Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 5
Tag 3, Samstagmorgen
ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Falk so ausgeruht wie seit Tagen nicht mehr. Er duschte, putzte sich die Zähne und rasierte sich, verzichtete auf ein Frühstück, und machte sich gegen zehn Uhr auf den Weg in die Stadt. Das Schwert nahm er, wieder in der Scheide und im Lederbeutel verstaut, in seinem Rucksack mit.
Auch heute war die Luft klar, und die Sonnenstrahlen hatten die morgendliche Kühle schon vertrieben. Falk bog in die Karl-Liebknecht-Straße ein, wo er den Straßenbahnschienen in Richtung Stadtzentrum folgte, vorbei an Mehrfamilienhäusern, kleinen Kneipen und Geschäften, einer Kfz-Werkstatt und einem Supermarkt.
Er erreichte die Camsdorfer Brücke. Die Saale war an die dreißig Meter breit an dieser Stelle und die Weiden an den Ufern wurden vom trübe schäumenden Wasser umspült. Noch vor wenigen Wochen hatte er Sandbänke im Flussbett gesehen, erinnerte sich Falk. Starke Regenfälle im August jedoch hatten den Fluss anschwellen lassen. Jetzt strömten braune schlammige Wassermassen unter der Camsdorfer Brücke hindurch und trieben Äste, Plastiktüten und quakende Enten vor sich her.
Falk fuhr entlang der Straßenbahnschienen stadteinwärts, und bog dann nach links ab. Groß und klobig lag hier das Hauptgebäude der Universität, ursprünglich der Herzogssitz der Stadt. Falk war einmal in der großen Aula im Erdgeschoss gewesen, als Robs sein Studium begonnen hatte. Alle neuen Studenten waren feierlich begrüßt worden, und Falk war mitgekommen, weil die Schnittchen und der Sekt umsonst gewesen waren. Es gab hier auch einen sonnigen Innenhof, wo sich Efeu an den Wänden hochrankte. Hier konnte man im Sommer draußen sitzen und sich ein günstiges Essen aus der Mensa schmecken lassen.
Die verschiedenen Institute der Uni waren in der ganzen Stadt verteilt. Das führte dazu, dass die Studenten meist zu Fuß unterwegs waren, um zu ihren jeweiligen Vorlesungsräumen, den Mensen oder den Bibliotheken zu gelangen. In den Cafés, Kneipen und Bars war man darauf eingerichtet, Frühstück noch nachmittags um fünf und Cocktails ab morgens um zehn zu servieren.
Jetzt, in den Semesterferien, waren zwar weniger Studenten als sonst in der Stadt, aber Falk musste trotzdem langsam fahren, als nach rechts unter einem Tordurchgang hindurch in die Marktgasse einbog. Mütter schoben Kinderwagen durch die Gegend, außerdem waren Rentner unterwegs, die am Samstagvormittag ihre Besorgungen erledigten, sowie Familien, Schüler in kichernden Grüppchen und verschlafende Mittzwanziger. Falk bog gleich wieder links in die Unterlauengasse ab und schloss sein Fahrrad ab. Er ging kurz ein paar Schritte zur Sparkasse, wo er seinen Teil der Miete an Peter überwies. Wieder mal war damit sein Konto schon zum Anfang des Monats so gut wie leer. Falk trat hinaus in die Sonne. Hinter der Fleischerei an der rechten Seite der kopfsteingepflasterten Unterlauengasse konnte er schon das Messingschild sehen. Dort war der Goldschmiedeladen.
Die Hände in den Hosentaschen, das Gewicht des Schwertes in seinem Rucksack spürend, schlenderte Falk die Gasse hinunter. Die Häuser hier waren schmal, fast alle mit kleinen Läden im Untergeschoss und Mietwohnungen darüber. Der Goldschmied Argot hatte sein Geschäft im Erdgeschoss eines gelb gestrichenen Hauses. Das Messingschild über der Tür war mittels filigran geschwungener eiserner Ranken an der Wand befestigt. Im Kontrast dazu standen die schlicht gearbeiteten Wörter ‚Argot’ und ‚Goldschmiedemeister’, die das große ‚A’ im Kreis umrahmten.
Eine Glocke klingelte leise, als Falk durch die Tür in den Raum trat, der durch das einfallende Tageslicht sowie zahlreiche Lampen an den Vitrinen, in denen Ringe, Uhren, Ketten und anderer Goldschmuck auslagen, hell erleuchtet war. Hinter der Theke stand ein magerer Mann mit buschigem Schnauzer.
Das musste wohl der Goldschmiedemeister Argot persönlich sein, sagte sich Falk. Argot hatte Falk nur kurz gemustert und sich dann wieder dem Pärchen zugewendet, das bei ihm an der Theke stand und mit gedämpften Stimmen über irgendwas diskutierte. Unschlüssig, was er tun sollte, betrachtete Falk die Schmuckstücke in den Vitrinen genauer. Als er einen breiten goldenen Ring in die Hand nahm, konnte er auf der Innenseite, winzig klein eingraviert, das Zeichen des Goldschmieds erkennen: das ‚A’ im Kreis.
„Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“
Urplötzlich war Argot neben ihm aufgetaucht. Er war bestimmt einen Kopf kleiner als Falk und hatte nur noch einen spärlichen grau-braunen Haarkranz am Kopf, der die glänzende Glatze umschloss, auf der bräunliche Altersflecken verteilt waren wie Kaffeespritzer.
„Auf Wiedersehen.“, verabschiedeten sich unterdessen die beiden Kunden von eben. Eine rundliche Frau, etwa in Argots Alter, die Falk vorher gar nicht bemerkt hatte, hielt ihnen die Tür auf, und ging danach hinter die Theke, während Argot neben Falk stehen blieb.
„Äh, ich suche eigentlich was für meine Freundin…“, improvisierte Falk.
„Sie wollen heiraten? Glückwunsch.“
„Heiraten? Naja, eigentlich noch nicht.“
„Dann sind Sie hier bei den Trauringen aber falsch. Wir haben schönen Modeschmuck, gleich hinter Ihnen.“
Falk begann zu schwitzen. Meister Argot, wenn er es denn war, machte ihn nervös. Er sprach mit krächzender Stimme, seine kleinen Augen hinter der Brille lagen tief in den Höhlen und beobachteten Falk stechend.
Ich könnte ihm das Schwert einfach zeigen, wer weiß, vielleicht würde er es kennen, überlegte Falk. Aber wie sollte er erklären, wo er es herhatte? Entschuldigung, ich habe ein altes Schwert mit Ihrem Zeichen drauf, wissen Sie da zufällig etwas drüber? Ich habe es übrigens aus einem verfallenen Holzhaus, in dem kurz darauf eine tote Frau gefunden wurde…
Nein, er musste sich eine passende Erklärung zurecht legen, wie er dazu gekommen war. Vielleicht könnte er es auf dem Dachboden gefunden haben? Bei seinen Großeltern? Falk versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal eine vergleichbare Flunkerei auch nur halbwegs glaubhaft aufgeführt hatte, aber es gelang ihm nicht. Selbst im Schultheater war er nur für Licht und Ton verantwortlich gewesen, weil er als Schauspieler einfach kein Talent besaß.
Argot war derweil hinter seine Theke zurückgekehrt, wo er irgendwas zu polieren begann. Er ignorierte die Frau, die neben ihm stand, warf dafür aber Falk in regelmäßigen Abständen misstrauische Blicke zu.
Er würde hier nichts in Erfahrung bringen können, erkannte Falk enttäuscht, und wollte sich schon zum gehen wenden, als die Türglocke klingelte und gleich mehrere Kunden den Laden betraten. Jemand fragte mit heller Stimme:
„Guten Tag, sind Sie Meister Argot?“
Falk spitze die Ohren. Der Alte brummte zustimmend, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
„Das ist ja großartig, zu Ihnen wollte ich nämlich!“, rief die junge Frau, die zu dem Goldschmiedemeister an die Theke getreten war, erfreut. Falk sah sie nur von hinten, sie war schwarz gekleidet, hatte streichholzdünne Beine und trug einen ausgebeulten schwarzen Bundeswehrrucksack auf dem Rücken, den sie nun abnahm und auf die Theke knallte, direkt unter Argots Nase. Der hatte ihr Lächeln nicht erwidert.
„Ich möchte Sie wirklich nicht aufhalten, Herr Argot, Sie haben sicherlich sehr viel zu tun.“
Dabei machte sie eine unbestimmte Handbewegung in den Laden hinein. Falk erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht und einen kleinen Stecker, der an ihrem Nasenflügel glitzerte. Glattes dunkelbraunes Haar fiel ihr in die Stirn und als sie es wegwischte, sah er, dass sie auch in der Augenbraue einen Piercingring trug.
Argots Miene blieb starr, doch die junge Frau vor ihm redete unbeirrt weiter:
„Deshalb will ich es auch ganz kurz machen. Ich mache eine Radiosendung über die Geschichte des Handwerks in Jena. Bei Radio OKJ, dem Offenen Kanal Jena, Sie wissen schon. Ach entschuldigen Sie, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.“
Sie streckte Argot über die Theke hinweg die Hand hin, die dieser notgedrungen ergriff.
„Carolina Schubert, Geschichtsstudentin, 9. Semester.“, erklärte sie. „Die Sendung wird ganz hervorragend passen zu der Ausstellung über das Jenaer Handwerk im Stadtmuseum, die gerade vorbereitet wird.“
„Das ist ja sehr schön, Fräulein Schubert, aber was habe ich damit zu tun?“
„Nun, ich würde gerne ein Interview mit Ihnen führen, Herr Argot!“, rief sie und strahlte ihn an, als hätte sie ihm soeben verkündet, dass er im Lotto gewonnen habe. Argot blieb stumm, was Carolina Schubert nicht zu stören schien.
„Ihre Familie ist eine der ältesten Handwerksfamilien hier in Jena. So was muss man doch herausstellen, das ist unheimlich spannend. Mittelalter ist voll im Trend!“
Aus dem Augenwinkel beobachtete Falk den Goldschmied, der nicht den Eindruck machte, als ob er sich auch nur im Geringsten für Trends interessierte. Und tatsächlich beschied Argot:
„Für so etwas habe ich grade wirklich keine Zeit, Fräulein Schubert.“
„Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal. Ihre Vorfahren lassen sich über Jahrhunderte zurückverfolgen, es waren auch Waffenschmiede darunter, und Hufschmiede – glauben Sie mir, die Leute lieben solche Geschichten, die in die Vergangenheit, ins Mittelalter führen!“
Falk traute sich kaum zu atmen, während er innehielt und das Armband, welches er seit einigen Minuten befingert hatte, unbeachtet in seiner Hand baumeln ließ. Er war froh, dass der Schmuckständer ihn halb vor der Theke verbarg. Als er jetzt einen unauffälligen Blick in die Richtung warf, sah er, dass Argot die junge Frau vor ihm aus zusammengekniffenen Augen musterte, wie einen Kratzer in einem Goldring.
„Na gut. Rufen Sie mich heute Abend noch mal an.“ sagte er schließlich.
*
Carolina Schubert notierte sich die Telefonnummer und verabschiedete sich dann so zügig, als hätte sie Angst, Argot könne es sich noch einmal anderes überlegen. Falk beeilte sich, hinter seinem Schmuckständer hervor zu kommen, um ihr die Tür aufzuhalten, so wie es die Frau für die Kunden vorhin getan hatte, doch die Studentin war schon mit schnellen Schritten auf die sonnige Gasse hinaus getreten, wo sie stehen blieb, um in ihrem Rucksack zu kramen. Falk, der ihr gefolgt war, sagte:
„Na, das ist aber ein ganz freundlicher, was?“
Sie sah ihn überrascht an, kniff dann prüfend die Augen zusammen und sagte mit einem Schulterzucken:
„Ach, diese alten Leute, sind immer erst mal misstrauisch.“
Sie fischte eine Packung Zigaretten aus ihrem Rucksack, zündete sich eine an und schien sich zum Gehen umwenden zu wollen. Falk überlegte nicht, die Eingebung war ganz plötzlich da.
„Entschuldigung, dass ich dich jetzt so direkt frage, aber ich hab eben zufällig mitgehört und da hast du gesagt, du machst eine Sendung im OKJ…“
Er grinste schief in der Bemühung, nicht aufdringlich zu erscheinen. Zumindest blieb sie stehen, und musterte ihn genauer. Kurz schien sie abzuwägen, ob er sie gerade anbaggerte, eine Bedrohung darstellte, oder schwachsinnig war. Schließlich blies sie Rauch aus und sagte:
„Wieso, du bist wohl von der Konkurrenz, oder was? Lass mich raten: JenaTV?“
Sie lachte, so als fände sie sich selber ziemlich witzig.
Nicht im Geringsten!, versicherte Falk. Vielmehr interessiere er sich schon länger für den Radiosender. Er und ein paar Freunde seien nämlich dabei, ein Fußballturnier zu organisieren und hätten sich überlegt, dass etwas Werbung nicht schaden könne. Ob es da vielleicht eine Möglichkeit gäbe, beim OKJ?
„Naja, so direkt Werbung ist eigentlich nicht erlaubt. Aber es kann jeder, der gerne etwas mitteilen möchte, dort eine Sendung produzieren. Kosten tut es nix. Ihr müsstet wahrscheinlich einfach eine Sendung über eure Truppe und euer Turnier machen. Wobei…“ Sie sah ihn abschätzend an und fuhr dann fort: „…mich persönlich als Hörer das vermutlich nicht die Bohne interessieren würde!“
Dabei prustete sie wieder los, als könne sie es gar nicht verhindern. Als sie sein verdattertes Gesicht sah, setzte sie hinzu:
„Im Übrigen hab ich auch keine Ahnung, ob sich irgendwer für meine eigenen Sendungen interessiert. Ist aber egal. Der OKJ wird von öffentlichen Geldern finanziert, es gibt keine Einschaltquoten oder so. Du kannst dort also auch eine Stunde lang über Kartoffelbrei diskutieren, oder die Volksmusik deiner Tante einspielen. Bloß rechtsradikalen Scheiß, den darfst du natürlich nicht bringen!“
Nachdem sie ihn einmal als ungefährlich eingestuft hatte, wirkte sie, als wäre es das Normalste der Welt, mit einem Fremden auf der Straße zu plaudern. Falk fiel auf, dass ihre Augen so tiefschwarz geschminkt waren, als hätte sie sie mit einem Edding umrandet. Er tat so, als würde er sich das Gesagte durch den Kopf gehen lassen. Auf den Gedanken, über das Turnier im OKJ zu berichten, war er noch nie zuvor gekommen und er war selber überrascht, wie locker ihm die Notlüge über die Lippen gekommen war. Andererseits, vielleicht war das ja sogar wirklich eine gute Idee? Gleichzeitig überlegte er, wie er das Gespräch wieder auf den Schmiedemeister Argot lenken könnte.
„Also, mich würde das Thema deiner Sendung aber schon interessieren.“, sagte er schließlich unvermittelt. „Das mit dem Handwerk in Jena.“
„Das freut mich!“ Sie trat die Zigarette aus und fragte, plötzlich ganz geschäftig: „Kennst du noch weitere Handwerksbetriebe? Die richtig alt sind?“
„Naja, nicht direkt. Der Friseurladen, am Markt, den gab es auf jeden Fall schon zu DDR-Zeiten.“
Falks Mutter arbeitete in dem Laden und wurde nie müde, zu betonen, wie lange schon.
„Nee, das ist nicht alt genug.“, meinte Carolina betrübt. „Was ich suche, sind mittelalterliche Betriebe. Und im Mittelalter gab es noch keine Friseure, da übernahmen die Bader das Haareschneiden.“
Es entstand eine kurze Pause, in der beide unschlüssig herum standen. Ganz offensichtlich wusste Carolina Schubert nicht, was er von ihr wollte. Kein Wunder, dachte Falk, das wusste er ja selber auch nicht so richtig. Am Ende sagte sie aufmunternd:
„Du kannst dich ja mal auf der Internetseite des Senders umschauen. Wenn ihr euren Fußballkram im Radio vorstellen möchtet, findest du dort alle wichtigen Informationen. Und wenn es dich interessiert: da steht auch, wann meine nächste Sendung läuft. Ich glaube, in drei Wochen. Muss mich langsam echt ranhalten. Bisher habe ich nur einen Steinmetz gefunden, der mir ein Interview geben wollte.“
Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen, sagte aber noch über die Schulter:
„Ich bin übrigens Caro. Wenn du auf der Seite vom OKJ nach meinem Namen suchst, findest du auch meine Email-Adresse. Falls dir doch noch ein mittelalterlicher Handwerksbetrieb einfällt!“
Sie winkte und entfernte sich dann mit so schnellen energischen Schritten, dass entgegenkommende Passanten ihr ausweichen mussten.
Ich bin Falk, dachte er. Schön, dich kennen zu lernen.
*
Während er zu seinem Fahrrad zurückging, fragte sich Falk, ob Caro ihn nun für den letzten Depp hielt. Wobei, auch wenn sie ihm nicht gleich ihre Telefonnummer gegeben hatte, so doch immerhin den Hinweis, wie er mit ihr in Kontakt treten könnte. Und vielleicht könnte sie ihm ja wirklich helfen? Sie war selber an Argot interessiert, und schien sogar ziemlich gut Bescheid zu wissen über den alten Goldschmied – immerhin hatte sie ihn auf dessen Vorfahren angesprochen.
Somit war sein vormittäglicher Ausflug auch nicht ganz umsonst gewesen, denn zumindest wusste er nun, dass der Betrieb der Familie Argot schon sehr lange in Jena ansässig war – einer der ältesten Handwerksbetriebe der Stadt, hatte Caro gesagt -, und dass die Argots früher Waffenschmiede gewesen waren. Es war also durchaus möglich, dass einer der Vorfahren von Franz Argot das Schwert hergestellt hatte. Das Schwert, das er nun in seinem Rucksack herumtrug.
Er könnte wirklich versuchen, über die Internetseite vom Offenen Kanal Jena Kontakt zu Caro aufzunehmen, dachte Falk. Versuchen, herauszufinden, was sie alles über Franz Argot und dessen Vorfahren wusste. Offensichtlich redete sie ja viel und gerne.
Falk dachte an seinen üblichen Erfolg bei Frauen. Oder wohl eher Misserfolg. Auf Partys jedenfalls schienen ihm die ganzen herumstehenden, rauchenden, kichernden Tussis mit jedem ihrer Blicke zu verstehen zu geben, dass er gar nicht erst zu versuchen brauche, sie anzusprechen. Was ihm nur Recht war, er war ja eh nicht an denen interessiert. Also sah er am Ende des Abends für gewöhnlich dabei zu, wie Micha und Robs die Mädels abschleppten, kehrte dann auf einen Burger bei McDonalds ein und radelte allein nach Hause.
Falk seufzte. Für einen kurzen Moment dachte er an Julia, die jetzt schon seit zwei Jahren in Erfurt studierte. Am Anfang hatten sie sich noch abgewechselt, ein Wochenende fuhr er nach Erfurt und übernachtete bei ihr in der WG, ein Wochenende kam sie nach Hause, nach Jena. Dann war irgendwann nur noch er gefahren. Und dann hatte sie ihm bei einem seiner Besuche unter Tränen gesagt, dass es „einfach nicht mehr ginge“, womit ihre Beziehung, die immerhin fast drei Jahre angedauert hatte, beendet gewesen war. Jene Nacht hatte er auf einem Klappstuhl verbracht, in ihrer WG-Küche, und war dann im Morgengrauen zum Bahnhof gelaufen, wo er den ersten Zug nach Jena genommen hatte. Seitdem war er weder in Erfurt gewesen, noch hatte er etwas von Julia gehört. Was auch nicht weiter schlimm war, da Erfurt ohnehin für jeden Fan des FC Carl Zeiss Jena eine Stadt war, die es eigentlich gar nicht gab.
Apropos Fußball: Falk warf einen Blick auf sein Telefon und beschloss, Frauen, Schwerter und mürrische Goldschmiede für den Moment sich selbst zu überlassen und sich stattdessen wichtigeren Dingen zu widmen. Er wählte Michas
Tag 3, Samstag
Micha ging mit Grabesstimme ans Telefon und teilte Falk mit, dass er ihn soeben aus dem Tiefschlaf gerissen habe. Falk kündigte an, er sei in fünf Minuten da, und besorgte frische Brötchen und Frikadellen auf dem Markt. Im Vorbeigehen sah er seine Mutter im Salon „Amadeus“ einer Kundin die Haare waschen und dabei unentwegt plappern. Hastig, bevor sie ihn entdecken konnte, schob er sein Rad weiter und klingelte kurz darauf bei seinem Freund. Micha wohnte über einem indischen Restaurant am unteren Ende des in diese Richtung leicht abfallenden Marktplatzes, und im Hausflur roch es intensiv nach Curry und Zwiebeln.
Gähnend erschien Micha an der Tür, in Boxershorts und einem riesigen lilafarbenen Sweatshirt mit dem Namen irgendeiner US-amerikanischen Sportmannschaft drauf. Als Falk sich erkundigte, ob er das aus der Altkleidersammlung habe und Micha nur müde brummte, entschied Falk, dass sein Freund dringend einen Kaffee benötigte. In der Küche, die so blitzsauber war wie ein Behandlungsraum beim Zahnarzt, fand Falk den Wasserkocher und eine Dose mit Kaffeepulver. Er häufte einen Löffel in eine Tasse, goss kochendes Wasser darüber und stellte Micha das Getränk vor die Nase. Der hatte mittlerweile seine Brille gefunden, sich eine Jogginghose übergezogen und war dabei, vom vergangenen Abend zu berichten, der mit Konrad und ein paar anderen Kumpels in einer Kneipe beim Bundesliga gucken begonnen und in einem Club nahe des Westbahnhofs geendet hatte.
„Hendrik stand an der Tür, bin umsonst rein“, sagte er zwischen zwei Bissen Frikadellen-Brötchen. Falk langte ebenfalls zu.
„Sind deine Mitbewohnerinnen eigentlich da?“, fragte er.
„Hör bloß auf!“, sagte Micha. „Hab beide seit Wochen nicht gesehen. Kommen wahrscheinlich auch die ganzen Semesterferien nicht mehr. Zum Abschied lag ein Zettel hier aufm Küchentisch – ich soll doch bitte den Kaktus gießen!“
Micha deutete auf ein stacheliges Gewächs, dass in einem Plastikgefäß auf der Fensterbank verkümmerte.
„Kapierst du das, Mann? Ein Zettel! Den Kaktus gießen!“, rief er entrüstet. „Da war sogar so ein hässlicher Smiley daneben gemalt!“
Diese Art der Kommunikation war ihm so fremd, als hätten auf dem Zettel chinesische Schriftzeichen gestanden. Micha schob den letzten Bissen seiner Frikadelle in den Mund und wischte sich mit dem Handrücken die Krümel aus dem Gesicht. Dann wusch er sich die Hände an der Küchenspüle, nahm seine Brille ab, und säuberte auch diese gründlich. Er blinzelte Falk mit den zusammengekniffenen Augen eines Kurzsichtigen an:
„Wie sieht’s aus, was starten wir?“
„Ich dachte an Fußball spielen.“
„Hast du schon jemanden angerufen?“
„Nee. Das mach ich, während du kacken gehst.“
Falk tätigte ein paar Anrufe und setzte sich anschließend in Michas Zimmer an den Computer. Im Internet klickte er sich zu der Seite des Offenen Kanals Jena.
Als sein Freund ihm über die Schulter schaute, fragte Falk:
„Kennst du diesen Radiosender? OKJ?“
„Klar.“, meinte Micha. „Da kommt manchmal nachts ziemlich gute Musik.“
„Ich hab vorhin ein Mädel kennen gelernt, die dort Sendungen macht.“
Falk deutete auf den Bildschirm, wo eine Liste regelmäßig im OKJ zu hörender Sendungen, mit den Namen und Kontaktdaten der dafür verantwortlichen Personen zu sehen war. Carolina Schuberts Sendung hieß ‚Wie es Euch gefällt’, und kam laut Plan alle vier Wochen, immer am letzten Sonntag des Monats.
„Du hast ein Mädel kennen gelernt?“, bemerkte Micha. „Es geschehen noch Wunder!“
Falk zuckte mit den Schultern. Micha beschwerte sich:
„Schade, dass kein Foto dabei ist.“
„Dafür ihre Email-Adresse .“
Falk überlegte, dann öffnete er seinen Email-Account und tippte los:
‚Hallo Fräulein Schubert’, begann er. Er sei der Typ aus dem Goldschmiedeladen, und ob sie nicht Lust habe, heute Abend ins Para zu kommen, zum grillen.
Er hielt kurz inne und ersetzte dann „Para“ durch „Paradies-Park“, da er nicht wusste, ob Carolina Schubert von hier kam und wusste, dass die weitläufigen Auenwiesen nahe der Saale, das Paradies, im Allgemeinen nur Para genannt wurde. Dann fügte er seiner Mail noch hinzu, dass er zwar keine weiteren alten Handwerksbetriebe aufgetrieben habe, dafür aber vielleicht eine Sache habe, die sie interessieren könne.
„Und was soll das für eine Sache sein?“, fragte Micha, der ungeniert mitlas. „Ich hoffe doch wohl kein Körperteil von dir!“
*
Da sie sich für vierzehn Uhr zum Fußball spielen verabredet hatten, fuhr Falk eilig in seine Wohnung, zog sich um, zerrte den Lederbeutel achtlos aus seinem Rucksack und stopfte stattdessen seinen Fußball hinein. Fast zwei Stunden verbrachte er dann mit Micha und ein paar Freunden auf dem Bolzplatz bei ihrer alten Schule, bevor er zu Hause in aller Ruhe duschte und schließlich am frühen Abend wieder in die Stadt fuhr. Vorher hatte er noch kurz seine Emails gecheckt. Von Carolina Schubert war keine Nachricht gekommen.
Er stellte sein Rad am Markt ab. Ein großer Teil der historischen Gebäude hier war aufwendig saniert worden. Wo das nicht mehr möglich gewesen war, hatte man Neubauten dazwischen gesetzt, so dass eine ungewöhnliche Mischung aus Fachwerk und Glasfassaden entstanden war. Das Rathaus an der unteren Ecke des Marktplatzes besaß einen schattigen Torbogen vor dem schweren hölzernen Eingangstor, und einen Turm mit einer Turmuhr, über deren riesigem Zifferblatt gerade der kleine hölzerne Kopf des Jenaer Schnapphans mit weit aufgerissenem Mund auftauchte und sich an dem aussichtslosen Unterfangen versuchte, die goldene Kugel zu schnappen, die ein Engel ihm verlockend vor die Nase hielt. Er schnappte sechs Mal, ein Versuch für jede Stunde des Tages.
Das älteste Gebäude am Platz beherbergte das Stadtmuseum – ein schmales Fachwerkhaus, dessen tiefschwarze Balken sich vom leuchtend gelb angestrichenen Putz abhoben. Mitten auf dem Markt stand die überlebensgroße dickbäuchige Statue des Jenaer Universitätsgründers, Kurfürst Johann-Friedrich von Sachsen, genannt Hanfried. Warm fielen die Strahlen der tief stehenden Sonne auf den Platz und auf die Tische der ansässigen Cafés und Restaurants, wo man beisammen saß, bei einem späten Milchkaffee oder einem frühen Bier.
Falk klingelte bei Micha, und wenige Minuten später tauchte sein Freund in der Haustür auf.
Er hatte sich umgezogen und trug nun Jeans und ein enges T-Shirt, das seinen hageren aber durchtrainierten Oberkörper betonte. Sein Haar, das schon früh weit hinter die Schläfen zurückgewichen war, war so kurz geschoren, als wolle er der US Army beitreten, aber ein paar sorgfältig in Form getrimmte Koteletten schmückten seine ansonsten glatt rasierten Wangen. Micha umwehte ein billiger Männerduft und er sah unternehmungslustig aus.
„Hat das Mädel dir zurück geschrieben?“, wollte er wissen. „Die vom OKJ?“
Falk verneinte, und erzählte dann, um Micha keine Gelegenheit zu weiteren Fragen Caro betreffend zu geben, dass es beim Offenen Kanal die Möglichkeit gäbe, eine Sendung über ihr Fußballturnier zu produzieren.
„Um die Sache publik zu machen, verstehst du?“
„Dazu bräuchten wir erst einmal einen Platz.“, gab Micha richtigerweise zu bedenken.
Da sie an dieser Stelle wie immer nicht weiterkamen, beließen sie es dabei, kauften ein paar Bier und etwas Fleisch in dem kleinen Supermarkt um die Ecke und gingen dann weiter in Richtung Paradies.
Der weitläufige Park erstreckte sich längs der Flussufer, und begann nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt. Es gab mehrere große Wiesen mit kleinen Baumgruppen dazwischen, einen asphaltierten Skatepark, einen Spielplatz und das Paradies-Café mit einem kleinen Biergarten. Eine Fußgängerbrücke führte über den Fluss, der hier über ein niedriges Wehr rauschte.
Falk und Micha schlenderten an der Saale entlang und hielten auf eine der Wiesen zu, die unter den dichten Rauchschwaden zahlreicher tragbarer Holzkohlegrills lag. Halb Jena schien sich am heutigen Abend dort versammelt zu haben, um in kleinen und größeren Gruppen zusammen zu stehen oder zu sitzen, Frisbees und Bälle durch die Gegend zu werfen, und dabei Bier zu trinken und Würste zu verspeisen. Auf dem Parkplatz neben der Wiese standen einige Autos mit weit geöffneten Heckklappen, aus denen HipHop dröhnte und sich mit den Klängen von Gitarren und Trommeln einer Gruppe wild umhertanzender Jugendlicher vermischte.
Micha blieb bei ein paar Bekannten stehen, während Falk Konrad entdeckte, der mit Fönfrisur, kariertem Hemd und Stoffhose wie das Klischee eines Schwiegermutterlieblings aussah, diesen Eindruck aber sogleich zunichtemachte, als er grölte:
„Falk, du ED-Fauler! Mach mal gleich Druckbetankung, wir haben schon ordentlich angedockt!“
Er stand inmitten einer Gruppe von vier oder fünf Leuten, die Falk flüchtig kannte, neben ihnen ein halbleerer Bierkasten und ein Grill, an dem sich Konrads jüngerer Bruder halbherzig mit den Kohlen befasste. Auf einer Decke saß Jana, Konrads Freundin, mit ein paar Mädels, die Sekt aus Plastikbechern tranken. Falk stellte sich zu den Jungs und machte ein Bier an seinem Gürtel auf. Klirrend stießen die Bierflaschen zusammen, jemand kickte einen Fußball in ihre Richtung, den Falk mit einer Drehung zurück köpfte, der langhaarige junge Kerl neben Konrad holte ein Flasche Wodka raus, von der er offenbar selbst schon großzügig genippt hatte und Falk wusste, es würde ein guter Samstagabend werden.
*
Selbst als es längst dunkel geworden war, strömten immer noch Leute aus der Stadt auf die Wiese und bildeten neue Grüppchen oder stießen zu ihren Freunden. Mittlerweile war schon mehrfach ein Streifenwagen der Polizei über den Parkplatz gerollt, was allerdings niemanden störte, und auch die Beamten schienen nachsichtig aufgelegt zu sein und machten keinen Ärger.
Falk war gesättigt von mehreren Steaks und mit sich und dem gegenwärtigen Moment im Reinen, nach den drei Bier, die er bereits getrunken hatte. Micha hatte er schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Konrads Bruder hatte sich gerade mit seinem langhaarigen Kumpel auf den Weg zu den Büschen am Rand der Wiese gemacht.
Mit Konrad hatte Falk eine Wette laufen, welche der anwesenden Frauen ihren aktuellen Becher Sekt als erste austrinken würde, und war gerade dabei, Jana, auf die er gesetzt hatte, zu schnellerem Trinken zu ermutigen. Als sie sich stattdessen eine Zigarette anzündete, warf er einen nervösen Blick auf den halbleeren Becher ihrer Freundin Maria.
Konrad wedelte schon grinsend mit einem Fünf-Euro-Schein. Da entfernte sich Maria mit ihrem Becher in der Hand ein paar Schritte, um irgendwen zu begrüßen. Das verschaffte Falk Luft. Unterdessen hatte Jana jedoch eine ihrer berüchtigten Flaschen, diesmal gefüllt mit einem trüben dunklen Gebräu, aus ihrer Tasche gezogen und bot den Männern davon an. Immerhin nahm sie selber keinen Schluck und nippte stattdessen an ihrem Sekt.
„Selbstgemachter Schlehenschnaps.“, erklärte sie, und stieß mit einem niedlichen kleinen Rülpser auf. Konrads Freundin sah genauso bieder aus wie er, konnte aber die meisten Männer, die Falk kannte, locker unter den Tisch trinken.
Falk ließ sich eine großzügige Portion des Schlehenschnapses in einen Pappbecher gießen, stieß mit Jana und ihrem Sekt an, und nahm, in der Hoffnung, dass sie es ihm gleich tun würde, einen kräftigen Schluck, was dazu führte, dass er sich, einen Hustenanfall unterdrückend, mit tränenden Augen abwenden musste.
„Vorsicht, er ist stark!“, warnte Jana überflüssigerweise.
Als Falk wieder klar sehen konnte und bei einem kleinen Ausfallschritt kurz seine Blicke schweifen ließ, bemerkte er, dass sich Janas Freundin gerade mit einem dünnen Mädel in schwarzen Klamotten und einer Zigarette in der Hand unterhielt. Das Licht eines Lagerfeuers in der Nähe spiegelte sich in ihren dunkel geschminkten Augen.
„Hey, haben wir uns nicht schon mal geseh’n?“, sagte Falk, dachte sogleich, dass das total dämlich klang, trat aber dennoch, die Schnapsflasche noch in der Hand, heran. Stirnrunzelnd schaute Carolina Schubert auf, bevor sich ihre Miene erhellte:
„Hey!“, sagte sie. „Ich hab deine Email gelesen. War auf der Suche nach dir, und da hab ich Maria gesehen.“
„Woher kenntn ihr euch?“, lallte diese. Falk erinnerte sich, dass sie mit Jana gemeinsam irgendwo in der Verwaltung der Uni arbeitete und die nervige Angewohnheit besaß, nie ihre eigenen Getränke mitzubringen.
„Ach, wir sind uns bloß heute Vormittag zufällig über den Weg gelaufen.“, meinte Caro nun zu ihr, Falk nicht aus den Augen lassend. „Als ich gesehen hab, dass ich eine Mail von einem Falk Bauersbach bekommen hatte, wusste ich erst gar nicht, wer das sein soll. Du hattest dich ja vorhin gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich!“
„So bin ich. Aber ich mach's wieder gut. Hier, willst du mal probieren? “
Er bot Caro die Flasche mit dem Beerenschnaps an.
„Nein danke“, sagte sie, das Gebräu misstrauisch beäugend. „Ich vertrag nicht so viel Alkohol.“
„Ich nehm nen Schluck“, verkündete Maria. „Kann den Sekt sowieso nicht mehr sehen!“
Sie schüttete sich den Rest aus ihrem Becher in den Mund, und zog gleich mit der ganzen Schnapsflasche davon. Sogleich hörte Falk Konrad hinter sich triumphieren. Er trat mit Caro zu den anderen und stellte sie vor, bevor er unauffällig seine Wettschuld bei Konrad beglich.
Schon kurz darauf hatten Caro und Konrad festgestellte, dass sie sich aus der Mensa der Uni kannten. Konrad fragte, ob sie eigentlich „aus dem Westen“ käme – was natürlich nicht weiter schlimm sei!, wie er versicherte, er habe sich nur gefragt, wegen ihres nordischen Dialekts.
Weiter kam er nicht, denn Falk hatte ihm einen kräftigen Stoß verpasst, doch Caro lächelte ihr ebenso spöttisches wie offenherziges Lächeln und erzählte, er habe schon ganz richtig gehört, sie stamme aus Hildesheim, einer „Rentnerstadt“ bei Hannover, und sei zum studieren nach Jena gekommen. Was sie momentan mache?, wollte Konrad daraufhin wissen und als Caro sagte, sie sei bei ihrer Magisterarbeit in Geschichte und sofort hinterher schob, sie wolle nicht darüber reden, lachte Konrad, der gerade im zweiten Anlauf an seiner Diplomarbeit in Betriebswirtschaftslehre arbeitete, laut auf, erklärte, dass man darauf durchaus einen trinken konnte, und schenkte aus einer weiteren Flasche von Janas Schnaps an alle aus.
*
Später standen Falk und Caro etwas abseits von den anderen und kamen wieder auf ihre Begegnung vom Vormittag zu sprechen. Irgendwie war schon wieder ein volles Bier in Falks Hand gelangt, während Caro, die bisher alle Getränke abgelehnt hatte, inzwischen eine Flasche Cola aus ihrem Rucksack gekramt hatte.
„Was hast du denn nun für mich und meine Sendung?“, wollte Caro wissen.
„Naja, meine Mutter, sie arbeitet doch in dem Salon am Markt, von dem ich dir vorhin erzählt hab.“
Caro hörte ihm aufmerksam zu, und Falk bemühte sich um Konzentration. Er fuhr fort:
„Und wo du das vorhin sagtest, das mit den Badern, da ist mir eingefallen, dass da so ein riesiger Holzbottich in der Ecke steht. Sie bewahren, glaube ich, die Handtücher darin auf. Er sieht ziemlich alt aus, du weißt schon, mit so schmiedeeisernen Spangen drum. Und da dachte ich, vielleicht kann ich meine Mutter mal fragen, wo sie den herhaben.“
„Mensch, das wäre ja toll, Falk!“, rief Caro. „Wer weiß, der Zuber könnte durchaus ein paar Hundert Jahre alt sein. Diese Dinger halten ewig. Und eines der Jenaer Badhäuser war am Markt, das weiß ich!“
Sie zog ein kleines Notizbuch hervor und kritzelte ein paar Zeilen hinein.
„Vielleicht frage ich auch selber mal nach, gleich Montag.“, murmelte sie noch.
Ermutigt fragte Falk:
„Hast du denn eigentlich dein Interview mit dem Goldschmied bekommen? Diesem Argot?“
„Ja!“, sagte Caro und warf das Notizbuch achtlos in den Rucksack. Sie erzählte, dass sie ihn vorhin gleich angerufen und für die nächste Woche einen Termin mit ihm ausgemacht habe.
Konrads Bruder stolperte an ihnen vorbei und verschwand in einem nahen Gebüsch, wo kurz darauf würgende Geräusche zu vernehmen waren. Caro machte ein Gesicht, als wolle sie gleich selber kotzen und zündete sich eilig eine Zigarette an. Falk überlegte, mal nach dem Jungen zu sehen, aber glücklicherweise eilte der langhaarige Kumpel, der selber nicht mehr gerade stehen konnte, heran, und Falk zog Caro in eine andere Richtung.
„Und was fragst du den Goldschmied dann im Interview?“, erkundigte er sich, während sie langsam an der Wiese entlang schlenderten.
„Naja, zum Beispiel, wie lange man seine Vorfahren zurückverfolgen kann, woher die Argots ursprünglich kamen, solche Sachen halt.“
„Woher weißt du überhaupt schon so viel über diesen Argot und seine Familiengeschichte? Also zum Beispiel auch, dass seine Vorfahren früher Waffenschmiede waren?“
Überrascht sah sie ihn an.
„Mensch, du hast aber vorhin im Laden genau aufgepasst, als ich mit Argot geredet habe!“
Es schien ihr zu schmeicheln. Sie fuhr fort:
„Wir hatten mal ein Seminar, weißt du, es ging um die ‚Zünfte in Jena’. Da hab ich das erste Mal von den Argots gehört, dieser alten Jenaer Schmiedefamilie, die erst Schwertschmiede waren, und dann im Laufe der Generationen, als handgeschmiedete Waffen nicht mehr in dem Maße gebraucht wurden, zu Hufschmieden und schließlich zu Goldschmieden wurde. Das hab ich mir alles noch mal durchgelesen, ich musste mich ja vorbereiten, bevor ich zu ihm in den Laden gehe. Ich wusste, dass er ein schwieriger Typ ist und ich wollte unbedingt dieses Interview. Also dachte ich, ich wage mal einen Schuss ins Blaue und frage gezielt nach den interessanten Details, also dem, was auch die Zuhörer später wirklich interessiert. Und dazu gehört das Thema Waffenschmied in jedem Fall, das klingt halt einfach spannend. Ich glaub, das Seminar war im 6. Semester oder so. Schon damals hatte ich irgendwie die Idee mit der Radiosendung. Verrückt.“
Wie alt Caro wohl sein mochte, fragte sich Falk. Vielleicht ein bisschen älter als er, Mitte Zwanzig? Unterdessen hatte Caro weiter geredet.
„Es heißt, dass alle, wirklich alle Männer dieser Familie Schmiede waren. Das ist wirklich außergewöhnlich. Ihre Linie lässt sich angeblich bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen!“
Falk zögerte, ob er so tun sollte, als wisse er, wovon sie redete. Robs hätte es sicherlich so gemacht, und Micha auch.
„Also, entschuldige, dass ich jetzt so blöd frage, aber von wann bis wann war denn das eigentlich genau, das Mittelalter?“
Entrüstet sah Caro ihn an.
„Das ist eine sehr gute Frage! Überhaupt nicht blöd! Der Zeitraum ist nämlich in der Fachwelt nicht unumstritten!“
Sie holte tief Luft:
„Eigentlich ist die gängige Lehrmeinung, dass das Mittelalter in Europa mit der Herrschaft durch Karl den Großen begann, also um 700 nach Christus, und mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus endete, also 1492 – wobei der amerikanische Kontinent natürlich schon früher entdeckt wurde, vermutlich von bretonischen Fischern, aber das ist eine andere Geschichte. Was die historische Periode 'Mittelalter' angeht, so sprechen manche Fachleute jedenfalls auch von einem viel längeren Zeitraum, von mindestens 1000 Jahren, und natürlich sind die Grenzen fließend. Worauf man sich halbwegs einigen konnte, ist eine grobe Unterscheidung in drei Phasen: das Frühmittelalter, das Hochmittelalter und das Spätmittelalter.“
Als sie feststellte, dass ihre Colaflasche leer war, nahm sie Falk ungefragt dessen Bier aus der Hand und genehmigte sich einen Schluck, verzog angeekelt den Mund, nur um gleich darauf fort zu fahren:
„Das, was du dir wahrscheinlich unter dem Mittelalter vorstellst - die Burgen, die Ritter, die Kreuzzüge - das war alles im Hochmittelalter, vom 11. bis 13. Jahrhundert ungefähr. Wenn man heute vom ‚Mittelalter’ spricht, ist eigentlich meistens nur dieser vergleichsweise kurze Zeitraum gemeint.“
„Und so lange schon gibt es diese Familie Argot?“, fragte Falk, während er argwöhnte, dass Caro noch nicht einmal bewusst gewesen war, dass sie sich an seinem Bier bedient hatte.
„Angeblich, ja. Weißt du, bei adligen Stammbäumen ist es normal, dass sie sich sehr weit zurückverfolgen lassen. Aber hier handelt es sich um eine Handwerksfamilie!“
Mittlerweile hatten sie sich dem Skatepark genähert, der verlassen in der Dunkelheit lag. Die Rampen und betonierten Schanzen warfen tiefschwarze Schatten auf den Asphalt. Gedämpft drangen die Geräusche von der großen Wiese zu ihnen herüber. Falk verzog sich kurz ins Gebüsch um zu pinkeln. Zurück bei Caro, die im Lichtkegel einer Straßenlaterne gewartet hatte, hörte er irgendwo in einiger Entfernung Michas Stimme, und dann sah er seinen Freund undeutlich auf der anderen Seite des Skateparks. Er stand bei ein paar Gestalten, die allesamt Basekappen trugen. BMX-Räder und Skateboards lagen neben ihnen auf dem Asphalt. Micha winkte zu ihm und Caro herüber und grölte irgendwas, das Falk nicht verstand.
„Wer war das?“, fragte Caro.
„Ach, bloß ein Kumpel.“
Falk ging weiter, weg vom Skatepark, in Richtung des Flusses, Caro immer noch neben ihm. Unvermittelt sagte sie:
„Sie müssen ein paar uralte Dokumente und Urkunden aufbewahrt haben.“
Seinen verständnislosen Blick bemerkend fügte sie hinzu:
„Die Argots. Deswegen können sie wohl ihre Geschichte so weit zurückverfolgen. Das Dumme ist nur, dass niemand es genau weiß. Es ist so eine Art Legende am historischen Institut.“
Was treiben die bloß den ganzen Tag an der Uni, dass sie für so was Zeit haben, überlegte Falk, während Caro weiter redete:
„Mein Dozent damals wollte Herrn Argot sogar zu uns ins Seminar einladen, aber es ist nie dazu gekommen. Wie gesagt, er ist ein echt schwieriger Typ, der alte Goldschmied.“ Sie lachte: „Aber das hast du ja selber auch schon gemerkt.“
Falk bemerkte:
„Da hattest du ja echt Glück, dass du dein Interview bekommst. Angebissen hat er doch eigentlich erst, als du das mit seinen Vorfahren erwähnt hast, oder?“
Sie runzelte nachdenklich die Stirn.
„Jetzt wo du es sagst – das stimmt!“
Falk dachte, dass der Grund für Argots plötzliches Interesse vielleicht bei sich zu Hause, irgendwo unter seinen Klamotten, auf seinem Schlafsofa lag.
*
Sie erreichten die Fußgängerbrücke über die Saale. Die Straßenlaternen warfen schimmernde Lichtreflexe auf das Wasser, welches ein Stück flussabwärts in der Dunkelheit das Wehr herunter rauschte. Ein Pärchen lehnte eng umschlungen am Geländer, und eine Gruppe Jugendlicher taumelte von der anderen Seite über die Brücke. Caro wartete, bis sie vorbei waren und sagte, wieder zu Falk gewandt:
„Das interessanteste an der ganzen Geschichte kommt aber erst noch!“
Sie blieb stehen und sah Falk erwartungsvoll an. Der war noch dabei, das bisher gehörte zu verarbeiten: die Argots hatten früher auch Schwerter geschmiedet, also war es nun so gut wie sicher, dass sein Schwert tatsächlich aus dem Hause Argot stammte. Und es war sehr wahrscheinlich, dass der Goldschmied Argot etwas darüber wissen würde, schließlich schien sich seine Familie bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen zu lassen. Was auch immer Caro bei ihrem Interview mit Argot vorhatte, er musste irgendwie versuchen, sich in diese Sache einzuklinken. Misstrauisch, dass sich ein Fremder so für sie und ihr Interview interessierte, schien Caro jedenfalls nicht zu sein. Im Gegenteil wirkte sie, als wäre es eine angemessene Reaktion. Ob sie keine Freunde hatte?, überlegte Falk. Er bemerkte, dass Caro ihn immer noch durchdringend anstarrte, und fragte hastig:
„Ja, ok, noch interessanter? Was denn?“
„Ich habe ja schon gesagt, dass die Argots legendär sind bei uns Historikern in Jena.“, fuhr sie fort. „Nun, das liegt nicht nur daran, dass man ihre Vorfahren wohl bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen kann. Nein, angeblich verbindet die Argots nämlich darüber hinaus eine Art geschäftliche Beziehung mit einem uralten Thüringer Adelsgeschlecht: der Familie von Leuchtenburg.“
Falk merkte, wie das Bier erneut auf seine Blase drückte, fand es aber unpassend, schon wieder in die Büsche zu verschwinden. Er fragte daher:
„Stammen die von der Leuchtenburg bei Kahla? Die man vom Fuchsturm aus sieht?“
Caro nickte zufrieden.
„Ganz genau. Die Burg wurde im 13. Jahrhundert erbaut. Die Argots stammen wohl ursprünglich aus einem kleinen Dorf gleich daneben, Seitenroda. Und offenbar haben sie immer wieder Schmiedearbeiten für die Leuchtenburger erledigt, schon vor Jahrhunderten. Wie gesagt, angeblich hält diese Geschäftsbeziehung bis heute. Denn die Herren von Leuchtenburg, die haben ihr Geschlecht ebenfalls über die Jahrhunderte gebracht, genau wie die Argots. Trotz Pest und 30-jährigem Krieg, und auch, als sie ihre Hausburg verloren und als einfacher Landadel weiterleben mussten.“
„Und das ist jetzt das interessanteste an der ganzen Geschichte?“, erkundigte sich Falk.
„Aber nein!“
Triumphierend baute sie sich vor ihm auf, was Falk irgendwie putzig fand, da sie mehr als einen Kopf kleiner war und so dünn wie ein Stock. Gleichzeitig musste er jetzt wirklich dringend pinkeln. Kein Bier mehr heute, dachte er und stellte seine fast leere Flasche beiseite, während Caro sagte:
„Die letzte Nachfahrin der Herren von Leuchtenburg, die ist gestern tot aufgefunden worden, in einem alten Holzhaus, hier in Jena! Es war wahrscheinlich ein Unfall, die ist wohl die Treppe heruntergefallen.“
„Bin gleich wieder da.“, sagte Falk, und verschwand hinter einem Busch.
Als er zurückkam, war er wieder in der Lage, klare Gedanken zu fassen, und Caro fuhr fort, zu erzählen. Sie habe am Nachmittag davon gehört, als sie im Studio des Radio OKJ gewesen sei, um noch ein paar Dinge wegen des Interviews mit Argot nächste Woche vorzubereiten. Man müsse sich schließlich anmelden, um das Mikro auszuleihen, und dann habe sie einen Kollegen noch um ein paar Tipps bitten wollen, der sei nämlich nicht nur beim Offenen Kanal, sondern auch bei einem richtigen Radiosender angestellt, so mit echten Nachrichten und allem Drum und Dran, und deswegen hätte er immer gute Ratschläge parat. Und außerdem habe der auch immer die neuesten Meldungen aus Jena parat, zum Beispiel von der Polizei.
„Er sagt also zu mir: ‚Stell dir vor, oben am Hausberg, gleich unterhalb des Fuchsturmes, da haben sie eine tote Frau gefunden, eine gewisse Marie von Flotow.’ Das sagte mir natürlich erst mal nichts. Aber dann erwähnte er den Mädchennamen der Toten. Sie hatte nämlich nicht nur adlig geheiratet, sondern war schon vorher eine Adlige gewesen. Geboren wurde sie als Marie von Leuchtenburg. Und da bin ich dann gleich hellhörig geworden!“
Caro schaute dem Wasser des Flusses zu, das unter der Brücke träge strömend in der Dunkelheit verschwand. Sie zog eine Zigarette aus ihrer Packung, zündete sie an und inhalierte tief.
„So tragisch es ist,“, sagte sie, sich wieder zu Falk umwendend, „Ich konnte einfach nicht anders, ich musste gleich an mein Interview denken. Überleg doch nur: Eine von Leuchtenburg! Und die Vorfahren von Goldschmiedemeister Argot hatten schon Kontakt zu der Familie.“
Sie lächelte wie ein Kind an Weihnachten.
„Ganz gleich, was man im Radio macht: man braucht einen Aufhänger am Anfang, etwas Spannendes, das die Leute dazu bringt, nicht wegzuschalten. Etwas Besseres als diesen Todesfall hätte ich mir für meine Sendung wahrlich nicht wünschen können!“
*
Viel später an diesem Abend, nachdem Caro sich längst verabschiedet hatte und Falk mit Micha zusammen in Richtung Stadt ging, versuchte er, die unverhofften Geschehnisse der vergangenen Stunden zu ordnen.
Rasch hatte sich als Tatsache herausgestellt, was er sofort geahnt hatte: die tote Frau, von der Caro erzählt hatte, war natürlich jene, die dort gefunden worden war, wo Falk und Robs den Lederbeutel mit dem Schwert entwendet hatten: in dem alten Holzhaus am Weg zum Fuchsturm. Caro hatte von ihrem Kollegen beim Radio eine ziemlich genaue Beschreibung des Fundorts der Leiche bekommen, und Falk, beunruhigt nachfragend, war es eiskalt den Rücken herunter gelaufen, als sie davon berichtete: ein verfallenes Holzhaus sei es gewesen, mitten im Wald unterhalb des Fuchsturms, offensichtlich seit Jahren leerstehend und nur von Pennern als Unterschlupf genutzt. Sie hatte sogar gefragt, ob er es kennen würde! Herumdrucksend hatte er gemurmelt, er wäre mal daran vorbei gelaufen, und war heilfroh gewesen, als sie nicht weiter darauf eingegangen war.
Sie hatten sich dann auf den Rückweg zur Wiese gemacht, und als sie sich den im Dunkeln vereinzelt flackernden Lagerfeuern näherten und Falk weiter hinten das rotierende blaue Licht eines Polizeiwagens ausgemacht hatte, war er für einen Moment überzeugt gewesen, nun festgenommen zu werden.
Stattdessen jedoch waren die Polizisten offenbar dort gewesen, um auf dem Parkplatz, wo mittlerweile mehrere Autos mit offenem Kofferraum und dröhnendem Bass aufgetaucht waren, nach dem Rechten zu sehen, und Falk hatte gar keine Zeit gehabt, erleichtert zu sein, denn als sie zu der Stelle kamen, wo sie vorhin gemeinsam mit den anderen gegrillt hatten, war zwischen Konrad und Jana ein Streit im vollen Gange gewesen, der Langhaarige hatte sich auf der Decke zusammengerollt, überall waren leere Bierflaschen und Müll verstreut gewesen, der Grill war umgeschmissen worden und verglühende Kohlen hatten sich im feuchten Gras verteilt.
Caro hatte sich daraufhin mit einem bedauernden Blick auf das Chaos zügig auf den Heimweg gemacht, und Falk hatte begonnen, seine Sachen zusammen zu packen und eine Plastiktüte mit Abfall zu füllen. Von irgendwoher war dann Micha wieder aufgetaucht, bester Dinge und mit mehreren neuen Telefonnummern im Handy.
Gemeinsam liefen Falk und Micha nun durch den dunklen Park, am Bahndamm entlang. In einigen hundert Metern lag der Paradies-Bahnhof hell erleuchtet. Gerade fuhr ein verspäteter ICE auf der Strecke zwischen Berlin und München ein. Falk dachte kurz an den Fußball, der vor einigen Monaten mal oben auf dem Dach über den Gleisen gelandet war. Michas Stimme neben ihm drang wie von weit her in sein Bewusstsein, er telefonierte offenbar mit irgendwem. Falk hatte Zeit zum Nachdenken.
Marie von Flotow, wiederholte er in Gedanken, Marie von Flotow, geborene Leuchtenburg. Abgehoben klang das, unwirklich. An den Brief dachte er auch, auf dem es gestanden hatte: ‚Für Mark von Marie’. Die Familie der Leuchtenburger hatte laut Caro seit Jahrhunderten geschäftliche Beziehungen mit den Argots. Gab es vielleicht einen Mark Argot? War der Brief für einen Mark Argot bestimmt? Der alte Goldschmied selber jedenfalls hieß Franz, das hatte Falk von Caro erfahren.
Auch wenn alles auf einen Unfall hindeutete, gebe es noch keine sicheren Erkenntnisse zu den Todesumständen, hatte sie außerdem erzählt, schließlich sei die Tote ja erst gestern gefunden worden.
Und vorgestern Nacht war er mit Robs in dem Haus gewesen, hatte Falk gedacht. War die alte Marie von Flotow da tatsächlich schon im Haus gewesen? Hatte sie das Geräusch, das er aus dem Obergeschoss zu hören geglaubt hatte, verursacht? Aber warum hatte sie im Dunkeln dort oben gesessen? Hatte sie auf Mark gewartet? Was war geschehen, nachdem er und Robs sich mitsamt dem Schwert aus dem Staub gemacht hatten?
Falk hörte Micha telefonieren, ohne zu verstehen, was er sagte, wie durch eine Watteschicht. Sie hatten den Park mittlerweile durch eine Unterführung unter den Bahnschienen verlassen, und folgten der menschenleeren nächtlichen Neugasse in Richtung Markt.
Immer wieder kehrten Falks Gedanken zu Carolina Schubert und ihrem Interview mit Argot zurück. Angenommen, der alte Schmied bekäme das Schwert zu sehen – was er wohl sagen würde, zu seinem eigenen Zeichen, dort eingraviert auf der Klinge? Und ob er wohl wissen würde, was das zweite Zeichen zu bedeuten haben könnte, gleich darunter?
Falk schüttelte unwillig den Kopf: selbstverständlich war es ausgeschlossen, dem Schmied das Schwert zu zeigen. Denn dann wäre auch eine Erklärung nötig, wo es herstammte. Aber dennoch: dieses Interview, das Caro mit Franz Argot führen wollte, wäre eine ideale Gelegenheit, mehr über die Vorfahren des Goldschmieds zu erfahren, die wiederum vielleicht das Schwert geschmiedet hatten, was nun bei ihm, Falk, zu Hause gelandet war.
Er seufzte. Das Problem an der Sache war, dass er hierfür Caro würde einweihen müssen. Was genauso ausgeschlossen war, wie Schmied Argot selbst einzuweihen. Vermutlich würde sie ihn für einen Dieb oder Schlimmeres halten, wenn er ihr von den seltsamen Umständen erzählte, welche die Besitztümer der toten Adligen zu ihm geführt hatten.
Und obwohl Falk der Kopf schwirrte, obwohl er schon lange nicht mehr so viele Neuigkeiten auf einmal hatte verdauen müssen und er schon lange nicht mehr eine Frau wie Caro kennen gelernt hatte, die ihn so, ja, er konnte noch nicht einmal genau sagen, was sie eigentlich bei ihm bewirkte, trotz allem verspürte er einen gewissen Stolz. Stolz auf den Plan, der ihm, ganz spontan, noch als sie gemeinsam auf der Brücke im Park gestanden hatten, in den Sinn gekommen war:
Da war Caro nämlich dabei gewesen, von zahlreichen weiteren Thüringer Grafengeschlechtern zu erzählen, was sie direkt zu Herrschaftsformen im Mittelalter und von dort aus über den Umweg klösterlicher Besitzungen im Raum Jena zu den modischen Vorlieben adliger Burgdamen gebracht hatte, so dass Falk immer mehr Mühe gehabt hatte, ihr zu folgen, es aber schließlich irgendwie geschafft hatte, ihre Aufmerksamkeit auf den Fluss zu ihren Füßen unter der Brücke zu lenken, um sogleich, ohne sie noch mal zu Wort kommen zu lassen, das Schlauchboot zu erwähnen, welches bei seinen Eltern im Keller liegen würde, und ob sie nicht nächste Woche mal Lust hätte auf eine kleine Paddeltour auf der Saale?
Caro hatte daraufhin ihr spöttisches Lächeln aufblitzen lassen, mit den Schultern gezuckt und geantwortet, dass sie sich schon die ganze Zeit gefragt habe, wann er das endlich vorschlagen würde! Sie hatten ihre Handy-Nummern ausgetauscht, sich für den kommenden Dienstagnachmittag verabredet und Falk hatte, als er den Termin in seinem Handy speicherte, das beruhigende Gefühl gehabt, wieder einigermaßen die Kontrolle über die Dinge gewonnen zu haben.
Am Marktplatz wurde Falk bewusst, dass Micha schon seit einer Weile nicht mehr telefonierte, und schweigend neben ihm ging. Unvermittelt fragte sein Freund:
„Sag mal, wer war eigentlich das dünne Mädel, mit dem du dich da vorhin die ganze Zeit unterhalten hast?“
„Die vom OKJ, von der ich dir erzählt habe.“, sagte Falk.
„Ist ganz süß. Schade, dass sie ständig am qualmen ist. Das ist doch sonst so gar nicht dein Fall.“
Falk überlegte, ob er seinem Freund erzählen sollte, warum er an Carolina Schubert interessiert war. Doch da er dann über kurz oder lang auch das Schwert hätte erwähnen müssen, und die tote Frau, und dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wie das alles zusammenhing, dauerte seine Überlegung nicht lange an. Er entschied sich dagegen.