Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 8
Tag 7, Mittwoch
ОглавлениеAls Falk am Mittwochnachmittag kurz vor halb fünf, in Richtung Stadtzentrum radelte, war er das Gefühl, dass Caro ihn mit ihrem Vorschlag irgendwie überrumpelt hatte, immer noch nicht vollständig losgeworden. Er kam aber auch nicht umhin, sich einzugestehen, dass er vom Mittelalter nicht die geringste Ahnung hatte. Irgendwo dort jedoch, in der Vergangenheit, lag die Wahrheit verborgen über das Schwert. Die einzige brauchbare Spur momentan war Goldschmied Argot, dessen Vorfahren das Schwert geschmiedet hatten, und dessen Familie irgendwie mit der Familie der toten Adligen zusammen hing. Es konnte daher vermutlich nicht schaden, mehr über die mittelalterlichen Lebensumstände von Thüringer Adligen im Allgemeinen, und über die Leuchtenburger im Besonderen zu erfahren.
Erleichtert hatte es ihn zweifellos, mit Caro über die Geschehnisse der letzten Tage zu reden. Sie hatte der ganzen Sache unverzüglich eine gewisse Ernsthaftigkeit verliehen - dass er vielleicht eine Dummheit begangen haben könnte, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen; vielmehr schien sie sich mit großen Enthusiasmus daran machen zu wollen, dem Geheimnis des Schwertes auf die Spur zu kommen.
Vielleicht sogar ein bisschen zu viel des Guten, dachte Falk. Aber das war immer noch besser als Robs. Gerüchten zufolge war der nämlich mittlerweile wieder in der Stadt, hatte sich aber gar nicht erst zu Hause blicken lassen, sondern sich stattdessen gleich bei irgendeinem Mädel aus dem Trainingslager einquartiert. Falk hatte Robs nach wie vor auch telefonisch nicht erreicht, und was mit den Sachen aus dem alten Haus geschehen war, interessierte seinen Freund offenbar nicht im Geringsten.
Falk schlängelte sich durch die Fußgängerzone, vorbei am Markt, an der Stadtkirche und an den Cafés in der Johannisstraße, und bog in die Gasse hinter dem Universitätshauptgebäude ein, wo sich ein Copyshop an den nächsten reihte. Er schloss sein Rad ab, unterquerte eine Tordurchfahrt, durch die wohl auch die Kutschen früherer Jahrhunderte, als hier noch die Herzöge von Jena regiert hatten, gepasst hatten, und betrat den Innenhof. Es war kühl heute, die Septembersonne hielt sich hinter Wolken versteckt. Falk sah Caro an dem Brunnen in der Mitte des Hofes sitzen, mit einem schwarzen Kapuzenpullover unter ihrer Lederjacke. Sie strahlte, als sie ihn erblickte und eilte ihm sogleich entgegen.
„Coole Mütze.“, bemerkte sie, ihre Zigarette austretend. „Komm, gehen wir rein!“
Durch die Glastüren der Mensa betraten sie einen Vorraum, der nun, in den Semesterferien, verwaist war. Caro ging voraus und zog ihn hinter ein paar Ständer mit diversen Aushängen, auf denen winzige WG-Zimmer, IKEA-Möbel und Nachhilfeunterricht angeboten wurden.
„Nun zeig mal her!“, sagte sie mit nur mäßig unterdrückter Aufregung.
Falk vergewisserte sich ein letztes Mal, dass sie allein waren, holte dann seine Digitalkamera aus dem Rucksack und reichte sie ihr. Konzentriert klickte Caro sich durch die Fotos. Falk hatte die Aufnahmen am heutigen Morgen gemacht, bei Tageslicht in seinem Zimmer. Zunächst waren der Beutel, das Schwert und den Brief nebeneinander auf dem Boden liegend zu sehen.
„Der Umschlag sieht richtig schwer aus, mehr wie Pergament.“, sagte Caro, und betastete das Foto, als könne sie dadurch auch den Briefumschlag anfassen. Falk kam Caros nächster Frage zuvor: nein, er habe ihn selbstverständlich immer noch nicht geöffnet, und er habe das auch nicht vor.
Caro sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte aber nichts dazu und wendete sich dem nächsten Foto zu. Es zeigte das Schwert, noch in der Scheide steckend. Falk hatte einen Zollstock danebengelegt.
„Ein Meter und 2 Zentimeter.“, erläuterte er. „Und es wiegt circa ein Kilo und 200 Gramm.“
Das nächste Foto zeigte die blanke Waffe, ohne die Scheide. Auf dem dunkel glänzenden Metall zeichnete sich hell die Rinne in der Mitte ab. Falk hatte auch Nahaufnahmen der Klinge gemacht, die Caro als nächstes betrachtete.
„Nur mäßig scharf übrigens.“, bemerkte er. „Siehst du diese Scharten und Kanten?“
Caro nickte und stellte fest, wie auffallend schlicht die gesamte Waffe verarbeitet sei. So etwas ähnliches habe er auch gedacht, als er es das erste Mal genauer betrachtet hatte, bestätigte Falk. Die einzige Verzierung bestand aus den beiden Zeichen, kurz unterhalb des Schafts. Caro hatte schon weitergeklickt zu den Fotos, welche die kleinen eingravierten Symbole zeigten. Falk hatte dafür extra die Makro-Funktion der Kamera eingestellt. Gestochen scharf waren das kleine 'A' und das Wagenrad zu sehen.
Er habe Recht, murmelte Caro, das ‚A’ könne eigentlich nur Argots Zeichen sein. Das andere Zeichen jedoch war auch ihr völlig unbekannt.
„Ich finde, es war eine sehr gute Idee von dir, zu Argot in den Laden zu gehen.“, sagte sie schließlich, aufblickend. „Ich hätte dasselbe gemacht.“
„Aber herausgefunden habe ich nichts bei ihm.“
Caro lächelte schelmisch.
„Aber du hast mich getroffen, oder?“
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob es wirklich so klug war, dich anzusprechen…“
„Klar war das klug! Glaub mir, ich kann dir helfen! Wer von uns hat denn einen Interview-Termin mit Schmied Argot? Wenn jemand etwas über dieses Schwert weiß, dann er. Und er könnte uns vielleicht sogar sagen, was dieses zweite Zeichen hier zu bedeuten hat.“
Caro deutete auf das Foto mit dem runden Zeichen unter Argots ‚A’. Falk seufzte.
„Das war ja auch ursprünglich mein Hintergedanke gewesen: über dich und dieses Interview aus Argot herauszukriegen, was es mit dem Schwert auf sich haben könnte. Aber je länger ich drüber nachdenke, umso mehr Zweifel habe ich, wie das überhaupt funktionieren soll. Überleg doch mal: wie willst du es anstellen, ihn zu diesem Schwert zu befragen, ohne es ihm zu zeigen?“
„Ich könnte ihm doch auch einfach diese Fotos mitbringen.“
„Ausgeschlossen! Wenn er das Schwert sieht, egal ob auf Fotos oder im Original, wird er Fragen stellen, wo es herkommt, und das will ich nicht.“
Caro verdrehte die Augen.
„Falk, du wirst nichts über das Schwert herausfinden, wenn du es weiter unter deinem Bett versteckst! Es geht ja nicht nur um Argot selber. Wir könnten es auch einer Freundin von mir zeigen, die arbeitet am historischen Institut, die kennt sich total gut mit Schwertern...“
„Caro, nein!“, unterbrach Falk sie scharf, während er überlegte, wann er ihr eigentlich verraten hatte, wo er das Schwert aufbewahrte. „ Du musst mal einen Gang runterschalten! Es reicht schon, dass wir uns jetzt mit diesem Typen treffen. Ich habe der Sache zwar zugestimmt, aber nur, dass wir uns hier nicht falsch verstehen: kein Wort über das Schwert, wir führen nur ein ganz unverbindliches Gespräch. So wie du gesagt hast.“
„Jaja, schon gut, ganz unverbindlich!“
Falk sah sie scharf an, sie guckte ihm treuherzig in die Augen, und schließlich grummelte er:
„Welchen unverbindlichen Vorwand hast du dir denn für ihn überlegt, also warum du ihn aushorchen willst?“
„Die Radiosendung.“, antwortete Caro. „Tobi weiß von meinem Hobby. Und da ich ja eine Sendung über das Handwerk im Mittelalter plane, ist es doch nur natürlich, wenn ich mir von ihm, dem ausgewiesenen Mittelalterexperten, ein paar Infos hole.“
„Na, wenn du meinst. Pass nur ja auf, dass du nichts von dem Schwert verrätst.“, wiederholte er eindringlich.
„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe ihn schon dazu, uns ein paar interessante Details zu erzählen.“
Falk betrachtete sie misstrauisch und fand, dass sie eher selber so aussah, als ob sie sich Sorgen machte. Sie zog die Zigarettenpackung aus ihrem Rucksack.
„Will noch schnell eine rauchen.“
Sie traten wieder nach draußen.
„Wird er sich nicht wundern, wenn ich dabei bin?“, fragte Falk, während er Caro dabei zusah, wie sie sich abmühte, bei dem böigen Wind, der von der Tordurchfahrt durch den Innenhof fegte, ihre Kippe anzuzünden.
„Tobi ist keiner, der sich über andere Leute wundert.“, antwortete Caro rätselhafterweise, bevor sie hinzufügte:
„Du kannst ja einfach mein Praktikant sein. Das passt gut du willst doch sowieso eine eigene Sendung machen, mit deinen Fußballfreunden, oder?“
Praktikant? Falk runzelte die Stirn.
„Wohl eher dein Produktionsleiter. Wir müssen jetzt nämlich los, sind sowieso schon zu spät. Die Kippe kannst du später rauchen.“
Er hatte beschlossen, dass es wohl das einfachste sein würde, einfach abzuwarten, was passieren würde. Außerdem war er nun doch gespannt auf diesen Typen, zumal sie nicht gerade den Eindruck machte, als würde sie sich auf die Begegnung freuen. Er ging vor, so dass Caro ihm folgen musste.
*
Wer das überhaupt sei, dieser Tobi?, erkundigte sich Falk, während sie den Innenhof überquerten und auf den gegenüber liegenden Gebäudeteil zusteuerten. Caro fummelte ihre Zigarette wieder in die Packung.
„Ach, wie gesagt, ein Bekannter aus der Uni.“, sagte sie, bevor sie hinzufügte: „Wir waren mal ein paar Monate zusammen, weißt du, ist aber schon Jahre her.“
„Aha. Und was genau untersucht dein Ex in seiner Doktorarbeit?“
„Fang gar nicht erst an, ihn meinen Ex zu nennen!“, rief Caro, und erklärte dann, dass der Arbeitstitel ‚Thüringer Hochadel unter wettinischer Verwaltung von Interregium bis Kaiserzeit’ laute.
„Kann man das auch weniger kompliziert ausdrücken?“
„Es geht um Adel in Thüringen, im späten Mittelalter, unter den Wettinern.“
„Und wer sind die Wettiner?“
Caro erzählte, dass dies ein Geschlecht von Fürsten sei, die früher vor allem in Sachsen sehr mächtig gewesen seien.
„Irgendwann haben sie ihren Einflussbereich von der Mark Meißen aus immer mehr auch ins heutige Thüringen vergrößert. Dann gab es ständig irgendwelche Erbteilungen und schließlich eine Trennung in zwei wettinische Linien, so ähnlich wie bei den Lobdeburg-Leuchtenburgern. Der eine Zweig der Wettiner hat hier in der Region über Jahrhunderte hinweg regiert, bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806.“
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und fügte dann hinzu:
„Das war der offizielle Name des Gebiets, was heute Deutschland ist, bis Napoleon 1806 alle deutschen Truppen besiegt hatte und das Reich zerfiel. Eigentlich war es viel größer als das heutige Deutschland – Italien gehörte zum Beispiel auch dazu.“
Sie hatten in der Zwischenzeit einen efeuumrankten Laubengang durchquert und das Gebäude auf der anderen Seite des Innenhofs betreten. Während der ehemalige Herzogssitz von außen prunkvoll wirkte, war er drinnen funktional für die Nutzung als Universitätsgebäude ausgestattet, wobei eine Sanierung überfällig schien. Der Fußboden war mit blassgrünem welligem Linoleum ausgelegt, die Seminarräume links und rechts der Gänge waren mit Pappschildern nummeriert, und die Wände zeigten Risse. Die Cafeteria, ein großer Raum neben dem Treppenhaus, verströmte den Charme einer Kaserne, und hatte auch in den Semesterferien geöffnet, da sich im dritten Stock die Bibliothek der Rechtswissenschaften befand, wo angehende Juristen permanent in ihren Gesetzesbüchern blätterten, und dabei ungeheuren Kaffeebedarf entwickelten. Falk wusste das, weil vor einigen Wochen eines morgens eine Jurastudentin mit am Frühstückstisch gesessen hatte, die Robs am Abend zuvor kennen gelernt hatte.
Momentan hockten nur vereinzelt ein paar Studenten herum, außerdem ein alter Mann in verdreckten Klamotten und Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Falk sagte beiläufig:
„Ist er das? Dein Ex?“
Caro, die sich suchend umgesehen hatte, stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen, raunte, dass Tobi offenbar noch nicht hier sei und steuerte einen der Tische in der hinteren Ecke der Cafeteria an. Falk, ihr folgend, hatte unter Studenten immer das Gefühl, sie könnten ihm ansehen, dass er hier an der Uni nichts verloren hatte.
Bin auch verdammt froh darüber, dachte er, als er ein dickliches Mädchen sah, die in der Nähe des Gangs saß und über einem Aktenordner brütete, eine trostlose Kaffeetasse neben sich.
Caro hatte einen Notizblock, verschiedenfarbige Stifte und ihr Handy auf dem Tisch verteilt und war dann noch einmal aufgestanden, um ihnen beiden einen Apfelsaft zu besorgen. Jetzt setzte sie sich Falk wieder gegenüber.
„Da kommt er.“, raunte sie. „Typisch, zu spät.“
Falk drehte sich um und musterte den schlaksigen Mann, der, als er Caro erkannte, gemächlich auf sie zu kam. Er trug einen karierten Pulli mit V-Ausschnitt, unter dem man einen kleinen Bauchansatz erkennen konnte. Auf seiner spitzen Nase saß eine Brille mit dickem schwarzen Rand, und in der Hand trug er eine Aktentasche, die Falk unangenehm an seinen ehemaligen Englischlehrer erinnerte.
Tobias trat an ihren Tisch und begrüßte Caro, die sich halbherzig von ihrem Stuhl erhoben hatte, mit zwei Küsschen. Falk nickte er knapp zu, dann ließ er sich nieder.
„Die haben hier einen ganz passablen Rioja.“, bemerkte er, und sah Caro erwartungsvoll an. Falk hätte alles Mögliche von ihr erwartet, aber nicht, dass die nun noch mal aufstehen, und kurz darauf mit einem Glas Rotwein vom Verkaufstresen zurückkommen würde. Sie schob es Tobi hin, der ein Paket mit Drehtabak und Papierblättchen aus seiner Tasche gezogen und begonnen hatte, sich eine Zigarette zu drehen.
„Du machst also immer noch auf rasende Reporterin.“, bemerkte er spöttisch. „Was genau kann ich denn nun für dich tun?“
Caro lächelte eisern.
„Zunächst mal vielen Dank, dass du es einrichten konntest.“, sagte sie.
Dann berichtete sie ihm vom aktuellen Stand ihrer Radiosendung über Handwerk in Jena, wobei sie Falk weder als ‚Praktikant’ noch als 'Produktionsleiter' vorstellte, sondern vage als einen „Freund, der ihr mit der Musik helfen werde“. Sie fuhr fort, dass sie demnächst ein Interview mit dem Goldschmied Argot führen werde.
„Du weißt, wen ich meine, wir hatten das mal im Seminar „Zünfte in Jena“. Es gibt angeblich schon seit Jahrhunderten eine Art geschäftliche Verbindung der Familie Argot mit dem Geschlecht der Leuchtenburger.“
„Natürlich weiß ich, wen du meinst. Ich war dein Tutor in dem Seminar. Wie hast du es geschafft, ein Interview mit ihm zu bekommen? Prof. Friedmann hat das damals auch versucht. Ich war dabei. Der alte Argot hat uns hochkant aus seinem Laden geschmissen.“
„Weiblicher Charme. Jedenfalls dachte ich mir, die Verbindung zu den Leuchtenburgern wäre ein schöner Einstieg für das Interview. Und du bist ja nun ein ausgemachter Experte zu Thüringer Adelsgeschlechtern. Deswegen hatte ich gehofft, von dir noch ein paar Informationen über die Leuchtenburger und deren Hausburg zu erhalten.“
Fasziniert betrachtete Falk die dunkel verfärbten Zähne von Tobias als der nun ein seltsam gekünsteltes Lachen ausstieß.
„Ihr wollt also etwas über die Leuchtenburger wissen? Gerade jetzt, wo zufällig die letzte Nachkommin dieses Geschlechts tot in Jena aufgefunden wurde?“
Er trank einen Schluck und schmatze dabei leicht.
„Die Sendung hab ich schon lange geplant, Tobi!“, sagte Caro. „Das hat überhaupt nichts zu tun mit der toten Adligen.“
Sie beugte sich vor.
„Wenn du uns hilfst, widme ich dir volle fünf Minuten Sendezeit, stelle dich als externen Experten vor und werde nicht unerwähnt lassen, wie du deine beiden Studienrichtungen, Philosophie und Geschichte, in Rekordzeit absolviert hast, und wie sich die Profs darum gerissen haben, dass du bei ihren Lehrstühlen promovierst und überhaupt, wie fantastisch du bist!“
Sie machte eine Pause.
„Gegen entsprechende Informationen, natürlich…“
„Fünf Minuten Sendezeit bringen gar nichts, wenn nur fünf Leute die Sendung hören.“, sagte Tobi.
Falk sah zu Caro, die sich sichtlich bemühte, vollkommen unbeeindruckt einen Schluck Apfelsaft zu trinken.
Wieder lachte Tobi, und ließ nun einen Blick zwischen Caro und Falk hin und herwechseln. Falk vermutete, dass er gerade versuchte, ihn und seine Beziehung zu Caro einzuordnen. Bisher hatte er selbst noch nichts beigetragen außer einem knappen „Hallo ich bin Falk“ am Anfang. Jetzt sagte er:
„Kannst dir die Musik aussuchen, die wir darunter legen. Sex Pistols, Richard Wagner, Howard Carpendale – ganz egal.“
Tobi betrachtete ihn, als sei er eine ungewöhnliche Spezies, aber schließlich zuckte er mit den Schultern und schien zufrieden gestellt, denn er machte es sich auf seinem Stuhl gemütlich, indem er ein Bein übers andere schlug und einen Arm auf Caros Stuhllehne legte. Caro rückte unmerklich ein Stückchen nach außen, zückte aber gleichzeitig ihren Stift, denn Tobi begann nun, zu erzählen:
„Wenn wir über die Leuchtenburg reden, müssen wir mit der Lobdeburg anfangen.“, hob er an. „Die Besiedelung der ganzen Region hier begann nämlich mit den Lobdeburgern. Vermutlich war es Stauferkaiser Friedrich I. – der, den man landläufig als Barbarossa kennt –, der die ersten Ministerialen an die Saale schickte. Im Jahr 1152, als er zum König gewählt wurde, war das Reich in Aufruhr. Zum Einen musste sich der junge König gegen zahlreiche innenpolitische Feinde durchsetzen, insbesondere die Welfen im Norden. Darüber hinaus war er ständig unterwegs, vor Allem in Italien. Und dann kamen noch die Kreuzzüge - dabei ist er ja schließlich auch gestorben, 1190, in der heutigen Türkei, auf dem Weg nach Jerusalem.“
„Schön und gut, Kaiser Rotbart…“, warf Caro ein. „Zurück zur Lobdeburg! Barbarossa entsendete seine Ministerialen – also war es Hausmachtpolitik, stimmt’s?“
„Caro, du enttäuschst mich! Wenn die Fürsten ihre Hausmacht vergrößern wollten, so versuchten sie, an die Territorien anderer Adliger zu gelangen – indem sie ihre Töchter oder Schwestern oder Mütter verheirateten, indem sie in den Krieg zogen oder indem sie kauften. Aber dort, wo Barbarossa seinen Dienstadel hinschickte, da gab es ja noch gar kein Territorium. Wir sprechen also von Landesausbau. Durch Rodung sollte das Land hier bewohn- und nutzbar gemacht werden und das Reich nach Osten hin ausgedehnt werden.“
Tobi trank seinen Wein aus und warf einen bedauernden Blick auf das leere Glas. Caro machte ein genervtes Zischen und begab sich unaufgefordert an den Verkaufstresen der Cafeteria.
„Hey Caro!“, rief Falk, hob sein leeres Glas Apfelsaft, und schwenkte sie grinsend über dem Kopf.
Das Schweigen, das sich zwischen Falk und Tobi ausbreitete, war gar nicht mal so unangenehm. Der Doktorand wippte mit seinem übergeschlagenen Bein und Falk lehnte sich zurück, in Erwartung dessen, was hier noch so zur Sprache kommen würde. Bis jetzt war viel Blabla und nichts interessantes dabei gewesen, aber irgendwie war Tobi unterhaltsam, außerdem schien er Caro auf die Palme zu bringen, was Falk wiederum erheiterte. Sie kam zurück, setzte sich wieder an ihren Platz und schob den beiden ihre Getränke hin.
„Wo war ich?“, fragte Tobi zerstreut, wobei Falk das Gefühl hatte, dass er das noch genau wusste.
„Barbarossa schickte seine Ministerialen in den wilden Osten.“, tat Caro ihm den Gefallen.
„Genau, und keine blühenden Landschaften weit und breit.“, meinte Tobi geistreich. Dann fuhr er fort:
„Sie bauten also hier an einer Saaleüberquerung ihre Burg. Es muss bereits eine Siedlung gegeben haben, namens Lobeda, was heute der Stadtteil Alt-Lobeda ist. Danach benannten sie sich nämlich – fortan waren sie die Herren zu Lobdeburg.“
Falk beobachtete Caro, die eifrig mitschrieb, offenbar in der Absicht, Tobi das Gefühl zu geben, hier ununterbrochen ungemein wichtige Informationen preis zu geben. Und tatsächlich schien dieser sich pudelwohl zu fühlen und erzählte weiter:
„Die Herren waren sehr fleißig, rodeten die Wälder und gründeten in der Umgebung einige Dörfer, zum Beispiel Kahla, Lobenstein und Schleiz. Und natürlich Jena – die ältesten archäologisch gesicherten Funde hier aus der Altstadt stammen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Dann kam es irgendwann zur Teilung der Lobdeburger in zwei Linien, ebenfalls in dieser Zeit. Der eine Bruder, er hieß Helmut, errichtete einige Kilometer flussaufwärts bei Kahla eine zweite Burg, die Leuchtenburg. Es wird allgemein das Jahr 1220 als Jahr der Fertigstellung angenommen. Die Burg lag an einer strategisch äußerst günstigen Stelle. Man kann weithin ins Land blicken und ist dabei selbst praktisch uneinnehmbar.“
Tobi trank einen Schluck und fuhr fort:
„Der andere Bruder, der entweder wohl Hartmut hieß, oder auch Hartmann oder Hermann – die Quellen sind sich hier nicht ganz einig - bewohnte mit seiner Familie die Lobdeburg, und baute die Siedlung Jena weiter aus, die, ebenfalls 1220, Stadtrecht erhielt. Ab dann konnten auch Münzen geprägt werden, die kann man sich heute noch angucken, im Stadtmuseum.“
Er deutete mit dem Daumen hinter sich, wohl um in Richtung Markt zu zeigen, wo sich das Jenaer Stadtmuseum befand. Tobi sagte:
„Laut der Quellen brachen die Herren von Lobdeburg und die Herren von Leuchteburg in den ersten Jahren nach der Trennung offenbar gemeinsam zu verschiedenen Feldzügen ihrer Lehnsherren auf. Dies zeigt, dass die Familien zunächst nicht verfeindet waren. Zunächst!“
Hierbei hob er beide Augenbrauen und schaute bedächtig von Caro zu Falk und zurück. Tobi hatte schon vorher nicht schnell gesprochen, doch jetzt machte er eine besonders lange Pause, bevor er fortfuhr.
„In den folgenden Jahrzehnten dann erlebten beide Familienzweige einen schleichenden Niedergang. Sie unterstützten immer die falschen regionalen Herrscher, solche, die später selber besiegt wurden, und fielen so in Ungnade bei den jeweiligen Königen. Ab 1250 gab es dann sowieso keine Könige mehr, beziehungsweise, es gab mehrere gleichzeitig.“
„Das Interregium.“, warf Caro ein.
„Na bitte, es geht doch. Ganz genau, so nannte man diese Übergangsphase, in der es keinen alleinigen Herrscher gab. Die Hausmachtpolitik, die du vorhin erwähntest, wurde nun im großen Stil betrieben Die Fürsten waren alle bestrebt, ihr Territorium, also ihre Hausmacht, zu vergrößern. Und die Lobdeburger und die Leuchtenburger waren zu klein und unwichtig, sie wurden einfach zerrieben. Nach und nach mussten sie alle ihre Besitztümer und Lehen aufgeben. Die fielen an größere, mächtigere Fürsten…“
Tobi machte erneut eine Pause, um einen großen Schluck Wein zu trinken.
„Zuerst erwischte es die Leuchtenburger: 1333 mussten sie ihre Burg an ein steinreiches und sehr expansives sächsisches Adelsgeschlecht verkaufen. Und nur kurz darauf, 1340, fiel auch die ältere Burg, die Lobdeburg, an dasselbe Geschlecht.“
Triumphierend blickte er sich um. Falk wunderte sich, was an dieser Aussage so spektakulär war, als Caro nüchtern bemerkte:
„Deine Wettiner betreten also endlich den Schauplatz.“
„Es lässt sich nichts daran rütteln, Caro – sie verhalfen der ganzen Region zur Blüte! Überleg mal: um die Mitte des 14. Jahrhunderts wütete die Pest, ein Drittel der Bevölkerung Europas starb! Doch Jena, ebenfalls kurz zuvor den Wettiner in die Hände gefallen, wuchs und gedieh, der Weinbau und Handel brachten der Stadt neuen Reichtum ein. Das schlug sich auch im Stadtbild nieder: die Kirche St. Michael wurde gebaut, am Markt entstanden große repräsentative Bauten, eine neue Bürgerschaft bildete sich heraus…“
Interessiert beobachtete Falk den jungen Mann, der regelrecht ins Schwärmen geriet. Wieder war es Caro, die ihn unterbrach:
„Jaja, ich glaub’s dir. Aber was passierte mit den Burgen? Vor Allem mit der Leuchtenburg?“
„Nun, die Lobdedurg wurde von den Wettinern erobert, sie fiel also nicht kampflos, wurde dabei aber stark zerstört. Und was die Leuchtenburg angeht: die Wettiner wurden durch ihre Landnahme zu den Landgrafen von Thüringen, mit allen Rechten, aber auch allen Pflichten. Sie errichteten daher auf der Leuchtenburg einen Amtssitz zur Verwaltung der umliegenden Dörfer. Bis 1700 hatte dieses Amt Bestand.“
Tobi hielt inne, als wolle er die Information bei seinen Zuhörern erst einmal sacken lassen. Falk, der an das Bürgeramt Jena denken musste, und die Mitarbeiter, die dort hinter ihren Tresen hockten und Formulare stempelten, fand, dass ein Amt so ziemlich das letzte war, was er sich auf der Leuchtenburg vorstellen konnte, und warf einen ratlosen Blick zu Caro. Die war mit Schreiben beschäftigt und sah erst auf, als sich Tobi abrupt erhob und erklärte, er werde jetzt eine rauchen.
Caro wechselte einen kurzen Blick mit Falk, und sagte dann:
„Lass dich nicht aufhalten. Wir warten hier.“
*
Schweigend beobachteten sie, wie Tobi sich entfernte.
„Du gehst gar nicht mit ihm eine rauchen?“, fragte Falk schließlich. Caro winkte ab.
„Nee, der verdirbt mir den ganzen Genuss!“
Falk blickte immer noch Tobi hinterher. Es kam ihm so vor, als ob er leicht schwankte. Er grinste Caro breit an.
„Spar's dir!“, sagte sie unwirsch.
Falk dachte gar nicht daran.
„Du hast einen exquisiten Geschmack, was Männer angeht. Allein diese schwarz verfärbte Rotweinzähne – da würd ich auch drauf abfahren!“
Sie warf einen Stift nach ihm.
„Irgendwie fand ich ihn mal echt toll. Ich war jung, ganz neu hier in Jena. Aber ich hab schon bald gemerkt was für ein Arschloch er ist. Wir waren mal zusammen in München, Museumstour. Er ist alle halbe Stunde in irgendein Café verschwunden. Sagte, dass er einen Espresso bräuchte. Espresso mit Schuss war’s, was er sich genehmigt hat! Einen nach dem anderen! Nachmittags um drei war er so in Fahrt, dass er mitten im Deutschen Museum angefangen hat, unsere Museumsführerin zu beleidigen, aber auf's übelste. Es war so peinlich!“
Falk fragte sich, wie ein Espresso mit Schuss wohl schmeckte und hatte das Gefühl, selber einen gebrauchen zu können. Dann tauchte Tobi wieder auf, nahm auf seinem Stuhl Platz und erzählte weiter, nicht ohne sich vorher mit gewichtigen Blicken der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu vergewissern.
„Um 1450 zerstritten sich die Wettiner untereinander. Es folgte der sächsischen Bruderkrieg. Im Zuge dessen wurde die Lobdeburg zerstört. Und die Wettiner teilten sich schließlich 1485 bei der Leipziger Teilung in zwei Linien, die Albertiner und die Ernestiner, nach den Brüdern Albert und Ernst. Die Leuchtenburg blieb Amtssitz, fiel aber an die Ernestiner, die zunächst auch Kurfürsten von Sachsen blieben, bis dann 1547…“
„Stop!“, rief Falk an dieser Stelle.
Sowohl Tobi wie auch Caro sahen ihn überrascht an, so als hätten sie nicht damit gerechnet, dass er dem Gespräch überhaupt noch folgte. Falk sagte bedächtig:
„Wenn ich das richtig verstehe, wurde die Lobdeburg also zerstört. Die Leuchtenburg wurde Amtssitz der Wettiner. Wohin gingen denn dann die Leute, die auf den Burgen gelebt hatten? Also, diese Herren von Lobdeburg und von Leuchtenburg?”
„Guter Einwand!“, sagte Caro.
„Ach richtig.“, seufzte Tobi, „Ihr wolltet ja gar nichts über die Wettiner wissen... Zu schade. Also zurück zu euren Burgen. Beziehungsweise ihren Erbauern. Beide Geschlechter existierten weiter, bis heute, und beide Familien blieben in Thüringen ansässig. Die Lobdeburger bewiesen hierbei das bessere Händchen, sie ließen sich in Jena nieder und konnten sich als einflussreiche Familie etablieren. Immerhin hatten sie bei der Gründung der Stadt mitgewirkt. Sie saßen im Stadtrat, und hatten Verbindungen in kirchliche Kreise sowie zum einflussreichen Adel am Hof des Königs. Maximilian I. verlieh ihnen 1497 ein Wappen. Die Leuchtenburger hingegen waren diensthabende Ritter an anderen Adelshöfen, ohne eigene Ländereien. Da gab es zum Beispiel Ritter Kune von Leuchtenburg, der unter den Schwarzburgern bei der Thüringer Grafenkriegen in den Jahren nach 1340 in einigen Schlachten gegen die Wettiner Ruhm erlangte. Aber wie gesagt, die Wettiner waren letztlich nicht aufzuhalten.“
Der machte Falk wahnsinnig, mit seinen Wettinern! Glücklicherweise schien es Caro ähnlich zu gehen.
„Wo genau wohnten die Lobdeburger und Leuchtenburger?“, fragte sie.
„Nun, die Leuchtenburger an den jeweiligen Höfen ihrer Dienstherren. Bei den Lobdeburgern ließe sich das wenn überhaupt nur mit Mühe rekonstruieren.“
„Aber jetzt besitzen die Lobdeburger doch ein Anwesen in einem Dorf Richtung Kahla, kann das sein?“, fragte Falk, sich an eine entsprechende Bemerkung seines Vaters erinnernd.
„Das stimmt, in Oelknitz. Am Tor prangt das Wappen der Lobdeburger: ein Pfau mit Helmzier. Soweit ich weiß ist das Grundstück aber erst seit etwa 100 Jahren im Besitz der Lobdeburger. Die Familie der Leuchtenburger übrigens besaß ein Haus hier in Jena. Das Haus, in dem die tote Frau gefunden wurde – wir sprachen ja vorhin schon davon.“
Caro hakte nach:
„Aber da wohnte doch schon lange niemand mehr drin, oder? Es heißt, es sei ziemlich verfallen.“
„Nun, Marie von Leuchtenburg zog natürlich nach ihrer Hochzeit zu ihrem Mann, Paschen von Flotow. Und Maries Eltern sind beide schon lange tot. Ich denke, seitdem steht das Haus leer. Was die arme Frau an jenem Abend, vor einer Woche dazu gebracht hat, dorthin zurückzukehren – keine Ahnung. Vielleicht wollte sie es endlich verkaufen und sich vorher noch einmal umsehen.“
Alle drei schwiegen einen Moment. Falk begutachtete eingehend sein Apfelsaftglas, Caro machte sich Notizen, und Tobi gönnte sich einen Schluck Rotwein.
„Was hat es eigentlich mit deiner komischen Andeutung von vorhin auf sich – dass sich die Herren ZUNÄCHST noch nicht zerstritten hätten?!“, fragte Caro schließlich abrupt.
„Hast gut aufgepasst, was? Nun, ganz einfach: die Familien gelten seit Jahrhunderten als verfeindet. Irgendetwas war vorgefallen, in dieser Zeit zwischen 1333 und 1340, als beide Geschlechter ihre Hausburgen verloren hatten, kurz hintereinander. Man munkelte, dass es die Leuchtenburger waren, die damals die Lobdeburger an die Wettiner verrieten. Die Leuchtenburger hatten ihre Burg ja schon verkaufen müssen. Vielleicht verkrafteten sie diese Demütigung nicht. Die Eroberung der Lobdeburg jedenfalls, nur kurz danach, muss auffallend schnell gegangen sein. Viel ist darüber leider nicht bekannt. Nur dass die Lobdeburg dabei so stark zerstört wurde, dass ein Wiederaufbau offenbar nicht mehr lohnte.“
„Wie bist du denn auf diese Spur gekommen, also dass die Familien als verfeindet galten?“
Belustigt schaute Tobi zu Caro hinüber.
„Ich bin Historiker, Caro. Ich lese historische Quellen, übersetze und bewerte sie. So wie du es eigentlich auch tun solltest. Oder bist du zu beschäftigt mit Radiomachen?“
Falk stellte sich die beiden als ein sich ewig streitendes altes Ehepaar vor. Caro überging unterdessen die Frage.
„Ich nehme demnach an, du hast die Hinweise zu deinen Vermutungen im Archiv gefunden.“, stellte sie fest.
„Ganz richtig.“, nickte Tobi. „Apropos: wie geht es eigentlich voran mit der Magisterarbeit?“
Caro stutzte, schob dann mit einer ungeduldigen Bewegung sämtliche Notizzettel zusammen und sagte:
„Das war alles sehr aufschlussreich, Tobi. Aber ich denke, das reicht jetzt. Wollen wir, Falk?“
Sie war bereits aufgestanden und Falk fing einen durchdringenden Blick von ihr auf. Ihm war es nur recht. Er fand, sie hatten von Tobi zwar eine Unmenge an Zahlen und Daten erfahren, jedoch nichts, was ihnen wirklich weiterhalf. Außerdem musste er aufs Klo.
Tobi indes machte keine Anstalten, sich von seinem Stuhl zu bewegen. Stattdessen sagte er:
„Ich denke, dieser jahrhundertealte Streit ist eine Fehde. Und ich denke, dass der Tod von Marie von Flotow, geborene Leuchtenburg, etwas damit zu tun hat.“
*
Entgeistert starrte Falk erst zu Tobi, der anfing, sich eine weitere Zigarette zu rollen, und dann zu Caro. Die hatte ihre Jacke schon halb übergezogen, und hielt nun inne.
„Eine Fehde? Tobi, das Fehdewesen steht unter Strafe, seit der Allgemeine Landfriede ausgesprochen wurde. Wann war das: 1200? Und außerdem…“, entschlossen knöpfte sie ihre Lederjacke zu. „… ist das doch kompletter Schwachsinn!“
„Aber interessieren tut es dich schon.“, stellte Tobi eher beiläufig fest, und steckte sich seine Zigarette hinters Ohr.
Jetzt war es an Falk, Caro vielsagend anzusehen. Sie durfte unter keinen Umständen ein allzu auffälliges Interesse an dem Thema zeigen! Caro nickte unmerklich und sagte schnell:
„Tobi, in allen Nachrichten wurde über die tote Frau berichtet. Jeder wollte wissen, was dahinter steckt. Und was war: eine alte Schnapsdrossel ist die Treppe runter gefallen.“
Ihr spöttisches Lächeln auf den Lippen setzte sie sich wieder hin, und beugte sich über den Tisch ganz nah zu Tobi.
„Wenn eine Fehde dahinterstecken soll, musst du aber eine ziemlich spektakuläre Quelle gefunden haben“, sagte sie.
Sie will ihn bei seinem Stolz als Historiker packen, dachte Falk. Wenn sie ihn dazu kriegt, mehr zu erzählen, dann so. Und tatsächlich, Tobi kniff seine kleinen Mausaugen hinter der Brille zusammen und bemerkte oberlehrerhaft:
„Ihr kennt die sieben Hauptlaster?“
Falk warf ein: „Ist Hochmut nicht eines davon?“, und Caro unterdrückte ein Grinsen, bevor sie zu Tobi sagte:
„Worauf willst du hinaus?“
„Die Laster – das Wort stammt übrigens vom althochdeutschen ‚laster’ ab, was soviel wie ‚Schmach’, ‚Tadel’ oder ‚Fehler’ hieß – spielten im Hochmittelalter in zahlreichen theologischen und literarischen Werken eine große Rolle, vom Alltag der Menschen mal ganz abgesehen. Und als eines der zerstörerischsten Laster galt der Neid.“
Bedeutsam sah Tobi zu Caro, die seinen Blick ausdruckslos erwiderte.
„Ich will an dieser Stelle nicht zu viel verraten.“, fuhr der Doktorand fort. „Aber ich habe ein ziemlich aufschlussreiches Schriftstück von einem Dominikanermönch namens Claudius von Leuchtenburg gefunden, aus dem Jahr 1340. Bruder Claudius lebte und wirkte im Kloster innerhalb der Stadtmauern Jenas. Man geht davon aus, dass es ursprünglich von den Lobdeburgern gestiftet wurde, um ihre und andere adlige nicht-erstgeborenen Söhne unterbringen zu können, ähnlich wie es ja auch das Zisterzienserinnenkloster in Stadtroda für die unverheirateten Töchter gab. Nun, jedenfalls verfasste dieser Mönch eine Abhandlung über das Laster Neid, bei der er sich auf ein Exempel aus seiner Zeit beruft.“
„Aber keine Namen nennt.“, vermutete Caro.
Tobi nickte, und erzählte, dass dennoch erstaunliche Parallelen zu der Geschichte der Lobdeburg-Leuchtenburger Teilung und den Geschehnissen der Jahrzehnte danach, bis hin zum Übergang der Lobdeburg an die Wettiner, erkennbar seien. Claudius beschreibe erst den Niedergang eines namenlosen niederen Adelsgeschlechts, und dann, wie der Neid auf die in der Nähe lebende erfolgreichere Verwandtschaft letztlich zum Verrat an deren Feinde geführt hätte, was auch den anderen Familienzweig die Hausburg gekostet habe.
„Wird Bruder Claudius denn konkret bei diesem Verrat?“, fragte Caro.
„Ich denke schon.“, erwiderte Tobi geheimnisvoll. „Ich bin noch nicht soweit mit Übersetzen. Aber wenn ich es wüsste,“, fügte er vergnügt hinzu, „würde ich es dir wohl kaum auf die Nase binden!“
Caro zuckte die Achseln, so, als habe sie nichts anderes erwartet. Ob er sonst noch etwas habe, was seine Fehdentheorie bestätigte, wollte sie betont gleichgültig wissen.
Tobi schien verärgert über ihr geringes Maß an Ehrfurcht über seine offenkundig bedeutsame Entdeckung, denn er fuhr tatsächlich mit seinen Ausführungen fort. Wie bereits gesagt sei aus verschiedenen städtischen Quellen belegt, dass die Familie der Lobdeburger nach der Vertreibung aus ihrer Burg traditionell ehrbare Berufe bekleidet und bei der Stadtentwicklung Jenas mitgewirkt habe. Die Leuchtenburger hingegen seien nicht nur verarmt, sondern auch ohne Einfluss gewesen, was sicherlich bitter gewesen sei.
Aber eine Fehde?, unterbrach ihn Caro? Nur wenn ein Familienzweig erfolgreicher war als der andere, sei das doch kein Hinweis auf eine jahrhunderte andauernde Feindschaft!
„Glaub mir, ich habe Grund zu meiner Vermutung. Es sind auch immer wieder Mitglieder beider Familien unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen. Das ist belegt durch Briefe von Zeitzeugen, Notizen von Gerichtsvorstehern... Du ahnst ja gar nicht, was man im Archiv so alles entdecken kann. Man muss nur wissen, wo man suchen muss. Wenn du endlich mal anfangen würdest mit der richtigen Arbeit eines Historikers, wäre das auch dir bewusst.“
Scharf sagte Caro:
„Ist dir eigentlich klar, was du da andeutest? Willst du etwa behaupten, Marie von Flotow hatte doch keinen Unfall? Willst du behaupten, dass ein Lobdeburger dabei seine Finger im Spiel gehabt hätte? Sie etwa ermordet hätte? Nur weil sie eine geborene Leuchtenburg war?“
Tobi verzog das Gesicht.
„Sei doch bitte etwas leiser!“, raunte er und ließ seine Augen verstohlen nach links und rechts wandern, als fühlte er sich von feindlichen Mithörern umzingelt. Falk, der dem Wortwechsel mit wachsender Besorgnis gelauscht hatte, warf unwillkürlich ebenfalls einen Blick über die Schulter. Ein paar Tische weiter sah er die dicke Studentin sitzen, zu deren Kaffeebecher sich mittlerweile ein großzügiges Stück Torte gesellt hatte. Hinter dem Verkaufstresen der Cafeteria tratschten zwei Frauen und sahen immer wieder zu dem Alten mit den abgeschnittenen Handschuhen hinüber, der, den Kopf auf den Tisch gebettet, laute Schnarchgeräusche von sich gab.
Falk drehte sich wieder um und beugte sich vor, um Tobi besser verstehen zu können. Caro saß währenddessen mit verschränkten Armen und versteinerter Miene da.
„Kennt ihr diesen Helmut von Lobdeburg?“, fragte Tobi beiläufig. „Sitzt im Stadtrat und bewirbt sich für das Amt des Ortteilbürgermeisters Lobeda. Denkt an sein Anwesen, denkt an sein Wappen. Und stellt euch vor: er ist Betreiber eines Vereins „Freunde der Lobdeburg“!“
Tobi schien anzunehmen, dass allein diese Tatsache schon allerlei Untaten beweisen würde. Falk konnte in seinem Atem eine Mischung aus Wein, Zigaretten und Heringsbrötchen riechen. Caro zischte mit mühsam unterdrückter Heftigkeit:
„Nur weil jemand stolz auf seine adelige Herkunft ist, bedeutet das doch nicht, dass er eine Fehde aus dem Mittelalter aufrechterhalten muss. Und deswegen gar zum Mörder wird. Das ist einfach absurd!“
„Wenn du soviel Ahnung hast, brauchst du mir ja nicht glauben.“, sagte Tobi achselzuckend.
Dann grinste er plötzlich.
„Wir wissen nicht, was Marie von Flotow vielleicht im Vorhinein zur Aufrechterhaltung der Fehde beigetragen hat. Zutrauen tue ich euch Frauen so einiges. Ihr spielt doch gerne mal ein falsches Spiel, nicht wahr, Caro?“
Er lehnte sich zurück und trank so genüsslich seinen Wein aus, als säße er in einem behaglichen Kaminzimmer und nicht unter dem Neonlicht der Universitätscafeteria. Finster sah Caro ihm zu.
„Was hast du da bloß im Archiv entdeckt, Tobias.“, sagte sie schließlich, offenbar ohne eine Antwort zu erwarten. Falk konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass beide, sowohl Tobi als auch Caro, beinahe Spaß hatten an ihrer Auseinandersetzung. Er hingegen fand das alles gar nicht komisch.
Tobi sagte unterdessen mit samtweicher Stimme zu Caro:
„Du sagtest, du hast einen Interviewtermin mit dem alten Goldschmied Franz Argot. Da hat dir dein sogenannter weiblicher Charme also sogar mal genützt und nicht geschadet. Erwähne die Fehde, wenn du mit ihm sprichst. Wenn die Verbindung zu den Leuchtenburgern tatsächlich bestand, dann muss er etwas darüber wissen.“
Schmeichelnd fügte er hinzu:
„Eine Hand wäscht die andere, Caro! Erzähl mir hinterher, was er gesagt hat. Dann nehme ich dich auch mit ins Archiv und zeige dir, was ich gefunden habe! Ohne mich kommt du da nie rein.“
Caro schob ihre Notizen auf dem Tisch hin und her.
„Vielleicht mache ich das, vielleicht auch nicht.“, erklärte sie. „Aber ganz ehrlich, ich halte nichts davon, irgendwelche Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen. Bei meiner Sendung geht es um mittelalterliche Handwerkskunst, und das wird auch das Thema meines Interviews sein.“
Tobi lachte wieder.
„Na wie du meinst. Ich hatte eher den Eindruck, du willst was über die Leuchtenburger wissen. Immerhin hast du mich dazu ja auch ganz gut ausgehorcht heute, zusammen mit deinem schweigsamen Kumpanen. Auf diese Radiosendung bin ich wirklich wahnsinnig gespannt.“
Falk dachte, dass das in etwa so geklungen hatte, wie wenn seine Schwester Theresa einer ihrer Töchter versicherte, dass sie schon mächtig Hunger habe, beim Anblick dieses herrlichen Kuchens aus dem Sandförmchen. Tobi war unterdessen aufgestanden, hatte seine Aktentasche umgehängt, Caro weiterhin viel Erfolg gewünscht, sich von Falk „Vocal Jazz“ als musikalische Untermalung seines Beitrags gewünscht, und sich mit einer übertriebenen Verbeugung verabschiedet.
Falk sah Tobi hinterher, wie der in Richtung Ausgang eierte, den Tabak aus seinen Hosentaschen herauskramend – die fertig gedrehte Zigarette hinter seinem Ohr hatte er offenbar vergessen. Eines war Falk klar: auch wenn die Theorie nach versoffenem Seemannsgarn geklungen hatte - den Eindruck, als wäre er ein Dummkopf, hatte Tobi ganz und gar nicht gemacht.
*
Caro zog an ihrer Zigarette, als wäre diese ein Strohhalm in einem Eimer Sangria auf Mallorca. Falk, der zunächst eilig zur Toilette gegangen war, dabei das Gespräch hatte Revue passieren lassen, um dann in zunehmender Aufregung in den Innenhof hinaus zu treten, hatte Caro beim Brunnen vorgefunden, ebenfalls sichtlich aufgebracht.
„Hast du das mitgekriegt?“, fragte sie, den Rauch ausblasend. „Beide Gläser Wein hab ich bezahlt! Er ist und bleibt ein Schmarotzer!“
„Darüber machst du dir Gedanken?“, rief Falk. „Ganz ehrlich, wir haben andere Sorgen!“
Caro tat ungerührt.
„Was meinst du?“
Falk wollte sie am liebsten packen und schütteln.
„Diese Fehde, von der Tobi erzählt hat! Was, wenn da was dran ist? Was, wenn dort oben wirklich ein Mord geschehen ist?!“
Als ihm auffiel, wie laut er sprach, trat er auf Caro zu und fuhr mit leiserer Stimme, aber wachsendem Ärger fort:
„Und dann hast du uns auch noch total verdächtig gemacht, mit deiner ganzen Fragerei! Der glaubt dir das mit der Radiosendung doch keine Sekunde!“
Er begann, hektisch auf- und abzulaufen. Eine Taube, die in der Nähe gepickt hatte, flatterte entrüstet auf. Caro hatte die Arme verschränkt und sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
„Was ist, wenn Tobi mit seiner wirren Geschichte zur Polizei rennt?“, sagte Falk. „Und dann ganz nebenbei erwähnt, wie sehr wir beide uns für die Sache interessiert haben!“
In Gedanken ging er bereits verschiedene Brücken über die Saale durch, wo er den Lederbeutel unauffällig würde verschwinden lassen können. Oder wäre es vielleicht sogar besser, ihn im Wald zu vergraben? Die Sache mit den Fingerabdrücken musste er natürlich bedenken – er hatte das Schwert, nachdem er neulich abgewischt hatte, schon mehrfach wieder angefasst. Und blieben eigentlich Fingerabdrücke auf Leder zurück?
„Als erstes muss ich diese Fotos löschen.“, murmelte er, zog seine Digitalkamera hervor und drückte hektisch verschiedene Knöpfe, bis er den gefunden hatte, mit dem sämtliche Aufnahmen gelöscht wurde.
Caro, die bisher nichts gesagt hatte, prustete plötzlich los.
„Das ist nicht lustig!“, rief er wütend.
„Falk, diese Geschichte mit der Fehde ist Humbug. Tobi hat sich da verrannt.“, sagte Caro, wieder ernst.
Falk fand das nicht im Mindesten beruhigend.
„Beweise. Das Schwert, der Brief, all das könnten Beweise sein, bei einem Verbrechen! Was für eine Riesenscheiße. Ich muss das Zeug irgendwie loswerden. Eigentlich müsste ich es zur Polizei schaffen. Verdammt, verdammt…“
Wie von weit her hörte er Caros Stimme und es dauerte einen Moment, bis er sich wieder so weit konzentriert hatte, dass er ihr zuhören konnte.
„…es ein Unfall gewesen ist. Das wurde doch zweifelsfrei festgestellt.“, sagte sie. „Es wurde eine Obduktion gemacht, die hat ergeben, dass sie sternhagelvoll war. Und dazu noch Medikamente genommen hatte – was waren das, Antidepressiva? Sie ist gestürzt, Falk. Da war kein Lobdeburger, der sie wegen einer Fehde geschubst hat.“
Störrisch schüttelte Falk den Kopf.
„Trotzdem, wenn Tobi zur Polizei geht, und von seiner Idee mit der Fehde erzählt, und dann von uns? Dann kommt trotzdem heraus, dass wir etwas mit der Toten zu tun haben könnten.“
Tobi werde ganz sicherlich weder der Polizei, noch sonst jemandem von seiner Theorie erzählen, versicherte Caro. Dafür sei er viel zu eitel – was auch immer er zu dieser Fehde entdeckt hätte, er würde es in irgendeiner Weise veröffentlichen wollen, so dass er den Ruhm absahnen würde.
Warum er ihnen dann so bereitwillig davon erzählt habe?, wollte Falk angriffslustig wissen.
Um sich wichtig zu machen, meinte Caro. Und außerdem, das habe sich ja erst am Ende herausgestellt, wollte er über sie ebenfalls an Schmied Argot herankommen.
„Dieser alte Goldschmied ahnt vermutlich nicht einmal, wie viele Menschen sich brennend für ihn interessieren…“, schloss sie.
Caro sah kein bisschen reumütig aus, erkannte Falk. Dass er ihr vorgeworfen hatte, sie hätte ihn in Schwierigkeiten gebracht, schien sie noch nicht einmal wahrgenommen zu haben.
„Diese ganze Sache mit Tobi war ein Riesenfehler, Fräulein Schubert!“, sagte er daher. und war überrascht über seinen scharfen Tonfall, denn den hatte er bei sich so noch nie gehört.
Er zeigte jedenfalls Wirkung. Caro musterte ihn und schien zu erkennen, was er eigentlich damit sagen wollte: nämlich dass er es bereute, ihr überhaupt von dem Schwert und dem Brief erzählt zu haben. Sie blickte einen Moment im Innenhof umher, als sähe sie das alles zum ersten Mal. Der alte Mann aus der Cafeteria wankte vorbei. Caro holte tief Luft.
„Ok, ok, ich gebe zu, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir Tobi da nicht mit hinein gezogen hätten. Es tut mir Leid, Falk. Ehrlich!“
Die beiden sahen sich überrascht an und horchten ihren Worten hinterher, als hätte sie plötzlich in einer fremden Sprache geredet. Falk beschlich der Verdacht, dass Entschuldigungen nicht zu Caros Stärken zählten.
Er wendete sich ab und ging los, in Richtung seines Fahrrads. Caro lief neben ihm her. Beide schwiegen. Von irgendwoher wehte ein Duft von frischen Brötchen heran und Falk merkte plötzlich, wie erschöpft und hungrig er war. Caro schnupperte, warf ihm einen Blick zu, nahm ihn am Arm, bevor er sein Rad abschließen konnte, und zog ihn über die Straße. Bei dem Bäcker gegenüber erstand sie für jeden von ihnen ein belegtes Brötchen und eine kalte Cola. An ein Geländer gelehnt aßen sie, und erst nach einer für ihre Verhältnisse ungewöhnlich langen Redepause nahm Caro, ihr halb aufgegessenes Brötchen noch in der Hand, den Faden wieder auf:
„Du musst doch einfach noch mal überlegen: er ist von selbst auf die Fehde zu sprechen gekommen, und dass die etwas mit Maries Tod zu tun haben könnte. Ich glaube wirklich nicht, dass wir ein in irgendeiner Weise verdächtiges Interesse gezeigt haben. Erinnerst du dich? Wir waren eigentlich schon am Ende unseres Gesprächs angekommen.“
Falk zuckte mit den Schultern. Er war mittlerweile zu der Einsicht gelangt, dass es keinen Sinn hatte, sich die Laune vermiesen zu lassen von Dingen, die er nun sowieso nicht mehr ändern konnte. Das Brötchen hatte sein Übriges dazu beigetragen. Er schob sich den letzten Bissen in den Mund und spülte mit Cola nach.
„Na gut. Nehmen wir mal an, er nimmt uns tatsächlich ab, dass wir uns wegen der Radiosendung nach der Vergangenheit der Leuchtenburg und der Leuchtenburger erkundigt haben. Nehmen wir an, wir haben uns nicht verdächtig gemacht, und Tobi wird nicht zur Polizei gehen. Was bleibt, ist trotzdem die Möglichkeit, dass etwas dran ist an der Sache mit der Fehde. Überleg doch mal: mit Marie ist die Linie der Leuchtenburger nun erloschen. Wäre das nicht etwas, was ein Feind, also zum Beispiel ein Lobdeburger, sich wünschen würde? Denn damit wäre doch die Fehde, wenn es sie denn geben würde, ein für alle Mal beendet.“
Falk fahndete in seinen Taschen nach einer Packung Kaugummi, steckte sich eins in den Mund und bot Caro die Packung an. Sie bediente sich und nickte ihm dankbar zu.
„Es ist schwierig zu erklären...“, sagte sie.
„Warum? Weil du keine richtige Historikerin bist?“
Sie fuhr herum, als hätte er sie geohrfeigt, und wollte etwas sagen, doch Falk kam ihr zuvor:
„Und was hat es eigentlich mit deiner Magisterarbeit auf sich? Und warum kommst du ohne Tobi nicht ins Archiv?“
„Ich... Tobi... Das ist doch alles...“ Caro warf ihr halbes Brötchen mit einer heftigen Bewegung in einen Mülleimer. „Mann, Falk! Ich hab mir ja auch viel mehr erhofft von diesem Gespräch heute! Aber mehr als mich entschuldigen kann ich nicht!“, rief sie aus.
„Ich zieh dich nur auf, Caro.“, sagte Falk. „Tobi ist ein...“
„... Arschloch, genau! Noch lange kein Grund für dich, selber zu einem zu werden.“
Sie sah ihn an und fast meinte er, Tränen in ihren Augen zu sehen, doch er konnte sich auch täuschen.
Frauen würden öfter mal falsch spielen, das hatte Tobi auch gesagt, dachte Falk.
Caro hatte sich eine Zigarette angezündet.
„Warum versuchst du nicht einfach, mir zur erklären, was er gemeint hat?“, meinte Falk versöhnlich. „Und dann kannst du mir bei der Gelegenheit auch gleich noch erzählen, wer oder was diese Minister sind, von denen Tobi geredet hat. Und was ist eigentlich ein Lehen? Und dieses mysteriöse Archiv, was ist das überhaupt?“
Caro rauchte und schwieg eine Weile.
„Du hast vollkommen Recht.“, sagte sie schließlich. „Woher sollst du all das auch wissen.“
Mit einem etwas erzwungen wirkenden kleinen Lächeln sah sie ihn an, und sagte dann:
„Hör mal, wie wär’s mit noch einem kleinen Crashkurs zum Lebensalltag im Mittelalter? Ich könnte dir zumindest einige Fragen beantworten. Dann wird dir vieles klarer. Mir selber übrigens auch…“, fügte sie hinzu, und wieder einmal musste Falk feststellen, dass ihr Spott nicht nur anderen, sondern genauso auch ihr selbst galt.
„Lädst du mich auf nen Espresso mit Schuss ein?“, fragte er. „Hast doch heute eh die Spendierhosen an.“
Caro grinste breit.
„Ok. Lass uns zum Markt gehen.“, schlug sie vor.
Während Falk sein Rad neben ihr her schob, dachte er darüber nach, warum er sich überhaupt auf diese ganze Sache einließ, und nicht einfach nach Hause fuhr und am Computer bis nachts um eins zockte. Vielleicht lag es daran, dass Caro ihm das Gefühl gab, mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Weder ließ sie ihn ihren Universitätsabschluss spüren, wie es Konrad Seilers Kollegen, die zu Hauf auf dessen Grillabenden rumhingen, gerne taten, noch musste er sich von ihr über Autos und Frauen belehren lassen, wie von Micha und Robs. Tatsächlich schien sie ihm mehr zuzutrauen als seine eigene Mutter, die ihm erst das Abitur ausgeredet hatte – er sollte lieber eine ‚anständige Lehre’ machen - und dann den Führerschein – ob er überhaupt wisse, was das koste.