den eng bedruckten Zeilen war etwas mit grünem Filzstift eingekreist. In den Straßen der Bronx. 19:30.

„Kennst du den schon?“

„Nein. Den nicht. Aber wieso läuft der noch im Kino?“

„Das De-Niro-Special. Weißt du noch?“

„Ach so. Klar. Wann ist das?“

„Donnerstag. Kommst du mit?“

„Donnerstag. Wohin? Ins Broadway?“

Simone nickte.

„Aber wie kommen wir denn da wieder zurück. Fährt um die Zeit noch ein Bus?“

Simone grinste.

„Da weiß ich schon was. Also, du kommst?“

„Ja.“ Ich nickte vielleicht etwas zu heftig, rieb mir den Nacken und blickte über Simones Schulter hinweg. „Gerne. Ich komme gerne.“

„Prima.“ Simone lächelte. Wir treffen uns um Viertel nach vorm Kino, OK?“

„OK.“ Ich lächelte auch. Simone verschwand. Basti kam zurück. Ich lächelte immer noch. Basti grinste.

„Hab ich was verpasst?“

„Nein“, sagte ich. „Nichts Erderschütterndes.“

Der Kinobesuch mit Simone war einer dieser Abende, die viel zu voll gepackt sind mit Ereignissen. Mein liebstes Kino. Mein liebster Schauspieler. Meine erste Verabredung. Vielleicht ist mir das an jenem Abend zum ersten Mal aufgefallen. Heute bemerke ich das ständig. Tage, Wochen oder Monate ziehen vollkommen ereignislos dahin und man würde sich freuen, wenn man vorm Zubettgehen wenigstens sagen könnte Heute habe ich einen echt interessanten Wortbeitrag im Kulturradio gehört und dann - Bumm. Alles auf einmal. Drei Veranstaltungen gleichzeitig, zu denen man eingeladen ist. Alle wollen am selben Tag zu Besuch kommen. Auf Arbeit steht ein entscheidender Termin an, die Freundin wartet mit Theaterkarten und ein alter Schulfreund hat Geburtstag. Alles wichtig, alles spannend, alles entscheidend - und alles zusammen viel zu viel.

Bereits am Nachmittag war ich so aufgeregt, dass ich mich selbst kaum noch ertragen konnte. Ich hatte mir fest vorgenommen, cool zu sein. Ich wollte nur an den Film denken. Ich wollte auch Basti eigentlich gar nichts erzählen - nichts davon gelang mir.

Zu meiner Überraschung war Basti absolut prima. Er stellte nicht zu viele Fragen. Er machte keine Witze. Und statt Ratschlägen gab er mir sein schwarzes Sonic Youth T-Shirt mit der gelben Schrift. Das war cool.

Meine Mutter musste an dem Abend lange arbeiten, so dass sie nur verlangte, ich solle vor Mitternacht zurück sein. Sie fragte weder wie ich nach Hause kommen würde noch mit wem ich ins Kino ginge. Perfekte Bedingungen.

Als ich um kurz nach sieben vorm Kino ankam, war Simone schon da. Sie stand im Eingangsbereich vor den Plakaten und rauchte. Ihre Dreadlocks hatte sie mit Hilfe eines hellblauen Stofftuches nach hinten gebunden. Über einer Jeans trug sie eine braune Lederjacke und darunter ein düster aussehendes Metal-Shirt auf dem in kantiger Schrift stand: Daddy’s Girl. Wir umarmten uns zur Begrüßung.

„Du bist zu früh“, sagte sie.

„Ja“, sagte ich. „Die Bahn fährt nur alle Stunde.“

Sie nickte und musterte mich.

„Cooles Shirt.“

Ich lächelte.

„Ja…danke“, brachte ich hervor.

Sie grinste.

„Gehen wir einfach schon rein.“

Sie schnipste ihre Zigarette weg, hakte mich unter und zog mich nach drinnen.

Ich hatte also endlich mein erstes richtiges Date. Mit einem Mädchen, dass ich ernsthaft nett fand. Mit vier Flaschen Bier, die sie in den Saal reingeschmuggelt hatte. Und mit De Niro. Und das war ein Fehler.

Ich erinnere mich, dass ich bei der Werbung noch darüber nachgedacht habe, wie und wo ich meine Hand am günstigsten ablegen sollte, um sie im richtigen Moment zu Simone rüber zu schieben. Dann begann der Film und das nächste Mal, dass ich an meine Hand dachte, war beim Abspann.

Ich mochte alles an dem Film. Alles. Die Geschichte. Die Sprüche. Den Look. Den jugendlichen Helden. Den fiesen Gangsterboss. Den Vater. Eben alles. Ich erlebte einen dieser Momente, die immer seltener werden, je älter man wird. Ich tauchte vollkommen in die Filmwelt ein. Und dabei vergaß ich, warum ich gekommen war. Simone. Händchen halten. Vielleicht sogar Knutschen.

Als irgendwann die ganzen Namen von unten nach oben durchs Bild liefen wusste ich, die Chance war vorbei. Ich würde niemals mehr den Mut haben, Simones Hand zu berühren. Oder sie sogar zu küssen. Das Licht würde angehen, wir würden uns angrinsen und dann jeder für sich nach Hause gehen. Ich hatte komplett versagt.

Als ich mich zu Simone hinwenden wollte, war ihr Kopf zu meiner Überraschung sehr viel näher an meinem, als ich erwartet hatte. Plötzlich stieg mir ein rauchiger Duft in die Nase, ich spürte eine kratzige Haarsträhne an meiner Stirn und ehe ich so richtig begriff, was gerade geschah, hatte ich eine zweite Zunge in meinem Mund. Sie war kalt und klein und schmeckte nach Kippen und Bier. Es war großartig.

Die kleine Zunge schlug wild und ungestüm um sich, als wäre sie mächtig wütend darüber, dass sie so lange auf Bewegung hatte warten müssen. Ich versuchte, so gut ich konnte, sie einzufangen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie. Simone schien das nicht weiter zu stören. Sie drückte ihren Mund mit erstaunlicher Kraft auf meinen, hielt sich mit den Händen an meinem Hals fest und ließ ihre Zunge frei galoppieren. Erst als das Licht im Raum anging, löste sie sich, zog ihren Kopf zwei bis drei Zentimeter zurück und lächelte. Streng genommen hatte ich in den letzten Minuten eigentlich gar nichts gemacht - aber damit schien sie hoch zufrieden.

Auf der Heimfahrt, auf dem Rücksitz des 4CV, bekam meine Zunge dann weiteren Unterricht. Dabei blickte Simones Schwester Steffi immer wieder grinsend in den Rückspiegel, drehte sich zu uns rum und sagte Sätze wie: „Nicht das Luftholen vergessen“ oder „Na das muss Liebe sein.“ Dazu jammerten glatt gebügelte Synthesizer-Klänge grausam durch den Wagen, es war unerträglich heiß und ich fühlte mich alles anders als wohl. Klar, dass wir knutschten war toll. Es war interessant, spannend, aufregend - das ja. Aber irgendwie auch viel zu hektisch und schnell und angestrengt. Dazu noch die Kommentare von Steffi und im Hintergrund Gedudel von Modern Talking. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Mitten in der Knutscherei spürte ich einen Schmerz in der Schulter. Es war nur ein kleiner Stich, aber stark genug, um mich aufspringen zu lassen und Simone von mir runter zu schieben. Ich griff mit der rechten Hand um meinen linken Oberarm und tastete nach einer Stelle an meinem Rücken.

„Oh, nein“, rief Simone. „Scheiße. Du hast dir eine von den Sitzfedern in den Rücken gepiekst.“ Sie wandte sich nach vorne. „Steffi, dein blödes Auto. Hier hinten gehen die Sitze jetzt auch kaputt.“

„Ehrlich? Ach Mist.“ Steffi klang ernsthaft in Sorge um ihren Wagen.

„Ist nicht so schlimm“, stammelte ich tapfer. Was stimmte und gleichzeitig auch nicht stimmte. Ich hatte vielleicht nur eine kleine Wunde abbekommen, aber das T-Shirt war ein Totalschaden. Aus dem kleinen Einschnitt war durch mein Zusammenzucken ein Riss geworden, der sich einmal quer über meinen Rücken zog. Und das war furchtbar.

„Das Shirt ist durch“, urteilte Simone.

Ich nickte.

„Ist nicht schlimm“, wiederholte ich dennoch. Und damit war für Simone genug geredet. Sie beugte sich wieder über mich und fuhr mit dem Unterricht fort. Immerhin kam es mir so vor, als ob sie jetzt ein wenig vorsichtiger wäre.

Als ich später dem kleinen, blauen Wagen hinterher winkte, war ich alles in allem sehr zufrieden. Ich hatte eine Verabredung hinter mich gebracht. Ich hatte einen fantastischen Film gesehen. Und vor allem: ich hatte geknutscht. Nur das mit dem T-Shirt war nicht gut. Basti würde ausrasten.

Aber als ich ihm am nächsten Morgen die Plastiktüte mit den Überresten seines geliebten Kleidungsstückes, zusammen mit einer Tafel Nussschokolade, in die Hand drückte und dabei aufrichtig gemeinte Entschuldigungen stammelte, beachtete Basti das Shirt kaum. Stattdessen legte er mir die Hand auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen.

„Pete, jetzt beruhig dich mal und sag mir nur eins.“ So ernsthaft hatte ich meinen Freund selten erlebt. Sein Gesicht war vollkommen unbeweglich und ich hatte Mühe seinem bohrenden Blick Stand zu halten.

„Hast du’s gepackt?“

Wir starrten uns an. Ich überlegte, ob ich erzählen sollte, dass ich es eigentlich kolossal versiebt hätte. Dass ich überhaupt nichts gepackt hätte, wenn nicht Simone mich… Ich nickte.

Bastis Gesicht verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in eine übermütige Grimasse. Mit einer ausholenden Bewegung schleuderte er die Plastiktüte mit dem Shirt hoch in die Luft und schrie: „Hallelujah!!“ Dann formte er seine Hände zu Trichtern und rief einer unsichtbaren Menschenmenge zu: „Er hat’s gepackt! Peter Boltenhagen hat’s gepackt.“ Ich sah ihm still lächelnd bei seiner Performance zu. Dann ging ich zwei Meter zurück, hob die Plastiktüte mit den Shirt-Resten auf und warf sie in einen Papierkorb.

Zwei Sommer

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