Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 6
Tag 4, Sonntag
ОглавлениеAm Sonntag wachte Falk gegen zehn bei Micha auf der Couch auf. Nachdem sie gestern Nacht noch stundenlang uralte Computerspiele gezockt hatten, war es Micha nicht schwer gefallen, Falk davon zu überzeugen, dass es Quatsch sei, jetzt noch den ganzen Steinborn hoch zu sich nach Hause zu radeln. Dann würde halt ausnahmsweise mal keine schöne Frau, sondern nur eine alte Stinksocke bei ihm pennen, hatte Micha noch bemerkt, und Falk einen Schlafsack hingeworfen.
Und das wiederum konnte erst ein paar Stunden her sein, dachte Falk gähnend. Dann fiel ihm plötzlich auf, dass Sonntag war. Sonntag, das bedeutete Mittagessen bei seinen Eltern! Er raffte sich auf, mit pelzigen Geschmack im Mund, und tappte zum einzigen Fenster im Zimmer, wo eine alte Wolldecke als Vorhang funkierte. Er zog sie beiseite und warf einen Blick nach draußen, in den Hinterhof. Unten stapelten sich neben den Mülltonnen große blaue Säcke mit Abfällen aus dem indischen Restaurant, oben war der Himmel weiß wie wässrige Milch.
Micha grunzte im Bett.
„Ich hau dann mal ab.“, sagte Falk in dessen Richtung. „Bis die Tage!“
Falk machte sich nicht die Mühe, in den Kühlschrank zu schauen. Noch während er die Stufen im Treppenhaus hinunter trabte, wählte er die Nummer seiner Eltern. Seine Mutter nahm ab und war hocherfreut über seine Ankündigung, er werde dieses Mal schon etwas früher kommen.
Der Marktplatz lag verlassen vor ihm; die Läden hatten geschlossen; die Stühle und Tische der Cafés hatte man übereinandergestapelt und angekettet; erst später, gegen zehn vielleicht, würden die ersten Cafés wieder aufmachen. Falk schwang sich auf sein Rad.
Er fuhr hinunter zum Paradies, und dann zügig weiter, immer links der Bahnschienen, und genoss den Fahrtwind. Durch eine Unterführung gelangte er in eine ruhige Wohngegend mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärtchen, und erreichte schließlich die Stadtrodaer Straße, die in südlicher Richtung aus Jena hinaus führte, im Schatten der Plattenbauten von Lobeda.
Falk überquerte die Straßenbahnschienen und bog dann auf einen der Fußwege ein, die hoch zu den Blöcken führten. In niedrigem Gang fuhr er an einem Supermarkt vorbei, an der Sparkasse, und dem Brunnen, der kein Wasser hatte. Hier kannte er jeden Riss in jeder Steinplatte.
Die Neubaublöcke reihten sich am Hang des Saaletals neben- und hintereinander wie riesige umgedrehte Blumenkästen. Alle gleich, alle grau und alle elf Stockwerke hoch. Wohnte man ganz unten, so sah man aus dem Fenster die Außenwand des gegenüberliegenden Blocks. In der elften Etage jedoch überragte der jeweils obere Block den weiter hangabwärts liegenden, so dass man freie Sicht hatte, bis auf das Stadtzentrum, die Saale, das Gewerbegebiet mit den Stadtwerken und den zwei markanten Heiztürmen, und die bewaldeten Hänge der gegenüberliegenden Talseite.
Im sechsten Stock im vorletzten Block lebten Falks Eltern, so lange er sich erinnern konnte.
Seine große Schwester war noch im Stadtzentrum aufgewachsen, Ende der 70er Jahre, wo die Zimmer der kleinen Wohnung mit Kohleöfen geheizt waren, und das Bad auf halber Treppe mit zwei weiteren Familien geteilt wurde. Die Bewilligung des Wohnungsantrags, den Falks Eltern damals gestellt hatten, war fünf Jahre später, pünktlich zu Falks Geburt im Jahr 1985, erteilt worden.
Die große Vier-Raum-Wohnung in Lobeda war ein Aufstieg in jeder Hinsicht gewesen. Und war es immer noch, dachte Falk, als er die Treppen hochlief. Es gab natürlich einen Fahrstuhl, aber der hielt nur in den ungeraden Etagen, was Anlass ständiger Klagen seiner Mutter war. Sein Vater meinte dann immer, sie solle sich lieber freuen, immerhin sei die Miete noch auf DDR-Niveau.
Aus der Wohnung im ersten Stock ertönte Babygeschrei. In der Etage darüber zeugten durcheinander stehende Schuhe und leere Bierkästen von einer Studenten-WG, wo die Bewohner sicher noch schliefen. Etwas außer Atem kam Falk schließlich oben an, schloss die Wohnungstür auf, zog seine Schuhe aus, trat ein und sog den Geruch seiner Kindheit ein.
Sofort kam ihm seine Mutter entgegen gewuselt. Sie war nur unwesentlich kleiner als ihr Sohn, und hatte Arme vom Umfang seiner Oberschenkel. Sie trocknete ihre Hände an einer geblümten Schürze, die sie über der Jeans und dem grell-pinken T-Shirt trug. Falk bemerkte, dass eine Strähne in ihrem kurzen blondierten Haar in derselben Farbe gefärbt war.
„Hab dich schon auf der Treppe gehört!“, sagte Claudia Bauersbach. „Den Schritt erkenne ich sofort!“
Sie drückte Falk an sich, dann hielt sie ihn auf Armlänge von sich weg, und verzog das Gesicht.
„Du hast doch gesoffen gestern! Hast ne ganz schöne Fahne!“
„Grüß dich, Mutter! Und ihr habt wohl mal wieder ne neue Farbkombi bei euch im Salon ausprobiert?“
Dabei wuschelte er ihr durch die Haare und fügte hinzu:
„Macht dich glatt zwei Jahre jünger!“
Sie versetzte ihm einen kräftigen Klaps und rief über die Schulter:
„Klaus, komm her, dein Sohn ist kaum da und wird gleich wieder frech!“
Aus dem Wohnzimmer tauchte Falks Vater auf, in Begleitung des Rauhaardackels Romeo.
„Das macht er richtig!“, sagte Klaus Bauersbach und umarmte Falk. „Willst du ein Bier?“
„Oh, nee, Vadder, lass mal gut sein. Ich hab heut noch nichts gegessen.“
Klaus nickte ernst. Auch wenn es ihm mit Sicherheit ein Rätsel war, wie man um elf Uhr vormittags noch nichts gegessen haben konnte, war der Einwand offensichtlich einleuchtend. Er sagte:
„Also, ich bin jedenfalls froh, dass du angerufen hast. Ansonsten hätte es nämlich bestimmt wieder nur Suppe zum Mittag gegeben.“
„Was ich mir hier immer anhören muss! Dann koch doch selber! Immer am sticheln, dein Vater, er ist unmöglich!“, rief Claudia.
Der Dackel hatte währenddessen beschlossen, sich vor Falk auf den Boden zu setzten und ihn anzubellen.
„Romeo, aus!“, brüllte Falks Mutter, was der Hund nicht weiter zur Kenntnis nahm und Claudia offenbar auch gar nicht erwartete, denn, geschäftig an Falk gewandt, sagte sie:
„Na gut, komm jetzt erst mal rein. Mittag gibt’s um halb eins, aber du kannst dir ein Brot machen so lange. Weißt ja, wo alles steht.“
Klaus und der Hund verschwanden ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief, während Falk Richtung Küche ging und seine Mutter ihm dicht auf den Fersen folgte. Sie wendete sich einem Holzbrettchen auf der Arbeitsfläche zu, wo sie dabei war, Zwiebeln zu schneiden.
„Es gibt Zucchini und Gehacktes. Dein Lieblingsessen.“, sagte sie über die Schulter. „Und einen Kuchen hab ich grad in die Röhre geschoben.“
Falk warf einen Blick in den Ofen, wo ein ganzes Blech mit russischem Zupfkuchen bereits zu duften begann, dann holte er sich zufrieden einen Teller und ein Messer aus dem Schrank, ein nicht mehr ganz frisches Mischbrot aus dem Kasten, sowie Margarine, Teewurst und Scheibenkäse aus dem Kühlschrank.
Die Küche war so klein, dass kein Platz für einen Esstisch war. Dieser stand im Wohnzimmer, zusammen mit einer gepolsterten Eckbank. Auf der Anrichte an der Wand waren zahlreiche eingerahmte Fotos aufgestellt, zwischen Plastikgrünpflanzen, Stapeln alter Zeitschriften und getöpferten Kunstwerken aus der Schule, noch von ihm und seiner Schwester.
Hinter den Glastüren der Anrichte wurden die Gläser und das gute Geschirr aufbewahrt. Falk holte sich sein Glas aus Kindheitstagen, mit der aufgedruckten Biene Maja, aus dem Schrank, schenke sich einen Saft ein und setzte sich an den Tisch. Er konnte seine Mutter von hier aus in der Küche werkeln hören. Zwei Türen am anderen Ende des Flurs führten in die ehemaligen Kinderzimmer; sie wurden heute als Abstellkammer und Gästezimmer genutzt. Gleich links neben der Eingangstür befand sich das Schlafzimmer der Eltern.
Der Grundriss der Wohnungen hier in den Neubauten war immer gleich, der einzige Unterschied war die Spiegelung jeweils der beiden Wohnungen auf einer Etage. Früher hatte Falk geglaubt, das wäre überall so, und wenn er eines der Nachbarskinder besucht hatte, waren es die vielen kleinen persönlichen Habseligkeiten in den Wohnungen gewesen, vor allem aber die anderen Gerüche und die anderen Stimmen, die jede Wohnung einzigartig gemacht hatten. Über die Jahre hatten die Nachbarn nach und nach ihre Wohnungen renoviert, neue Küchen eingebaut, neue Möbel gekauft, neues Geschirr und neue Vorhänge, doch bei seinen Eltern war alles so geblieben wie immer.
Er schmierte sich eine Stulle von dem altbackenen Mischbrot und betrachtete die gerahmten Fotos. Es gab ein Schwarzweißbild von ihm als Kind, im gestreiften Strampler, bei seiner Schwester auf dem Schoß. Ein vergilbtes Foto der ganzen Familie hing daneben; sein Vater hatte eine ziemlich kurze Jeanshose an und alle hielten ein großes Softeis in der Hand – es musste im Urlaub an der Ostsee entstanden sein. Da war ein streng wirkendes Porträt von Klaus’ Mutter, die sehr früh gestorben war – Falk hatte diese Oma nie kennen gelernt. Und natürlich das Hochzeitsbild seiner Eltern. Claudia regte sich immer noch über die aufgetürmte, wuschelige Dauerwelle auf, die sie damals getragen hatte. Aber sie sei ja noch in der Ausbildung gewesen, wie sie dann immer gleich hinzuzufügen pflegte.
Im Laufe der Jahre waren neuere Fotos dazu gekommen. Da war das Bild von Falks Schwester, Theresa, die gerade mit ihrem Mann die Hochzeitstorte anschnitt. Resas wachsender Bauch war da schon nicht mehr zu übersehen gewesen. Falk erinnerte sich gut an die Feier, er war noch in der Schule gewesen, wahrscheinlich zehnte Klasse, und von grauenhafter Akne geplagt. Seine Cousine und er waren angewiesen worden, den Sektausschank vor dem Rathaus zu übernehmen, was sie mit großer Sorgfalt getan hatten, nicht ohne sich bei jeder Flasche zu vergewissern, dass sie noch gut war. Später, als Resas frisch angetrauter Mann Ronnie in seiner Rede an die Hochzeitsgesellschaft darauf hingewiesen hatte, dass man doch bitte nur die Getränke bestellen solle, die auf der extra vorbereiteten Karte stehen würden, hatte Falks Vater, nach einem Blick auf das Faltblatt – es gab Sekt, Wein und Bier –, seinen Sohn mit an die Bar genommen, und für jeden ein Glas des teuersten Whiskey bestellt. Wie diebisch Klaus sich darüber gefreut hatte, seinem Schwiegersohn eins auszuwischen, nur um dann, gegen Ende der Feier, weinend mit Ronnie im Arm über die Tanzfläche zu wanken, immer wiederholend, er solle ihm nur ja auf seine kleine Resa aufpassen!
Falk überlegte, wann er eigentlich die Kleinen das letzte Mal gesehen hatte. Es musste Monate her sein. Dabei lebten Theresa, Ronnie und die beiden Mädchen nur etwa eine Stunde Fahrtzeit entfernt, in Leipzig.
Claudia kam aus der Küche, setzte sich zu ihm an den Tisch, und betrachtete ihren Sohn versonnen. Falk biss von seinem Brot ab.
„Schön, dass du mal wieder da bist. Wie geht’s denn so? Wie läuft’s auf Arbeit?“, fragte sie.
Falk kaute, trank einen Schluck Saft und meinte:
„Geht schon.“
„Wie ist die neue Sekretärin?“
„Wie soll die sein. Macht ihr Zeug. Ich glaub, der Chef ist zufrieden, nachdem die letzte echt ein Reinfall war, die hat ja…“
Claudia, heftig nickend, unterbrach:
„Das ist dasselbe wie bei uns. Die neue Azubine, die hat gerade erst angefangen, aber ich kann dir heute schon sagen, das wird nie was mit der.“
Ergeben blickte Falk seine Mutter an, und nahm einen weiteren Bissen.
„Sie hat einfach kein Gefühl für den Umgang mit dem Kunden. Weißt du, das ist das allerwichtigste. Der Kunde muss sich wohlfühlen!“
Falk fragte beiläufig:
„Habt ihr eigentlich noch diesen großen Zuber in der Ecke?“
„Natürlich. Da kommen die benutzten Handtücher rein. Es passen drei Ladungen rein.“
Wo es eigentlich her sei, wollte Falk wissen, doch Claudia zuckte nur die Achseln, und kam auf interessantere Dinge zu sprechen:
„Das Geschäft läuft zum Glück richtig gut gerade, auch wenn Semesterferien sind. Liegt an den Stammkundinnen. Ihre Haare wollen die Frauen nun mal schön haben, das war schon immer so. Bloß, dass es früher eben nur drei Friseursalons in der ganzen Stadt gab. Da standen sie dann Schlange bei uns vor der Tür. Naja, wie überall, ne!“
Sie lachte, und sagte dann unvermittelt:
„Trotzdem schade, dieses Mädchen, die war doch eigentlich ne ganz Hübsche.“
„Welches Mädchen denn jetzt?“
„Na, eure letzte Sekretärin. Du hast sie mir mal auf einem Foto gezeigt, von eurem Betriebsausflug! Diese Naturlocken...“
„Mutter!“, sagte Falk scharf und dann, sich umguckend: „Wo ist eigentlich der Vadder hin verschwunden?“
Claudia zuckte die Achseln, stand auf und kramte in ihrer Schürzentasche eine Schachtel Zigaretten hervor.
„Er wird im Keller sein, vermute ich mal.“
„Das trifft sich gut“, sagte Falk. „Ich wollt ihn eh nach dem alten Schlauchboot fragen. Das müsste ja noch irgendwo da rumliegen.“
„Was willst du denn mit dem alten Ding? Naja, kannst ja mal unten schauen.“
Seine Mutter stand schwerfällig auf und ging zum Balkon.
„Frag ihn lieber gleich, ob er die Fernbedienung für die Alarmanlage mitgenommen hat. Nicht, dass er die wieder vergessen hat, wie neulich. Die halbe Nachbarschaft hat er aufgeschreckt, ich sag`s dir.“
„Was war denn da los?“, fragte Falk.
„Und bring ihn dann gleich mit, es gibt bald Essen!“, rief seine Mutter zur Antwort vom Balkon aus durch die angelehnte Tür.
*
Schon von der Kellertreppe aus hörte Falk es in der Ferne rumpeln. Er folgte dem Gang um die Ecke, bis er zu einem mit Holzlatten abgetrennten Abteil kam, das den Kellerraum seiner Eltern bildete, und bis zur Decke vollgestopft war mit Regalen, aus denen Kisten, Tüten und Verpackungen in allen Formen und Größen ragten. Falks Vater stand in der Mitte, mit dem Kreuz eines Preisboxers und den dürren Beinen, die er seinem Sohn vererbt hatte, einem Bauch, der sich unter dem zerschlissenen T-Shirt spannte und einer blau-gelben Schirmmütze des FC Carl Zeiss Jena auf dem Kopf, und sortierte Altglas und Plastikflaschen in große Müllsäcke. Der Dackel saß neben ihm und begann sofort zu bellen, als er Falk bemerkte.
„Hey Vadder. Was machst du?“, fragte Falk sinnloserweise.
„Will hier eben noch was sortieren.“, erklärte Klaus, was ebenso überflüssig war. Dann richtete er sich behände auf und deutete hinter sich. „Und ein paar Einmachgläser mit hoch nehmen.“
Das Halbdunkel hinter Klaus verbarg ein Regal an der hinteren Wand, in dem genügend Vorräte lagerten, um den ganzen Block einen harten Winter lang durchzufüttern. Auf den oberen Regalbrettern standen große bauchige Gläser, gefüllt mit eingekochtem Obst aus dem kleinen Garten, den Falks Eltern schon seit Jahrzehnten oberhalb von Alt-Lobeda pachteten. Da sie es noch nie geschafft hatten, die ganze Produktion einer Saison innerhalb des Winters aufzuessen, kamen jedes Jahr neue volle Gläser hinzu. Es wurden immer die alten zuerst aufgemacht, so dass Falk sich schon als Kind gefragt hatte, wie die Zwetschgen wohl schmecken mochten, wenn sie frisch eingeweckt waren.
„Ich helf dir.“, bot er seinem Vater an und gemeinsam begannen sie, eine Holzkiste voll zu packen.
Falk erkundigte sich, was denn nun schon wieder mit der Alarmanlage los gewesen sei. Er konnte sich noch gut an den letzten Vorfall erinnern: installiert hatte sein Vater das Gerät, als in der Wohnung ein Stockwerk tiefer eingebrochen worden war. Das war Weihnachten letztes Jahr gewesen, die Diebe hatten damals einen Flachbildfernseher, eine Mikrowelle und eine Riesendose mit Plätzchen erbeutet, und seine Mutter hatte den Nachbarn, die sie eigentlich vorher nie hatte leiden können, mehrere Bleche Kekse zum Trost gebacken. IM Januar dann war Falk bei einer Party gewesen, die zufälligerweise im Nachbarblock stattgefunden hatte. Als dort gegen vier Uhr die Polizei aufgetaucht und die Party damit beendet gewesen war, hatte Falk beschlossen, sich den weiten Weg zu sich nach Hause zu ersparen und stattdessen bei seinen Eltern zu übernachten. Als er den Schlüssel im Schloss umgedreht und die Wohnungstür geöffnet hatte, war ein ohrenbetäubender Lärm losgeschrillt, der Dackel war wild kläffend im Flur erschienen, sowie sein Vater, in Nachthemd und Wollsocken, die Maske, die er wegen seines Schnarchens trug, noch im Gesicht, und sein Luftgewehr auf den Eindringling gerichtet. Später hatte sein Vater ihm erklärt, dass der Alarm, wenn er scharf geschaltet war, sofort losging, sobald der Sensor auch nur die kleinste Bewegung an der Tür registrierte, also auch, wenn jemand die Tür mit dem passenden Schlüssel öffnete. Wenn Falks Eltern bei scharfer Alarmanlage die Wohnung verließen, hatten sie daher immer ein kleines mobiles Gerät dabei, auf dem sie bei ihrer Heimkehr eine PIN eintippen und damit die Anlage ausstellen konnten, bevor sie die Tür aufschließen konnte. Wenn sie das mobile Gerät nicht dabei hatten, gab es zwar immer noch die Möglichkeit, die PIN im Inneren der Wohnung auf dem dort fest installierten Gerät einzugeben, allerdings war zu diesem Zeitpunkt dann schon die ganze Nachbarschaft alarmiert. Genau dies war nun offenbar passiert, als sein Vater neulich in den Keller gegangen war, dabei den Alarm eingeschaltet hatte, da Claudia einkaufen gewesen war, und dann, als er wieder zur Wohnungstür hereinkam, bemerkt hatte, dass die Fernbedienung noch unten im Keller lag.
Noch nie sei er die Treppen so schnell runter und wieder raufgerannt, sagte Klaus. Warum er den PIN nicht auf dem fest installierten Gerät in der Wohnung eingegeben habe?, fragte Falk verständnislos, doch als sein Vater herumzudrucksen begann, wurde deutlich, dass er sich die PIN nur auf der Fernbedienung merken konnte, woraufhin Falk, der seinen Vater ungern beschämte, sich rasch wieder den Einmachgläsern zuwendete. Er packte die letzten Gläser in die Kiste und fragte, was damit passieren solle.
„Na, die nimmst du mit, für dich und Robert.“, sagte Klaus.
Falk überlegte, was mit den letzten Einmachgläsern von seinem Vater passiert war. Er war fast sicher, dass die noch irgendwo auf einem Regal in der WG-Küche verstaubten.
„Die krieg ich doch jetzt gar nicht mit, auf dem Fahrrad.“, wendete er daher ein. „Außerdem wollte ich dich nach was anderem fragen: wir hatten doch hier irgendwann mal ein Schlauchboot, oder nicht?“
Klaus, der ein inneres Ordnungssystem für seinen Kellerraum ersonnen hatte, welches niemand außer ihm kannte – Claudia war nach eigenem Bekunden seit Jahren nicht mehr hier unten gewesen – begann zielsicher, sich in eine düstere Ecke vorzuarbeiten, wobei er übereinandergestapelte Stühle, zusammengebundene Fahrradschläuche, Sofakissen und allerlei Kartons in einem anderen Bereich verstauen musste, bis er schließlich einen großen Wäschekorb hervor zerren konnte. Früher waren sie mit dem Boot auf dem Schleichersee im Paradies herumgepaddelt, und im Urlaub an der Ostsee war es auch schon zum Einsatz gekommen. Gemeinsam betrachteten Falk und Klaus nun den zusammengeknüllten gelben Gummihaufen.
Falk, entmutigt, schlug vor, erst mal zum Mittag essen zu gehen, das Boot wäre sowieso hinüber, doch Klaus bestand darauf, es mit hochzutragen und wenigstens probehalber aufzupumpen. Sie könnten es dann später flicken.
„Mein Flickzeug ist noch aus Armee-Zeiten, damit kann man zur Not auch Panzer reparieren.“, versicherte er.
*
In der Wohnung hatte sich mittlerweile ein würziger Duft ausgebreitet. Claudia hatte den Tisch mit dem besten Geschirr gedeckt, echtes Kahlaer Porzellan, zwar nur zweite Wahl, aber wen störten schon die kleinen Flecken. Um die Tafel zusätzlich aufzuwerten, hatte sie einen Blumentopf vom Balkon in der Mitte platziert. Die drei ließen sich die gefüllte Zucchini schmecken, während das Gespräch umherwaberte, sich auflöste, die Richtung änderte und wieder zurücksank, wie der Dampf aus dem Kochtopf.
Nach dem Essen sahen Falk und sein Vater nach dem Schlauchboot, während die Mutter sich um den Abwasch kümmerte. Vorhin hatten sie das Boot in Falks altem Kinderzimmer aufgepumpt, nun entdeckten sie einige kleine Löcher, die sie mit Fahrradflickzeug abdichteten. Dann ließen sie es liegen, damit der Kleber gut durchtrocknen konnte.
Zufrieden ließen sie sich im Wohnzimmer nieder, wo die durchgesessenen Stellen in der Couch die bevorzugten Plätze von Falks Eltern markierten. Mit seinem Vater tauschte sich Falk über die Ergebnisse der vierten Liga aus, wo der FC Carl Zeiss Jena durch die gestrige Niederlage gegen den ZVC Meuselwitz tiefer ins untere Tabellendrittel gerutscht war. Immerhin hatte Rot-Weiß-Erfurt auch verloren. Während Claudia Kaffee und Kuchen auftischte, fragte sie, ob Falk schon von der toten Adligen gehört hätte, die man gleich bei ihm um die Ecke gefunden hätte.
Falk, träge von dem guten Essen und der behaglichen Routine, schaute nur mäßig überrascht auf. Dass sich die Neuigkeit schnell verbreiten würde, hatte er erwartet, schließlich war seine Mutter durch ihre Kundinnen immer auf dem neusten Stand.
Er erzählte also, dass Peter ihn am Freitagabend noch kurz besucht und von der Sache erzählt hätte. Wer Peter sei, wollte seine Mutter wissen. Klaus erinnerte sie: das sei doch der Onkel von Robert. Ach richtig, nickte Claudia, und jetzt vermietete er den Freunden die kleine Dachwohnung. Früher, bei Schulveranstaltungen, als Falk und Robert noch in eine Klasse gingen, da sei er doch auch oft als Vaterersatz für seinen Neffen eingesprungen, nicht wahr? Schließlich, bemerkte Claudia mit einem tragischen Seufzen, hatte Roberts Mutter noch nie ein gutes Händchen bei ihrer Partnerwahl bewiesen.
Normalerweise das Stichwort, ausgiebig die Lebensumstände von Roberts Mutter und deren vier Kindern, die alle von verschiedenen Vätern stammten, zu diskutieren, beließ es Claudia heute dabei und fragte stattdessen, einen großen Bissen Zupfkuchen im Mund, was er denn noch so erfahren habe über die Tote. Falk antwortete wahrheitsgemäß, dass er von Peter nur noch wisse, wo die Frau gefunden worden war - in einem alten vergammelten Haus, das seit Jahren leer stand.
Claudia rührte in ihrem Kaffee und meinte dann, eher beiläufig:
„Sie war ja eine von Leuchtenburg…“
„Woher weißt du denn das schon wieder?“, fragte Falk, und nahm sich rasch noch ein Stück Kuchen. „Klatsch und Tratsch im Salon?“
„Nein“, mischte sich jetzt sein Vater ein. „Wir haben es gestern Abend noch in den Nachrichten gehört.“
Mit „Nachrichten“ meinte er die Lokalnachrichten auf JenaTV, die einmal am Tag das Neueste aus dem Stadtgeschehen vermeldeten. Da ging es normalerweise beschaulich zu: schon eine ausgefallene Straßenampel oder ein Taschendiebstahl waren ziemliche Aufreger, zumindest für die Redakteure von JenaTV, und für Falks Eltern sowieso.
Nun brachten sie also tatsächlich mal was Spannendes, dachte Falk, und mit Unbehagen erinnerte er sich, wie er durch die Werbung auf JenaTV das Zeichen auf dem Schwert als das Logo des Goldschmieds Argot erkannt hatte. Mittlerweile hatte er sich zwar schon fast daran gewöhnt, immer mal wieder an den Lederbeutel erinnert zu werden, der bei ihm zu Hause unter dem Bett lag, aber das Kribbeln in der Bauchgegend, das sich dabei regelmäßig einstellte, war nach wie vor unangenehm. Wobei das momentan auch von dem dritten Stück Zupfkuchen herrühren mochte.
Claudia erzählte unterdessen weiter:
„Da hat sich doch gleich einer aus dem Stadtrat zu Wort gemeldet und ein Interview gegeben: der Helmut von Lobdeburg. Das Kuriose ist nämlich, dass die Familien von Leuchtenburg und von Lobdeburg irgendwie über Hundert Ecken miteinander verwandt sind. Und deshalb hat der von Lobdeburg sein Beileid gleich öffentlich bekundet, weil ja sozusagen eine Verwandte von ihm verstorben ist.“
Falk horchte auf. Eine Verbindung zwischen den Leuchtenburgern und den Lobdeburgern also, das war ihm neu. Aber was wusste er schon aus der Welt des Adels? Selbst in seinem weitläufigen Bekanntenkreis gab es niemanden mit einem „von“ im Namen. Warum sich eine Frau mit einem derart vornehmen Stammbaum in einem gammeligen Haus oben am Hausberg herumtreiben sollte, war ihm schleierhaft.
Klaus sagte:
„Ach, der will sich doch nur ins Gespräch bringen! Wegen seiner Kandidatur, nächsten Monat, als Ortsteilbürgermeister für Lobeda.“
„Na und?“, rief Claudia so laut, dass Falk aufschreckte und kurz überlegen musste, um wen es ging – ach ja, diesen Helmut von Lobdeburg. Offensichtlich war hier ein heikler Punkt angesprochen worden, denn seine Mutter verschüttete beinahe ihren Kaffee, so heftig begann sie, in ihrer Tasse zu rühren.
„Er ist immerhin ein fähiger Mann! Besser als der jetzige, wie heißt er noch gleich… Genau, Kantherbein! Der hat diesen Salvador-Allende-Platz geplant, dieses Millionengrab… Und gleichzeitig schließen sie die Schwimmhalle!“
Dabei guckte sie streng ihren Sohn an, als trüge er grundsätzlich die Schuld an allen verpatzten, zu teuren oder lästigen Bauvorhaben der Stadt; eine Angewohnheit, die sie sich zugelegt hatte, seit sein Chef Aufträge von der Stadt annahm. Falk, verzweifelt bemüht, das ursprüngliche Thema ihres Gesprächs nicht zu vergessen, verteidigte sich reflexhaft:
„Was kann ich dafür?! Die Aufträge der Stadt sind machbar, und eine dauerhafte sichere Einnahmequelle. Bei der Planung des Projektes Salvador-Allende-Platz sind die Abteilungen Hochbau, Straße und.. “
„Ach dieser ganze technische Kram, da kenn' ich mich doch eh nicht mit aus“, beruhigte ihn Claudia. „Hauptsache, du behältst deine Arbeit. Das geregelte Einkommen...“
Falk war noch nicht fertig:
„Seid ihr da überhaupt mal vorbeigefahren, früher, am Salvador-Allende-Platz? Ne richtige Industriebrache war das, mitten in Lobeda, und nun kommen da schöne helle Büros und Wohnungen hin, und ein Fitnessstudio ist auch geplant.“
Plötzlich müde, ließ Falk sich zurücksinken.
„Da können die ganzen Russen dann kräftig weiter pumpen.“, meinte sein Vater.
„Ja, so wie dein Micha!“, wandte sich Claudia wieder an Falk. „Der geht doch bestimmt auch jeden Tag ins Fitnessstudio oder? Ich hab ihn neulich erst wieder gesehen – so dürr, der Junge, und dann solche Muskeln…“
Sie umfasste verdeutlichend ihre eigenen fleischigen Oberarme.
„Na klar, und nur weil sein Vater Russe ist, denkst du jetzt, er rennt täglich in die Muckibude oder was?“, sagte Falk, ohne sich sonderlich zu erregen, und dachte, dass dieses ganze Gespräch an ihm vorbei glitt wie ein Laufband ins Nirgendwo, in das man jederzeit ein- und wieder aussteigen konnte, ohne dass es von Belang war, ob Meinungen mit Argumenten untermauert wurden, die Personen und Ereignisse, um die es gerade ging, überhaupt allen bekannt waren, oder irgendwelche Sachverhalte abschließend geklärt wurden.
Seine Mutter sagte fröhlich:
„Ich hab doch überhaupt nichts gegen Michael, im Gegenteil! Wirklich, ich mag ihn viel lieber als Robert, diesen Chaot. Den Micha treff ich ja fast jeden Tag in der Stadt, und er ist immer ganz höflich, und grüßt jedes Mal so nett. Wisst ihr noch, wie er mir mal die Blumen…“
„Jaja.“, winkten Falk und sein Vater gleichzeitig ab, und Falk fragte rasch:
„Was hat denn nun dieser Helmut von Lobdeburg gesagt?“
„Zu was jetzt? Zum Allende-Platz?“, fragte Claudia fahrig.
„Nein!“ Falk atmete tief durch. „Zu der Toten!“
„Ach so. Ja, was hat er noch gesagt… Klausi?“
Sie hatte begonnen, den übrig gebliebenen Kuchen auf einen sauberen Teller zu schichten, wobei sie sich herunterfallende Krümel in den Mund steckte und ab und zu dem Dackel ein Stückchen auf den Boden warf, was Falks Vater eine Weile stirnrunzelnd beobachtete, dann aber glücklicherweise den Faden wieder aufnahm:
„Naja, er hat gesagt, wie traurig das Ganze wäre.“ Klaus überlegte kurz. „Sie war die Letzte aus der Familie von Leuchtenburg. Eigentlich hieß sie auch gar nicht mehr so, sondern von Flotow. Marie von Flotow. Ach ja, genau, und ihr Mann heißt Paschen von Flotow.“
„Ihr Witwer!“, korrigierte Claudia und fügte hinzu. „Und keine Kinder hatten sie. Paschen von Flotow - was für ein affiger Name, oder? Diese Adligen immer.“
Dann verließ sie das Wohnzimmer mitsamt dem Geschirr. Klaus fuhr fort:
„Das hat Helmut von Lobdeburg nämlich auch noch gesagt: dass er ihrem hinterbliebenen Ehemann, Paschen von Flotow, in dieser schweren Zeit sein herzliches Beileid aussprechen möchte. Und dann hat er ganz geschickt das Thema auf sich gelenkt.“
Klaus lachte kurz auf.
„Nämlich dass er selber, Helmut von Lobdeburg, es als Ortsteilbürgermeister von Lobeda als seine Pflicht sehen würde, die alte Ruine der Lobdeburg nicht nur zu erhalten, sondern das Gelände auch auszubauen, und zu pflegen. Denn gerade durch solche Fälle würde man ja sehen, wie wichtig es wäre, dieses historische Zeug zu bewahren und an die vergangenen Jahrhunderte zu denken, und so weiter und so weiter, wie Politiker halt reden.“
Er reichte Falk ein Bier aus dem kleinen Schränkchen neben dem Sofa. Claudia, die erst eine Weile in der Küche rumort hatte, ging an ihnen vorbei auf den Balkon, von wo kurz darauf Zigarettenrauch, vermischt mit kühlerer Luft, durch die angelehnte Tür hereinströmte. Gedämpft drangen die Geräusche spielender Kinder herauf, die unten auf den Klettergerüsten zwischen den Häuserblocks tobten. Das Bier war warm, wie immer bei seinem Vater, und Falk brachte es kaum herunter.
Er zupfte am Etikett herum und überlegte: Marie von Flotow war eigentlich Marie von Leuchtenburg, und letzte Nachkommin eines alten Thüringer Adelsgeschlechts, welches irgendwann im 13. Jahrhundert die Leuchtenburg erbaut hatte. Irgendwie verwandt war diese Familie mit der Familie der Lobdeburger. Die wiederum hatten dann wohl logischerweise die Lobdeburg erbaut. Und einer der Nachkommen lebte hier in Jena, kandidierte als Ortsteilbürgermeister, und hieß Helmut von Lobdeburg. Dann gab es noch einen Witwer, Paschen von Flotow. Und natürlich Franz Argot, dessen Vorfahren wohl Maries Schwert geschmiedet hatten.
Er dachte wieder an den Brief. Drei Namen konnte er nun schon mit der Toten in Verbindung bringen. Aber ein Mark war nicht dabei.
Währenddessen hatte sich sein Vater im Sofa zurückgelehnt und offenbar ebenfalls weiter über ehemalige Burgbesitzer nachgedacht, denn er sagte:
„Was will er schon mit der Lobdeburgruine, der Helmut von Lobdeburg, für sowas ist eh kein Geld in der Stadtkasse! Deine Mutter findet ihn nur deshalb so toll, weil er eben dieses ‚von’ im Namen hat – auch wenn sie sich immer über die Adligen aufregt. Dabei kennt sie sich genau aus, schon allein wegen der ganzen Zeitschriften im Salon.“
Falk lachte und klopfte seinem Vater aufmunternd auf den Bauch.
„Sie weiß doch, was sie an dir hat, Vadder, auch ohne 'von' und 'zu'.“
Klaus brummte nur, und trank einen Schluck Bier. Falk hatte schon ein Häufchen aus dem Silberpapier des Etiketts seiner Flasche neben sich errichtet, aber immer noch war sie fast voll. Er betrachtete seinen Vater nachdenklich. Klaus arbeitete im Jenaer Rathaus als Hausmeister, koordinierte aber auch die Gärtner, die sich um die städtischen Grünflächen, Spielplätze und Brunnenanlagen kümmerten; sein Beruf brachte ihn zwangsläufig mit allen möglichen Branchen in Berührung, er kannte vom Bürgermeister bis zur Putzkolonne jeden, der den Lokalbetrieb am Laufen hielt; darüber hinaus war Klaus beinahe eine größere Klatschtante als seine Frau, was er jedoch geschickt dadurch verbarg, dass er meist Claudia reden ließ und selber nur still genoss.
Falk sah sich um. Seine Mutter stand immer noch draußen auf dem Balkon, ihnen den Rücken zugekehrt, und Falk hörte, wie sie sich mit der Nachbarin auf dem Balkon unter ihr lautstark über irgendeine Fernsehserie vom Vorabend austauschte. Wenn er seinen Vater noch ein bisschen ausfragen wollte, musste er die günstige Gelegenheit nutzen.
„Und diese Marie von Leuchtenburg,“, begann er, „sie hat also irgendwann einen anderen Adligen, diesen Paschen von Flotow geheiratet? Gehörte ihr denn da noch die Burg, also die Leuchtenburg?“
„Nee, glaub ich nicht. Zu DDR-Zeiten jedenfalls gehörte sie dem Staat, da war ja eine Jugendherberge drin, und jetzt ist dort ein Museum. Ich würde vermuten, das Land Thüringen ist heute der Eigentümer. “
„Und wie ist es bei der Lobdeburg?“
„Die gehört der Stadt Jena. Ist ja bloß noch eine Ruine, da könnte man gar nicht mehr drin wohnen. Die Familie der Lobdeburger besitzt aber dafür ein ziemlich großes Grundstück mit einer prächtigen Villa, irgendwo Richtung Kahla.“
Überrascht blickte Falk seinen Vater an. Der hatte schon bei anderen Gelegenheiten mit Hintergrundwissen zu Dingen aufgewartet, von denen Falk keine Ahnung hatte. Zum Beispiel interessierte Klaus sich aus unerfindlichen Gründen für griechische Götter- und Heldengeschichten. Claudia nannte ihren Mann in solchen Momenten immer ‚Professor’, woraufhin Klaus meist verschämt verstummte. Jetzt aber war Claudia damit beschäftigt, mit den Kindern unten auf der Wiese zu schimpfen und sein Vater, in schönster Plauderlaune, fuhr fort:
„Dieser Paschen von Flotow wiederum, der muss zunächst mal ein richtiger Verlierer der Bodenreform gewesen sein. Beziehungsweise seine Familie. Die hatte nämlich noch richtig Grundbesitz, irgendwo bei Altenburg. Haben alles verloren, sind aber trotzdem in der DDR geblieben.“
Fragend sah Falk seinen Vater an. Der erklärte:
„Na, die Bodenreform, nach dem Krieg. Die Russen haben doch ihre Besatzungszone nach dem Vorbild der Sowjetunion aufgebaut. Und dazu gehörte, dass die ganzen Reichen und die Bauern mit viel Land, die Großgrundbesitzer, ihre Felder aufgeben mussten. Darunter auch viele Adlige. Bekam alles der Staat, der hat’s zerstückelt und wieder verteilt. Und alle, die eine Parzelle bekamen, mussten den LPGs beitreten.“
„Da sind dann wohl viele Adlige abgehauen?“, vermutete Falk.
„Solange es noch ging, ja, die Bodenreform war noch vor dem Mauerbau. Nach der Wende dann wollten sie natürlich alle ihr Land zurück. Haben es vielfach auch bekommen. Auch die von Flotows haben einiges von ihrem früheren Besitz zurück erhalten. Er ist Augenarzt, glaube ich. War es schon zu DDR-Zeiten, bloß dass er da keine eigene Praxis hatte. Er muss am Leipziger Uniklinikum gearbeitet haben, und er war wohl sogar ein ziemlich hohes Tier. Das gab's nämlich auch: Vorzeigeadlige im Arbeiter- und Bauernstaat. Jetzt mischt er immer noch in der Leipziger Kommunalpolitik mit.“
„Woher weißt du das bloß alles?“, fragte Falk.
„Das mit dem von Flotow hat mir Theresa erzählt. Wir haben vorhin telefoniert. Ich hatte sie angerufen, als in den Nachrichten kam, dass der Witwer der Verstorbenen ein Arzt aus Leipzig ist. Ich soll dich übrigens grüßen. Also von Resa, meine ich.“
Falk nickte und bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. Dass offenbar einige höhere Kreise mit der toten Frau zu tun hatten, gefiel ihm gar nicht. Solche Menschen hatten Geld und Einfluss. Was, wenn man beginnen würde, nach diesem Schwert, dass Marie in das Haus gebracht hatte, zu suchen? Ob es wohl wertvoll war? Ihm fiel auf, dass er ununterbrochen seine fast volle Bierflasche in den Händen drehte. Rasch nahm er einen Schluck von dem schalen Getränk.
In diesem Moment kam seine Mutter herein und trällerte:
„Sagt bloß ihr seid immer noch bei diesen feinen Herren von und zu Leuchtenburg, Lobdeburg und was weiß ich nicht alles! Stellt euch vor: der kleine Tim von gegenüber, der hat doch grad einfach so, ohne Grund, den Matthi vom Gerüst geschubst! Ich hab’s genau gesehen! Keine Erziehung, die Kinder von heute!“
Kurz darauf begann Falk, seinen Aufbruch in die Wege zu leiten. Er machte dabei den Fehler, zu erwähnen, dass er zufällig erst gestern mit einer Freundin über die Leuchtenburg gesprochen habe. Noch während er seine Unvorsichtigkeit bereute, wollte seine Mutter schon wissen, woher er sie denn kennen würde, diese ‚Freundin’, und machte, um nicht direkt nach der Frisur fragen zu müssen, eine Reihe beiläufiger Bemerkungen über die vielen jungen Kundinnen in letzter Zeit, die alle diesen fransigen Haarschnitt verlangt hätten, der momentan so modern sei. Dann verging noch einige Zeit, bis Falk das geflickte Schlauchboot, aus dem Klaus die Luft wieder abgelassen hatte, und das, so hatte er versichert, nun dichthalten würde, sorgfältig zusammengefaltet und in einer großen reißfesten Tüte verstaut, ein paar der Einmachgläser voller Pflaumen und Apfelmus in seinen Rucksack gepackt, und eine Tupperdose mit Kuchen, die ihm Claudia aufdrängen wollte, erfolgreich abgewehrt hatte, um schließlich nach allerlei Umarmungen und zusammenhanglosen Informationen seiner Mutter bezüglich Resa, der Arbeit, der Wohnung, dem Wetter, Romeo, Klausi und dem Garten mit brummendem Schädel draußen, vor dem Haus, endlich seine Mütze aufsetzen, sein Fahrrad abschließen und losradeln konnte.