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I.

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Inhaltsverzeichnis

Ich habe mich anheischig gemacht, auf mehrere klotzische Anmerkungen über Homer zu merken, und ich muß mein Wort erfüllen. Der Tadel sowohl, als das Lob, das auf den Ersten der Dichter fällt, trift auf den Mittelpunkt der griechischen Litteratur, und hat immer auch auf entferntere Punkte im Kreise der Gelehrsamkeit einen Einfluß. Es wird also lohnen, mit den Homerischen Briefen1 in der Hand ein Lustwäldchen der alten griechischen Musen zu besuchen.

Wie muß ich mich aber durch süße Freundschaftsbezeigungen, und lange Vorbereitungen durchwinden und durchdrängen,2 um nur erst auf eine Materie zu kommen. Hr. Klotz irret in diesen Briefen so herum, daß seine Muse wohl nichts minder, als eine Schwester der homerischen Muse, seyn kann, die statt vom trojanischen Kriege, und vom Ey der Leda anzufangen, lieber gleich mitten in die Handlung hinein greift – μηνιν αειδε ϑεα, κ. τ. λ. – Der homerische Briefsteller nimmt sich zu erst recht sehr Zeit, seinen Freund und Gönner zu umarmen,3 die sehr mittelmäßigen Verse desselben, die von ganz Deutschland für mittelmäßig erkannt sind, himmelhoch zu erheben,4 uns auf dem Landgute desselben5 (wie Boileau von gewissen Wortmalern sagt) von Terrasse zu Terrasse zu führen, das Landleben,6 und die unehelichen Kinder7 zu loben, über die Härte der Regina Pecunia,8 und über die Undankbarkeit unsers Jahrhunderts gegen Poeten9 zu klagen, einen großen Minister, der fast durch ein solches Lob erniedrigt wird, deßwegen10 zu rühmen, weil er ihm erlaubt, auf dem Lande einige Zeit zuzubringen. Er fährt fort, alle selige Vergnügungen daselbst11 uns liebkosend vorzuzeigen: die Bücher, die er mit sich genommen, und endlich12 – »Wie aber die Dichter vom Zevs, so will ich vom Homer beginnen.«

Noch sind wir nicht in der Materie. Hr. Kl. zeigt erst, daß er mit seinem homerischen Tadel nicht zu ungelehrten Verächten: Homers gehöre,13 daß niemand in der Welt die alten Schriftsteller mit mehr Bewunderung und Entzücken lese, als er, daß Homer bei allen diesen Fehlern, die Hr. Klotz ihm zeigen will, noch immer groß bleibe,14 daß – und dies alles in so erregendem Tone, mit so viel, ob gleich längst bekannten, Beispielen und Allgemeinsätzen, daß man keinen andern, als jenen cyklischen Dichter15 liest, und jedes Blatt mit der bewundernden Frage umschlägt: was will aus dem Männlein werden? Was hat dieser große Mann dem fehlerhaften Homer Unerhörtes zu zeigen, das so viel Vorbereitung und Aufmerksamkeit verdiente?

Vielleicht ist mein Leser so ungeduldig, als ich, und auf mich unwillig, daß ich den neuen Homeromastix noch nicht selbst reden lasse; allein, wenn Hr. Kl. zween Bogen lang vorbereitet, wie würde es denn dem Tone meines Werks entsprechen, nicht auch vorzubereiten? Ich muß also Schritt halten: sonst kommen wir alle drei, Hr. Klotz, der Leser und ich aus dem Takte.

Wie nun? Ists wohl so leicht, Homer zu tadeln? ich meine so leicht für uns, in unsrer Zeit, Denkart und Sprache? Es sollte scheinen. Denn sind wir nicht in Gelehrsamkeit und Wissenschaft, und Stuffe der Cultur ungleich höher, als das Zeitalter Homers? Ist die Welt nicht drei tausend Jahr älter, und also auch vielleicht drei tausendmal erfahrner und klüger geworden? Kniet also nicht der Altvater Homer vor dem Geschmacke und Urtheile unsers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des jüngsten Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorsitzer und geheimen Rathe desselben? Ich sollte fast glauben! oder beinahe nicht glauben: denn unser Jahrhundert mag in allem, was Gelehrsamkeit heißt, so hoch gekommen seyn, als es will und ist; so ists doch in allem, was zur poetischen Beurtheilung Homers gehört, nicht höher; ja ich behaupte, daß es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die Homers Zeitgenossen, oder wenigstens Landsleute und Brüder einer Sprache mit ihm waren, weit hinten nach sey. Wir sind nicht nur nicht höher hinauf, wir sind gewisser maßen aus der Welt hinaus gerückt, in der Homer dichtete, schilderte und sang.

Homers Sprache ist nicht die unsre. Er sang; da dieselbe noch blos in dem Munde der artikulirt sprechenden Menschen, wie er sie nennet, lebte, noch keine Bücher-, noch keine Grammatische, und am wenigsten eine wissenschaftliche Sprache war. Er bequemte sich also den Artikulationen der Zunge seiner Menschen, den Beugungen, und dem Wortgebrauche der lebenden Welt, in aller Unschuld und Einfalt seines Zeitalters. Wer kann ihn nun hören, als ob er spräche? Tausend Wörter haben ihren Sinn allmälich umwandeln, oder sich in ihrem Gebrauche seitwärts biegen und verfeinern müssen. Müssen, ohne daß es jemand wollte, und bemerkte; denn der Geist der Zeit veränderte sich. Man behielt immer das Wort, man glaubte auch immer, denselben Begriff zu haben; denn in der gemeinen Sprache des Umganges wechselt man klare, und nicht deutliche Ideen: und doch so, wie sich Lebensart, und der Geist des Jahrhunderts änderte, so hatte sich auch der inwohnende Geist vieler Wörter verändert. Sehr spät endlich ward die Sprache wissenschaftlich. Der Wörtersammler, der die Begriffe aus einander setzen, deutlich machen sollte, fand einige vielleicht schon gar nicht in seiner lebenden Sprache; er mußte rathen, und die Muse gebe, daß er unter hunderten nur einmal übel gerathen hätte. Bei einem andern definirte er nach dem Begriffe seiner Zeit: wie aber, wenn dieser blos ein jüngerer, ein abstammender Begriff gewesen wäre? Bei einem dritten nahm er vielleicht gar nur eine verfeinernde Bedeutung des Philosophen, eine Nebenbestimmung dieser und jener Schule, Provinz, Sekte, Menschengattung, und trug sie ein. Nun komme nach drei tausend Jahren ein Mensch aus einer fremden Sprache, aus einer ganz andern Welt, urtheile und richte, und mäckle Wörter, sicherer würde er die Bücher der cumäischen Sybille in Ordnung bringen!

Wer mir nicht glaubt, lese hierüber die Vorrede des arbeitsamen Johnsons zu seinem Englischen Wörterbuche, und er wird vor einer Kritik zittern, die ihn drei tausend Jahre zurück, in einen so frühen Zeitpunkt der Griechischen Sprache, als in welchem der Dichter ihrer Jugend Homer sang, werfen will. Wenn schon zur Zeit Aristoteles gebohrne Griechen über einzelne Wörter Homers zweifelhaft waren: werden wir alsdenn nicht weit öfter, wenn es insonderheit auf Würde der Wörter ankommt, in der Sprache des ehrlichen Sancho Pansa sagen müssen: Gott weiß, wie Homer hätte dichten sollen. Ich rede nicht von dem Sinne desselben, sondern von dem Gefühle seiner Epischen Würde in der Sprache: und zum Behufe des letztern, reichen die vielen Hülfsmittel unter den Griechen selbst da zu, Homer beurtheilen zu wollen?

Ich gebe ein Beispiel, das ich brauchen werde. Das Wort γελοιον hieß in den Zeiten der alten griechischen Einfalt, überhaupt, was Freude, was Lachen erwecket, ohne daß dies Lachen der Freude noch ein Gelächter des Spottes sein dorfte. Das γελοιον in einem Menschen war der Charakter eines süßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war Annehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieser unschuldigen Einfalt abwichen; desto mehr wurde der Begriff des »Lächerlichen« daraus. Das γελοιον in einem Menschlichen Charakter ward das »Piquante« des Witzlinges, und endlich ganz die Narrenkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Austritte ward das »Lächerliche,« und endlich das »Belachenswürdige.« Welche Umwandlung von Ideen! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt das γελοιον allemal für eine Possenreißerei nehmen will, weil etwa in der lateinischen Ubersetzung »ridiculum« steht, und darnach einen Menschencharakter in Homer längelang beurtheilen, und tadeln, und verdammen wollte, der könnte freilich sein Wörterbuch, und seine Uebersetzung, und die Meinung einiger alten Grammatiker auf seiner Seite haben, nicht aber darum auch den ursprünglichen Homer. Ueber den muß man nicht aus Uebersetzung und Wörterbuche, sondern aus dem lebendigen Gebrauche seiner Zeit urtheilen, oder das sicherste Wort wählen: ουκ οιδα!

Zweitens. Wenn die todte, die körperliche Natur, die Homer malet, sich seit ihm schon sehr verändert hat, wie viel mehr die Natur der Menschen, die Manier der Charaktere, die Nüancen, in denen sich Leidenschaften äußern! Eine Griechische Seele war gewiß von andrer Gestalt und Bauart, als eine Seele, die unsre Zeit bildet. Wie verschieden die Eindrücke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anstrich des Umganges! Wie verschieden also das Urtheil über die Würde der Menschheit, über die Beschaffenheit des Patrioten, über die Natur der Götter, über die Erlaubnisse des Vergnügens, über Anstand und Zucht – wie verschieden damals und jetzt! So weit Athen von Berlin, so weit müssen sich die Jugendeindrücke Homers hierüber von dem Urtheile eines seiner heutigen Kunstrichter entfernen. Wer die Geschichte des menschlichen Geistes in allen Zwischenzeiten zwischen Homer und uns kennet, wer den Umwandlungen und Vermischungen der Begriffe von menschlicher Natur, Religion, Gelehrsamkeit, bürgerlichem Interesse, Sittsamkeit und Wohlstande in allen diesen Zeiten nachgespüret, wer Augen hat, um den Ort zu sehen, auf welchen ihn die zusammen gesetzten Kräfte so vieler Zwischenjahrhunderte geworfen haben, der wird in allem, was Charakter einer Menschenseele ist, ungemein rückhaltend seyn. Er wird Homer, den Schöpfer menschlicher Charaktere, studiren; er wird in den Zeiten desselben nach der damaligen Gestalt dieser so wichtigen Begriffe forschen: aber, wie ein Areopagit im Finstern urtheilen? Kaum!

Der Verfolg wird Beispiele liefern, wie schielend es sey, über den Uebelstand homerischer Götter und Helden, und Menschen nach den Begriffen unsrer Zeit zu urtheilen. – Jetzt will ich nur fragen: ob Homer habe fehlen können, daß er sich nach den Sitten seiner Zeit bequemete? und nach welchen er sich denn hätte richten sollen?16

Homer mußte sich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieser schilderte er seine Helden, und was er also in derselben für Begriffe von Heldengröße, Heldenklugheit und Wohlstand fand, ward die Basis seines Gedichts. Wenn diese Heldengröße ohne Leibesstärke, ohne Schnelligkeit, ohne Wildigkeit der Leidenschaft, ohne eine edle Einfalt in klugen Anschlägen, ohne eine kühne Rauhigkeit nicht bestehen konnte: so wurden auch alle diese Charaktere seinem Gedichte eigen.

Auf solcher Grundlage stand sein Gebäude: Ein Gedicht für seine Zeit. Die Vorstellungen der verflossenen Jahrhunderte sollten in der Sprache seines Zeitalters, nach dem Gefühle eines Sängers, der in diesem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhörern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgestellet werden: so sang Homer, und anders konnte er nicht singen – Ein Barde voriger Zeiten für seine Zeit. Wer sich in diese zurück setzen kann, in Erziehung und Sitten, und Leidenschaften und Charaktere, und Sprache und Religion – für den singt Homer, für keinen andern.

Es ist lächerlich, vom Homer fodern, daß er sich nach den Sitten, einer künftigen Zeit hätte richten sollen. Dazu gehört Gabe der Weissagung, und noch was mehr, die Gabe unmögliche Dinge zu thun. Wenn wir fodern, daß Homer für unsre Zeit und Denkart hätte schreiben sollen, so hätte es ein alter Indianer und Perser, der Homeren in seiner Sprache las, auch fodern können! So auch ein scholastischer Mönch des funfzehenten Jahrhunderts, wenn er über Homer kam! so auch ein hottentottischer Kunstrichter, wenn einmal der Genius der Wissenschaften Europa verlassen, und mit Homeren in der Hand nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung ziehen wird! so auch ein jeder Thor von Einsiedler, der auf einer Säule, wie Simon der Stylite, alt und grau wurde! Alle werden alsdenn im vereinigten Chore mit unserm lateinischen Perrault anstimmen können:17 Homerum dormitasse aliquoties, apparet. Quod iis in locis inprimis patere existimo, ubi ... suae aetatis moribus inservit nondum politis satis, & cum simplicitate rusticum aliquid & asperum habentibus. Und was würde aus Homer, wenn er sich nach jedem Kunstrichter hätte richten wollen?

Nein! mein Homer soll sich nicht nach meinem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des seinigen mögen so weit abgehen, als sie wollen. Ich bin zu bescheiden, ihn summam vim & mensuram ingenii humani zu nennen:18 denn wer bin ich, daß ich die gesammten Kräfte der Natur wägen, und das Maaß erfassen wollte, das die Mensur des menschlichen Geistes enthält? Wer bin ich, daß ich die Linie ziehen könnte: so hoch reicht Homer, und so hoch kann der menschliche Geist reichen! So sehr ich ihn, als die edle Erstgeburt der schönen dichterischen Natur in Griechenland, liebe; so gern ich ihn, als den Vater aller griechischen Dichter, verehre: so blöde bin ich, ihn, als den Umfang, als das Maaß des menschlichen Geistes, zu betrachten: so blöde, es abwägen zu wollen, wie auch nur die Dichterische Natur ihre Kräfte in ihm erschöpfet. So lange mir Apollo nicht den Wunsch erfüllet, die Metamorphosen des menschlichen Geistes auch in einer solchen Metamorphose meines Geistes durchwandeln und durchleben zu können: so lange ich nicht mit den Ebräern ein Ebräer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde, wesentlich, und durch eine Umwandlung meiner selbst geworden bin, um Moses und Hiob, und Ossian in ihrer Zeit und Natur zu fühlen: so lange zittere ich vor dem Urtheile: »Homer ist die höchste Masse gesammelter Kräfte des poetischen Geistes, das höchste Maaß der dichterischen Natur.« Und ist schon bei Einer einzigen Seite der Natur, und des menschlichen Geistes, als Dichterisches Genie ist, ist da dies Urtheil schon so schwer: wie kann ich den Umfang gesammter Geisteskräfte, das Maaß der ganzen Menschennatur in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und Demosthenes, als Geschöpfe ihrer Zeit betrachtet, sich nicht mehr erschöpft, als bei Homer? Wo weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton,

– – das Ziel erschaffner Geister,

dieser bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art gekostet, als Homer in der seinigen? Ein solcher Lobspruch geht ins Ungeheure; und wenn Homer summa vis, & quasi mensura ingenii humani ist, so wird der, so ihn noch beurtheilen und tadeln kann, ein völliger Uebermensch! hervorragend über die Schranken des Menschlichen Geistes. Da trete ich zurück, um den kritischen Gott anzubeten.

Ich betrachte Homer blos, als den glücklichsten Poetischen Kopf seines Jahrhunderts, seiner Nation, dem keiner von allen, die ihn nachahmen wollten, gleich kommen konnte; aber die Anlagen zu seinem glücklichen Genie suche ich nicht außer seiner Natur, und dem Zeitalter, das ihn bildete. Je mehr ich dieses kennen lerne, desto mehr lerne ich mir Homer erklären, und desto mehr schwindet der Gedanke, ihn, »als einen Dichter aller Zeiten und Völker,« nach dem Bürgerrechte meiner Zeit und Nation, zu beurtheilen. Nur gar zu sehr habe ichs gelernt, wie weit wir in einem Zeitraume zweier Jahrtausende von der poetischen Natur abgekommen, eine gleichsam bürgerliche Seele erhalten, wie wenig, nach den Eindrücken unsrer Erziehung, griechische Natur in uns wirke! wie weit Juden und Christen uns umgebildet haben, um nicht aus eingepflanzten Begriffen der Mythologie auch über Homers Götter zu denken! wie weit Morgenländer, Römer, Franzosen, Britten, Italiener und Deutsche, wenn ich den rousseauschen Ausdruck wagen darf, unser Gehirn von der Griechischen Denkart weggebildet haben mögen, wenn wir über die Würde der menschlichen Natur, über Heldengröße, über die Ernsthaftigkeit der Epopee, über Zucht und Anstand denken! Wie gelehrt muß also ein Auge seyn, um Homer ganz in der Tracht seines Zeitalters sehen: wie gelehrt ein Ohr, ihn in der Sprache seiner Nation so ganz hören: und wie biegsam eine Seele, um ihn in seiner Griechischen Natur durchaus fühlen zu können. Am sichersten, mein Urtheil über ihn sey nicht voreilend, damit ich ihm das nicht für einen Fehler anrechne, was Tugend seiner Zeit war.

Nun mag Hr. Kl. die unten gesetzte19 Einleitung zu seinem homerischen Tadel rechtfertigen; ich finde den einen Theil derselben am unrechten Orte; den andern Theil sehr zweifelhaft. Am unrechten Orte steht die Betrachtung,20 daß Homer ein Mensch sey, Fehler habe, daß die Fehler der größesten Genies, eines Homer und Shakespear, ihrer Größe nichts benehmen, u.s.w. Für unsern Zweck wäre die Betrachtung gewesen: ob Homers Fehler, (als griechischer Dichter seiner Zeit, und nicht als Mensch betrachtet,) von uns, und zu allererst von uns eingesehen, und diktatorisch beurtheilt werden können? Und so zweifelhaft dies: so ungewiß wird mir das Folgende:21 »daß Homer sein Gedicht mit nicht leichten Flecken besudelt, weil er sich entweder nach den Sitten seiner Zeit gerichtet, (das mußte er thun, und wenn ers thut, ists kein Fehler,) oder weil es schwer fällt, zurück zu halten, was dem Leser Lachen erwecken könnte, oder aus einem Fehler seiner Beurtheilungskraft; kurz also, daß er sich zu dem herab läßt, wovon ich, Chr. Ad. Kl. achte, es schicke sich für die Würde, und den Ernst des Epischen Gedichts ganz und gar nicht.« Die erste Ursache ist unpassend: die zweite sehr unwahrscheinlich: die dritte zweifelhaft: und die Folge selbst, wie ich zu beweisen hoffe, falsch.

Unpassend die erste Ursache: »daß Homer mit nicht leichten Flecken sein Gedicht besudelt, weil er sich den Sitten seiner Zeit bequemt.« Homer mußte sich ihnen, und der Zeit seiner Helden bequemen; nicht aber der Zeit der Kapuciner, oder dem Jahrhunderte Ludwigs des vierzehenten, oder dem kritischen Jahrhunderte, das Hr. Kl. in Deutschland schaffen will. Es ist keine Sünde, zu behaupten, daß Homer an dies, und an die seligen Mohren in Afrika mit seinen Göttern, und mit seinem Unanständigen gar nicht gedacht habe.

Höchst unwahrscheinlich die zweite Ursache: »Homer habe sich zu dem herab gelassen, wovon ich halte, daß es sich für die Würde, und den Ernst des epischen Gedichts ganz und gar nicht schicke, weil es schwer wird, das zurück zu halten, wovon wir glauben, daß es dem Leser Lachen erwecken werde.« Denn wenn Hr. Kl. das Zeitalter Homers, und seiner Helden kennet, wird er hoffentlich zugeben, daß demselben nichts fremder sey, als eine Sucht des Lächerlichen. Die Verfasser gewisser Bibliotheken mögen mit dem Marktausruffe vortreten:

Iocos ridiculos vendo: agite licitemini!

der Epische Dichter Homer weiß von solchen lächerlichen Grazien nichts. Das Zeitalter, das er besingt, war »die Zeit der Heldengröße, eines hohen Ernstes nach griechischer Natur:« und die Zeit, in der er lebte und sang, »der Anfang des bürgerlichen Jahrhunderts,« und also eines gesitteten Ernstes in edler Einfalt. So wie in der ersten der Held, der Tapfre, der größeste Mann war; so in der zweiten der Weise und Gute – in beiden war an den lachenden, oder Lachen erregenden Witzling nicht wohl zu gedenken; sonst wäre statt homerischer Epopeen nichts, als crebillonsche Romane, oder komische Epopeen, die Erstgeburt der griechischen Muse geworden. Bei Homer also, wenn er keinen Margites, sondern eine Helden Iliade schreibt, bin ich vor dem unzeitigen, unwürdigen Lachen so sicher, als ichs bei den schönen und artigen Schriftstellern unsrer Tage wohl nicht bin: und das vermöge des Homerischen Zeitalters.

Drittens endlich, dünkt mich die Ursache des beschwerlich Lächerlichen in Homer eben so ungewiß, daß er aus einem Fehltritte seiner Beurtheilungskraft so unzeitig lächerlich, so lachsüchtig geworden: denn wer Homers Zeit kennet, wird zehn andre Fehltritte für wahrscheinlicher halten, als – doch warum so viel wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Ursachen? Hr. Kl. komme nach vier und zwanzig Seiten einmal zum Beweise.

1 Epist. Homer. Altenb. 1764.

2 p. 5–24.

3 p. 5. 6.

4 p. 6. 7. conf. Act. litter. Vol. I. p. 245–49.

5 p. 8. 9.

6 Epist. Homer. p. 10–12.

7 p. 12. 13.

8 p. 13. 14.

9 p. 15. 16.

10 p. 16. 17.

11 p. 18.

12 p. 18.

13 p. 19.

14 p. 20–23.

15 Fortunam Priami cantabo. Horat. A.P.

16 Epist. Homer. p. 24.

17 Epist. Homer. p. 24.

18 p. 19. Ich weis diesen Ausdruck, als gewöhnliche Lateinische Phrasis; allein ich mag keine Phrasis, die es ursprünglich nicht war, die keine Wahrheit hinter sich hat.

19 p. 24 etc.

20 p. 21–23.

21 p. 24. 25.

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