Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 10
Tag 9, Freitag
ОглавлениеAm Freitagnachmittag hatte sich das Wetter wieder gebessert, es war ein strahlender Herbsttag, und noch mal richtig warm geworden. Nach der Arbeit radelte Falk nach Hause, riss sich das verschwitzte T-Shirt vom Körper, pfefferte seinen Rucksack in eine Ecke des Flurs und strebte zum Badezimmer. Erschrocken prallte er zurück, als er dort Robert vorfand, auf dem Klo sitzend und in eine der kostenlosen Werbezeitschriften, die samstags den Briefkasten verstopften, vertieft. Sein Freund sah auf.
„Was stürmst du denn hier rein wie ein Trampeltier?“
„Was sitzt du hier rum und scheißt mein Klo zu?“, fragte Falk zurück.
„Dein Klo? Das ist auch meins!“
„Ach ja? Hast dich schon so lange nicht mehr blicken lassen, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich nen Mitbewohner hab! Warum zur Hölle gehst du eigentlich nicht mehr an dein Handy?“
Falk verließ das Bad, während Robs hinter ihm herrief:
„Hab’s im Harz verloren. Sag bloß, das klingelt immer noch? Der Accu müsste eigentlich langsam leer sein.“
Robs hielt sich nicht lange in der Wohnung auf. Er verschwand in seinem Zimmer und stopfte ein paar frische Boxershorts in seinen Rucksack, während Falk im Türrahmen lehnte, zusah und fragte, wer denn die Glückliche sei, mit der er gerade anbändelte. Robs blieb einsilbig, faselte etwas von einer Mareen, einem Abend in ihrem Zimmer, wo sie sich super unterhalten hätten, und dass sie richtig nett sei, wenn man sie nur näher kennen lernen würde und außerdem ziemlich fordernd im Bett, weswegen er jetzt auch dringend wieder los müsse.
Ob er noch mal etwas von Fanni gehört habe, wollte Falk wissen, doch Robs verneinte. Die wäre jetzt zu einem Auslandssemester nach Schweden aufgebrochen, sagte er. Oder war es Spanien? Falk fand, dass das ausgesprochen gute Neuigkeiten seien, und er erkundigte sich nicht unfreundlich, ob Robs zufällig etwas über den Verbleib einer Packung Käse und des Brots aus dem Kühlschrank wisse, doch Robs grinste nur und zuckte die Schultern. Stattdessen berichtete er dann aber, dass er mittlerweile bei dem Platzwart der sportwissenschaftlichen Fakultät angefragt habe, ob die Fußballplätze zu vermieten seien.
„Ist wohl ansich kein Problem, die Veranstaltung muss allerdings einen nachwuchsfördernden Hintergrund haben, sprich, es muss ein Fußballturnier für Kinder bis 14 Jahre sein. Ansonsten geben sie die Plätze nicht her, auch nicht für Geld.“
Sie diskutierten diese Option, allerdings nur kurz, denn dann musste Robs auch schon wieder los. Erst hinterher fiel Falk auf, dass er Robs weder von der Abendplanung – Rose heute Abend – erzählt hatte, noch von der toten Frau in dem alten Geisterhaus und davon, dass er den Lederbeutel mit dem Schwert und dem Brief immer noch nicht losgeworden war.
Kopfschüttelnd ging er erneut ins Bad, um nun endlich unter die Dusche zu steigen, als er vom Fenster aus einen weinroten Fordkombi am Bürgersteig parken sah, und Michail, der gerade ausstieg. Mit dem Auto war Michail immer dann unterwegs, wenn sein Vater, dem es eigentlich gehörte, wieder einmal Hilfe in seiner Autowerkstatt gebraucht hatte. Micha trug ausgebeulte Jogginghosen und sein altes Sweatshirt mit dem dicken Logo.
Michail sah hoch zu der Badezimmerluke, schien nicht überrascht, Falk dort zu entdecken, und rief zu ihm hinauf, ob er Lust habe, mit ihm bei seinem Vater im Garten ein paar Arbeiten zu erledigen. Falk überlegte nicht lange und sagte zu.
Dann kann ich mir die Dusche auch gleich schenken, dachte er erfreut, während er sich ebenfalls ein paar alte Klamotten überzog, lärmend die Treppen runter lief und zu Michail ins Auto stieg.
*
Den Nachmittag verbrachten sie am südlichen Hang des Hausbergs, nur wenige Minuten Fahrtzeit entfernt von der Wohnung. Hier, mit einem weiten Blick über das Tal und die gegenüberliegenden Kalksteinhänge, den glitzernden Fluss und das dicht bebaute Stadtzentrum von Jena, besaß Michails Vater ein Grundstück inmitten einer Kleingartenkolonie, welche durch einen Mangel typischer Merkmale auffiel: weder verboten Schilder Unbefugten das Betreten, noch gab es Kieswege oder sauber auf Brusthöhe gestutzte Hecken; stattdessen einen ausgewaschenen Pfad, der von der Straße über zerbröselnde Stufen den Hang hinauf führte. Wilde Brombeerbüsche wucherten über Mauern und Zäune. Ein Gartenzwerg mit zersprungener Zipfelmütze lehnte an einer steinernen Toreinfassung und wirkte, als hätte er sich schon vor langer Zeit hierher verirrt; nicht ein Mensch war zu sehen, und zu hören nichts als Vogelgezwitscher und das Geraschel der Igel im Gebüsch.
Da Michail den Schlüssel zum Garten vergessen hatte, waren er und Falk kurzerhand über das hohe schmiedeeiserne Tor geklettert. Dahinter führte ein schmaler schattiger Weg ein paar Meter weiter, bevor der Blick auf eine terrassenartige Fläche freigegeben wurde, wo ein kleines Holzhaus mit Ziegeldach stand.
Das Dach hatte Michail mit seinem Vater im vergangenen Sommer gelegt. Spuren der Baustelle waren noch sichtbar: ein großer Haufen Sand, ein paar übrig gebliebene Ziegel, eine umgekippte Schubkarre. Neben dem Haus standen, auf der mit zersprungenen Steinplatten ausgelegten Terrasse, ein paar Stühle um einen runden Holztisch herum, durch einem zusammengezimmerten Baldachin, der über und über mit Weinranken überwuchert war, vor Regen geschützt. Vom Dach des Hauses führte eine Regenrinne über ein Fallrohr zu einer großen grünen Plastiktonne.
Die Fensterläden des Hauses waren aus Holz und konnten im Winter verriegelt werden. Wenn wieder etwas Geld übrig sein würde, erzählte Michail, wollten sie einen Ofen einbauen. Das Feuerholz war schon da, sorgfältig geschichtet an der Hauswand. Daran vorbei führte der Weg nach hinten in den Garten.
Die Wiese schwang sich sanft hinauf bis an den Waldrand. Auf einem ebenen Stück lag ein Gemüsebeet; die Furchen in der dunklen krümeligen Erde waren schnurgerade und in regelmäßigen Abständen schauten Kohlköpfe heraus; dahinter leuchteten dicke rote Tomaten an Stauden, die sich an gedrehten Stangen hochrankten. Das Gras auf der Wiese wuchs wadenhoch, in unregelmäßigen Abständen standen Apfelbäume, deren Rinde sich vom Stamm schuppte; die Äste hatten schon einen Teil ihrer verschrumpelten Blätter verloren und hingen bis zum Boden herunter unter der Last der Früchte.
Michail ging voraus, den Hügel hoch, und Falk folgte ihm, wobei er im Vorbeigehen einen hellgrünen Kornapfel pflückte und hineinbiss. Ganz oben, in der hintersten Ecke des Gartens, schon im Schatten des Waldes, der die natürliche Grenze des Grundstückes bildete, stand ein Schuppen; auf der einen Seite waren drei Holzkästen für den Kompost aufgebaut worden, auf der anderen wuchsen schwarze Johannisbeeren.
Michail holte den Schlüssel für das Vorhängeschloss am Schuppen unter einem losen Stein hervor, schloss auf und verschwand im Inneren. Es rumpelte und staubte, dann schob er zunächst einen benzinbetriebenen Rasenmäher heraus und tauchte dann mit einer gewaltigen Heckenschere und einer Laubsäge in der Hand wieder auf.
„Viel Spaß“, sagte er, auf den Rasenmäher deutend, zu Falk, und dass er bei den Pflaumenbäumen sei.
Fast zwei Stunden arbeiteten sie. Falk mühte sich mit der knatternden stinkenden Maschine den Hang entlang und der Schweiß lief ihm in Bächen den nackten Oberkörper hinunter. Im Schatten des Waldes verschnaufte er am Rande eines Tümpels, und als er auf das trübe Wasser schaute und die Wolken beobachtete, die sich an der Oberfläche spiegelten, schlängelten sich Erinnerungen an seine Kindheit am Rande seines Bewusstseins entlang, die er nicht fassen konnte, wie die beiden Eichhörnchen, die in Windeseile eine nahe Buche hinaufflitzen.
Als er in einer Ecke des Gartens auf einen offenbar frisch eingepflanzten jungen Kirschbaum stieß, betrachtete er eine ganze Weile die dunkel aufgehäufte Erde rund um den schlanken Stamm und dachte an das Schwert, das bei ihm zu Hause unter dem Bett lag, und das er hier problemlos würde verschwinden lassen können.
Irgendwann tauchte Michail auf, mit ein paar blutigen Kratzern an den Armen und zwei Flaschen Bier in der Hand, die so kalt waren, dass nasse Tropfen außen am Glas abperlten. Die beiden setzten sich mitten in den Garten ins frisch geschnittene Gras und tranken schweigend einige Züge, während sie ins Tal blickten und ab und zu eine Mücke totschlugen, die sich auf ihnen niedergelassen hatte. Die Sonne stand schon tief und aus dem Wald wehte ein kühler Hauch zu ihnen herunter. Falk spürte die tiefe Zufriedenheit, die nur ein kaltes Bier nach harter körperlicher Arbeit auslösen konnte.
„Wie sieht’s aus Mann?!“, sagte er zu Micha. „Ich hab langsam ganz schön Hunger!“
Micha gähnte und streckte sich.
„Mein Vater hat vorhin angerufen. Er kommt demnächst hier rauf. Bringt Igor mit, und was zu essen.“
Falk nahm einen heruntergefallenen Kornapfel, holte aus und warf ihn mit aller Kraft, so dass er irgendwo weit hinter dem Häuschen in den Büschen verschwand.
„Was ist mit deinem Opa? Kommt der auch mal wieder mit?“
Der alte Mann hatte den beiden früher, als sie noch Kinder gewesen waren, Skat beigebracht und ab und zu von seinen selbstgemachten Obstschnäpsen probieren lassen.
„Nee, der ist gerade in Weißrussland, zu Hause. Aber er hat mir noch ein paar Aufgaben gegeben, für den Garten.“
Micha rappelte sich hoch und wendete sich zu Falk. Er kniff die Augen zusammen, die milchig blau waren wie das Wasser im Fluss, und amte, stark übertreibend, den russischen Akzent seines Großvaters mit rollendem „R“ nach: „Du musst schneiden die Pflaumen, Michail. Das ist am meisten wichtig! Du darfst nicht verpassen richtige Zeitpunkt. Und die Beeren, gleich nach Ernte du musst sie schneiden. Und vor Allem:“ Micha hob den Zeigefinger: „gieß mit Wodka auf die Beeren!“
Beide lachten, und Micha ließ sich wieder ins Gras fallen.
Falk erzählte, dass er mit Robs wegen des Fußballturniers gesprochen habe, und dass sie immer noch keinen geeigneten Platz hätten, da nun auch das Gelände bei den Sportwissenschaften nicht mehr in Frage käme.
„Die geben ihre Plätze dort nämlich nur für Kinderturniere her.“
„Wie sinnlos ist das denn?“
„Nachwuchsförderung, oder so, meinte Robs.“
„Na toll, dann haben wir ja langsam alle Möglichkeiten abgeklappert.“, meinte Micha. „Es kann doch nicht sein, dass man in ganz Jena kein privates Fußballturnier organisiert kriegt!“
„Ja, vor allem, weil wir das Ganze problemlos ankündigen könnten im Offenen Kanal Jena!“
„Ach ja, deine Connection zu den Medien. Wie hieß sie gleich? Carolina?“
Falk nickte, und zog sein Handy heraus, wo er sah, dass Caro bereits mehrfach versucht hatte, ihn zu erreichen.
„Wir wollen heut Abend übrigens in die Rose. Lust mitzukommen?“
Micha hatte noch nichts vor, und so schrieb Falk an Caro, dass er mit einem Kumpel um elf am Markt sein würde.
*
Nachdem sie das Bier ausgetrunken hatten, räumten Falk und Micha ihr Werkzeug wieder in den Schuppen. Gerade, als sie fertig waren und den Hügel in Richtung Haus herunter schlenderten, kamen ihnen von dort zwei Männer entgegen.
Falk erkannte Alexander, Michas Vater, sofort an dem roten Kopftuch, das er über seine Glatze gebunden hatte. Der kleinere, drahtige Mann neben ihm schien einige Jahre älter und ging merkwürdig krumm, als hätte er einen Buckel. Während Alexander die beiden jüngeren Männern nacheinander kräftig an die Brust drückte und anerkennende Bemerkungen machte zu der Arbeit, die sie verrichtet hatten, verzog sein Kumpel keine Miene und blieb wortlos ein paar Schritte weiter hinten stehen, was jedoch niemanden kümmerte.
Alexander war wie ein Pirat, der noch nie das Meer gesehen hatte. Als er Dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte er nicht nur gelernt, wie man ein Auto fährt, sondern auch, wie man es auseinander schraubt; außerdem Fliegenfischen und dass die Frauen, wären sie aus Glas, immer noch undurchsichtig bleiben würden. Die Geschichten aus Weißrussland klangen Falk im Ohr, von früher, als er und Micha noch Kinder gewesen waren, und Alexander mit ihnen und Michails kleinem Bruder Roman abenteuerliche Touren unternommen hatte, in die Wälder rund um Jena.
Michail hatte die blauen Augen seines Vaters geerbt, in dessen von Sonne und Wind gezeichneten Gesicht eine Augenklappe nicht unpassend ausgesehen hätte, und der stets eine spöttische Heiterkeit ausstrahlte, wie ein Narr bei einem königlichen Hof, der alle feinen Herrschaften längst betrunken, nackt oder in Tränen aufgelöst gesehen hatte und sich von keinem noch so vornehmen Gewand mehr täuschen ließ, weil er wusste, wie es darunter aussah.
Die vier Männer gingen gemeinsam runter zu der Terrasse neben dem Haus. Micha langte in die Regentonne und fischte einige Flaschen Bier heraus. Währenddessen heizte Alexander einen kleinen runden Grill an.
„Hast du inzwischen deinen Führerschein gemacht, Falk?“, fragte er in den aufsteigenden Rauch hinein. „Wir können immer mal jemanden gebrauchen, in der Werkstatt, Autos überführen und so.“
„Keine Kohle.“, brummte Falk und war dankbar, dass Alexander das Thema nicht weiter vertiefte und ihm auch kein Geld für die Gartenarbeit anbot. Sein Kumpel - Alexander hatte ihn als Igor vorgestellt - setzte sich an den Tisch und begann, mehrere dicke Fleischscheiben mit Zwiebelringen und Knoblauchzehen zu belegen; danach begoss er sie mit Bier und würzte ausgiebig mit Salz und Pfeffer. Falk, der ihm gegenübersaß, beobachtete die Vorbereitungen und sagte schließlich, auf das eingelegte Fleisch deutend:
„Sieht lecker aus.“
Der andere blickte nicht auf, grunzte jedoch, was offenbar bedeutete, dass er den Kommentar zur Kenntnis genommen hatte. Alexander gesellte sich zu ihnen, während Micha nun am Grill stand und den Kohlen Luft zu fächelte.
„Mein alter Freund Igor ist ein guter Koch, Falk.“, sagte Alexander. „Hast du bei der Armee gelernt, stimmt’s, Igor?!“
Statt einer Antwort grunzte der Angesprochene wieder verächtlich und holte eine Tupperdose aus einer Tüte. Als er sie öffnete, entströmte ihr ein durchdringender Geruch nach Knoblauch. Micha schaltete sich ein:
„Ah, Igor hat seinen Quark gemacht. Das Zeug ist weltklasse. Wie viel ist diesmal drin?“
Igor hob eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern und Falk nahm an, dass es um die Menge der verwendeten Knoblauchzehen ging.
Liebevoll betrachtete Alexander seinen Kumpanen. Dann sagte er, wieder zu Falk gewandt:
„Die Armee, Falk, die kennt ihr jungen Leute ja gar nicht mehr. Igor war hier in Jena stationiert. Er hat damals schon sein Fleisch so eingelegt.“
Igor nickte, ohne von seiner Tätigkeit aufzusehen. Falk überlegte, ob er wohl kein deutsch konnte. Aber offenbar verstand er ja alles, was sie sagten. Falk dachte daran, was sein Vater von der NVA erzählt hatte und von den russischen Brüdern.
„Wo warst du denn stationiert?“, fragte er in Igors Richtung. Es war einen Moment lang ganz still, nur das Knacken der Kohle und das Knistern der Funken waren zu hören. Dann deutete Igor mit einer ruckartigen Bewegung hinter sich in die beginnende Abenddämmerung. Fragend sah Falk zu Alexander. Der erklärte:
„Er war auf dem Forst, oben, bei der Raketenbrigade der Roten Armee. Das ganze Gelände ist seit dem Abzug der Russen komplett gesperrt gewesen. Aber jetzt soll alles abgerissen werden. Hat jemand gekauft. Und unser Igor hier hat dort sogar nen Job gefunden, bei den Abrissarbeiten. Ironie des Schicksals!“
Hierbei fingen beide Männer unvermittelt an, laut und heiser zu lachen. Sie prosteten sich sogar mit ihrem Bier zu. Offenbar war hier eine äußerst erfreuliche Tatsache angesprochen worden.
Später, als die Kohle weißlich glühte, legten sie das Fleisch auf den Grill. Während sie aßen wurde es langsam dunkel und als sie fertig waren, holte Micha aus dem Keller des Hauses eine Flasche selbstgemachten Obstschnaps vom letzten Jahr, und ein paar Kerzen, die er auf dem Tisch aufstellte und anzündete.
Igor drehte eine dünne filterlose Zigarette, die er in der hohlen Hand rauchte. Alexander erzählte ein paar Geschichten aus seinem Heimatdorf in Weißrussland. Sie handelten von unglücklichen Liebschaften und fast immer waren es die Frauen, die ihre Männer betrogen, belogen oder gleich umgebracht hatten. Igor füllte ihre Gläser, die sie schweigend und schwermütig leerten.
*
Als Falk irgendwann, viel später, das nächste Mal auf sein Handy guckte, war es nach neun und er überlegte flüchtig, dass er sich besser noch mal unter die Dusche stellen sollte, bevor er sich in der Stadt wieder unter die Leute mischen würde. Zunächst kehrte er jedoch zurück zu der aufgeschütteten Baugrube neben dem Haus, wo sich die vier Männer schon seit einer ganzen Weile aufhielten.
Michail und Falk standen Alexander gegenüber, alle drei waren bis auf die Boxershorts nackt und glänzten vor Schweiß. Abwechseln traten die beiden Jüngeren gegen Michas Vater an und mussten sich jedes Mal nach einem kurzen heftigen Gerangel von ihm in den Sand schleudern zu lassen. Igor stand daneben und schenkte sowohl dem Gewinner als auch dem Verlierer jeweils einen Schnaps ein, wobei ein Großteil daneben zu Boden pladderte. Es war mittlerweile dunkel geworden, die einzige Lichtquelle war eine starke Baustellenlampe, die von irgendwoher aufgetaucht war. Weithin hallten die Stimmen der Männer durch die Nacht.
„Falki, Falki, du lernst nicht dazu! Ich wette mit dir um 20 Booby-Dollar, dass ich dich in 10 Sekunden auf dem Boden habe!“, grölte Alexander.
Falk zögerte. Er wusste, dass er stark war, und früher hatte er durchaus den einen oder anderen Schulhofkampf gewonnen. Der ältere Mann jedoch, der einen kurzen Oberkörper und muskulöse lange Arme hatte wie ein Affe, war überraschend wendig und hatte ihn jetzt schon mehrfach mit wenigen Handgriffen unschädlich gemacht. Immer wenn Micha an der Reihe war, beobachtete Falk Alexanders Technik – er schien im Voraus jede Handbewegung seines Gegners zu ahnen, wehrte Angriffe ohne Hast mit erhobenen Unterarmen ab, um im nächsten Moment mit gezielten blitzschnellen Vorstößen eine eisenharte Pranke um alle möglichen Gliedmaßen zu legen, so dass er seinen Gegenüber mit einer einzigen ruckartigen Bewegung zu Fall bringen konnte. Einmal warf er Micha, der einen Kopf größer war als sein Vater, schwungvoll über seinen Rücken wie einen Sack mit Beinen und Armen, und ließ ihn krachend in den Sand fallen. Micha rappelte sich zwar sogleich auf, stolperte jedoch auf dem Weg zu Igor, der ihm schon seinen Schnaps hinhielt und fiel gleich noch mal.
So besoffen bin ich noch nicht, dachte Falk.
„10 Sekunden?! Da halt ich gegen.“, rief er entschlossen. „Ich hab aber keine Booby-Dollar.“
„Macht nix. Kannst du ja dann dort eintauschen!“
„Jetzt kämpft ihr schon um Booby-Dollar?“, meinte Michail. „Warum nicht gleich um nen Lap-Dance?“
Falk dachte an seinen letzten und bisher auch einzigen Besuch im Booby Booster, der Stripteasebar in der Johannisstraße. Robs hatte damals irgendeine Liebschaft, die gerade zuende gegangen war, angemessen betrauern wollen und ihn und Micha überredet, mitzukommen. Falk hatte die Frauen beobachtet, die auf der erhöhten Bühne im flackernden Licht um die Stangen tänzelten, und die Männer, die auf den Barhockern davor saßen und ab und zu der einen oder anderen einen „Booby-Dollar“ - Scheine, die man für einen Euro am Einlass kaufen konnte - in den Tanga steckten. Die elektronischen Bässe hatten so laut gedröhnt, dass keine Unterhaltung möglich gewesen war und Falk hatte seine beiden Freunde nach einem Bier dort sitzen gelassen und sich beim Rausgehen über den Eintritt geärgert, den er am Einlass hatte bezahlen müssen. Jetzt sagte er:
„Quatsch keinen Mist, Micha! Ich will keinen gottverdammten Lap-Dance. Mit 20 Dollar kann man wenigstens was anfangen. Bier kaufen zum Beispiel. Ist eh schon teuer genug im Booby Booster.“
„Hast recht Falk.“, war Alexanders Meinung. „Außerdem, ich glaub, der Chef dort veranstaltet diese privaten Tänze gar nicht mehr. Gab wohl ein paar Mal Ärger und die Mädels hatten auch keinen Bock mehr drauf, stimmt’s Igor?“
„Na das kann ich verstehen“, meinte Falk. „Ich würd auch nicht vor irgendnem sabbernden alten Kerl, der keinen mehr hochkriegt, in ner kleinen Kammer hintem Vorhang mit dem nackten Arsch rumwackeln wollen!“
Alexander und Michail fingen beide schallend an zu lachen; erst nach einer ganzen Weile prustete Alexander:
„Unser Igor hier, der arbeitet hin und wieder für den Chef vom Booby Booster. Und hat sich früher öfter mal eine solche extra Belohnung gegönnt.“
Micha fügte hinzu:
„Du hast sozusagen grad eine schöne Beschreibung von Igor abgeliefert, Falki.“
Glücklicherweise war Igor nicht nachtragend gewesen. Falk, der von Alexander nach genau 9 Sekunden zu Boden geschleudert worden war, wo er keuchend liegen geblieben war, während Alexander nicht einmal schwerer zu atmen schien, hatte den schweigsamen Russen gleich mit ins Booby Booster eingeladen. Dort würde er seine Wettschuld gegenüber Alexander begleichen müssen. Sie machten keinen Termin aus, es würde sich schon ergeben.
Es war nach zehn, als sich Falk und Micha schließlich aufmachten; beide wollten kurz bei Falk zu Hause unter die Dusche steigen; um elf war der Treffpunkt mit Caro am Markt ausgemacht. Die beiden älteren Männer ließen sie im Garten zurück. Als sie schon auf der Treppe vor dem Eingangstor zum Garten standen, hörten sie, wie Alexander ein Lied anstimmte, ein russisches Wehklagen, in das plötzlich eine zweite Stimme einfiel. Igor sang mit einer Stimme, die dunkel, tief und klar war wie ein Waldsee.