Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 7

Tag 5 - 6, Montag bis Dienstag

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Am Montag erschien im Lokalteil der Thüringer Landeszeitung ein Artikel über den mysteriösen Tod der alten Dame in Jena. Ein Foto, laut Bildunterschrift aus dem letzten Jahr, zeigte sie zusammen mit ihrem Mann in der kiesbestreuten Auffahrt zu einem großen Haus, offenbar ihrem Wohnsitz bei Altenburg. Marie von Flotow wirkte sehr klein und zerbrechlich, insbesondere, da sich neben ihr ein riesiger Rassehund postiert hatte. Die Aufnahme war anscheinend von einem Profi gemacht worden, sie war ausgeleuchtet wie in einem Werbeprospekt. Auffallend an Marie waren ihre üppigen dunklen Locken, die sie viel jünger erscheinen ließen als sie zu ihrem Tod gewesen war, nämlich 52 Jahre alt. Die ganze Familie von Flotow – Mann, Frau und Hund - hielten sich auf dem Foto kerzengerade aufgerichtet vor dem prächtigen Anwesen, und alle drei machten auf Falk, der den Artikel in seiner Mittagspause beim Fleischer, wo immer ein paar Zeitungen auslagen, las, einen ziemlich arroganten Eindruck.

In dem Text zum Foto wurden weitere Fakten zusammengefasst: bei der Obduktion von Marie von Flotows Leichnam, die in der Pathologie der Uniklinik durchgeführt worden war, hatte sich herausgestellt, dass die geborene Leuchtenburgerin mit einem Blutalkoholwert von über 2 Promille in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gestorben sei. Ihr Auto, einen Mini, hatte man auf dem nahe gelegenen Parkplatz entdeckt. Zum Fundort der Leiche, dem verfallenen Holzhaus am Hausberg, hatte anscheinen jemand im Bauamt recherchiert und herausgefunden, dass es im Besitz der Eltern von Marie von Flotow gewesen war, die auch bis Ende der 80er Jahre dort gewohnt hatten. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Marie das Haus geerbt und offensichtlich verkommen lassen, es aber auch nie verkauft. Im Obergeschoss waren ihre Tasche und ein Fotoalbum gefunden worden, mit Kinder- und Jugendfotos der Verstorbenen, außerdem eine leere Weinflasche und verschiedene verschreibungspflichtige Medikamente. Offenbar war sie, stark alkoholisiert und unter dem Einfluss der Medikamente, in ihrem ehemaligen Elternhaus die Treppe heruntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Ihr Tod war als tragischer Unfall deklariert und weitere Nachforschungen eingestellt worden.

Dennoch war das allgemeine Interesse an dem Todesfall ungebrochen groß. Aus einem Gespräch der Sekretärin mit der Auszubildenden, das Falk zufällig mitbekam, als er sich am Nachmittag einen Kaffee holte, konnte er einen Grundton genüsslicher Entrüstung heraushören: es zeigte sich hier, dass selbst hinter der vornehmen, gediegenen Fassade einer Adelsfamilie Abgründe aus Alkohol und Verwahrlosung lauern konnten. Und das, obwohl der Witwer, Paschen von Flotow, in Leipzig eine einflussreiche Persönlichkeit war!

Als Falk nach Feierabend nach Hause radelte, bemerkte er einen kleinen Trupp Journalisten am steilen Steinborn, die Passanten ihre Mikrofone unter die Nase hielten. Später, in den Lokalnachrichten bei JenaTV um zwanzig Uhr, kam sogar Falks Nachbarin zu Wort, die aussagte, dass man sich „hier in den Straße ja schon immer gefragt“ habe, warum das wunderschöne alte Holzhaus oben im Wald so vergammeln konnte. Nun aber, so fabulierte die Nachbarin weiter, sei all das verständlich: die alte Marie von Flotow hatte sich aus nostalgischen Gründen nicht von ihrem Elternhaus trennen können, aber auch nicht die Mittel besessen, es wieder herrichten zu lassen.

In dem Beitrag wurden auch die mittelalterlichen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Leuchtenburgern und der Familie der Lobdeburger thematisiert. Helmut von Lobdeburg, der bekannte Lokalpolitiker mit Ambitionen auf das Bürgermeisteramt in Lobeda, wurde erwähnt. Außerdem hatte sich ein Professor an der Universität gefunden, der zu berichten wusste, dass sich ein Vorfahr der toten Leuchtenburgerin als Ritter in irgendwelchen Scharmützeln des 14. Jahrhunderts hervorgetan hatte.

Am Dienstag erschien eine Hintergrundreportage über die ehemalige Stammburg des Geschlechts der Leuchtenburger, wieder in der Thüringer Landeszeitung. Alte Gemäuer und Burgruinen gab es zwar zu Hunderten in Thüringen, die Leuchtenburg jedoch war ungewöhnlich gut erhalten und ragte auf einem Tafelberg hoch über der Saale bei Kahla, etwa 20 Kilometer von Jena entfernt, auf. Der markante Umriss, mit dem einzelnen hohen Turm in der Mitte, dem sogenannten Bergfried, war von den höher gelegenen Jenaer Stadtvierteln aus klar zu sehen, und galt als Wahrzeichen der Region.

Der Witwer schließlich ließ, ebenfalls am Dienstag, eine Pressemitteilung herausgeben, die in den Nachrichten zitiert wurde und in der es hieß, er sei „tief betroffen und erschüttert“ über den „unerwarteten tragischen Verlust“ seiner „geliebten Ehefrau“, er danke „für die Anteilnahme und den Zuspruch in dieser schweren Zeit“,und er wünsche sich nun „Ruhe und Respekt vor der Privatsphäre der Familie“.

Falk war zwar durchaus erleichtert gewesen, als offiziell bestätigt worden war, dass Marie durch einen Unfall ums Leben gekommen war, denn nun hatte er nicht mehr das Gefühl, möglicherweise wichtige Beweisstücke in seinem Besitz zu haben. Dennoch ahnte er, dass es für die Polizei höchstwahrscheinlich von Belang wäre, wenn sie von dem Schwert und dem Brief wüssten. Seine Beunruhigung über die Situation war erschöpfend, und er war am Montagabend im Wohnzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen.

Im Büro wurden die Geschehnisse glücklicherweise schon am Dienstag nur noch am Rande diskutiert, da der Chef mit gleich zwei großen Aufträgen von einer Messe in Frankfurt zurückgekehrt war. Außerdem fiel gegen acht Uhr dreißig morgens der Plotter aus. Falk war vollauf beschäftigt, die Wartungsfirma zu beauftragen, sowie den Ersatzplotter einzurichten und auf allen Rechnern zu installieren.

Er stürzte sich mit deutlich mehr Elan als üblich in die Arbeit, denn er hatte festgestellt, dass sich das unangenehme Gekribbel in seinem Bauch durch Ablenkung am besten vermeiden ließ. Er durfte einfach nicht mehr an die tote Adlige denken, oder gar an ihre Habseligkeiten, die weiterhin im Bettkasten seines Schlafsofas verstaut waren. Dort lagen nun der Beutel, das Schwert und der Brief seit Sonntag.

*

Als Falk am Dienstagmittag mit einigen Kollegen bei einem nahegelegenen Imbissstand in der Sonne saß, erhielt er eine Textnachricht von Caro. Sie wollte wissen, ob es bei ihrer Verabredung zum Schlauchboot fahren bleiben würde. Falk antwortete sogleich und schlug als Treffpunkt die Straßenbahnhaltestelle an der Camsdorfer Brücke vor.

Falk machte zeitig Feierabend, kam fünf Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt um vier Uhr an der Brücke an, und war angenehm überrascht, dass Carolina Schubert bereits da war. Sie stand an die steinerne Brüstung gelehnt, schnippte die Asche ihrer Zigarette hinunter ins Wasser, und trug ihre übliche Uniform aus schwarzen Klamotten. Kurz bevor er sie erreichte, drehte sie sich um, als hätte sie gespürt, dass sie beobachtet wurde.

Einen winzigen Moment lang war Falk unsicher, wie er Caro begrüßen sollte; ihr schien es ähnlich zu gehen, doch dann umarmte sie ihn kurzerhand, und deutete auf den Wanderrucksack auf Falks Rücken.

„Sag bloß, da ist unser Boot drin?“

„Klar ist da das Boot drin. Wir müssen es nur noch aufpumpen.“

Caro zog an ihrer Zigarette.

„Ok. Dann pump mal.“

Falk lachte.

„Um dann mit dem aufgeblasenen Gummiboot in die Straßenbahn zu steigen? Wir fahren doch jetzt erst mal bis Lobeda. Dort pumpen wir das Boot auf, lassen uns flussabwärts treiben und steigen hier irgendwo wieder aus.“

„Nach Lobeda? Spannend. Da wollte ich schon immer mal hin.“, sagte Caro als wäre es eine wissenschaftliche Exkursion. Falk erwähnte nicht, dass er dort aufgewachsen war.

Sie nahmen die nächste Straßenbahn, und fuhren zunächst durchs Paradies, dann folgten Kleingartenanlagen und die beiden Stadtteile Burgau und Wöllnitz, die früher einmal kleine Dörfer am Stadtrand gewesen waren, und nun mitsamt Kapelle, Dorfplatz und Freiwilliger Feuerwehr eingemeindet worden waren.

Die Saale floss rechts der Bahnlinie, links erhoben sich die steilen Kalksteinfelsen. Sie passierten Alt-Lobeda - auch dies war einmal ein eigenständiges Dorf gewesen. Jetzt lagen die Fachwerkhäuser im Schatten der Plattenbauten von Lobeda, die direkt neben dem alten Dorfkern in die Höhe ragten, und bis an die Hangfüße herangebaut worden waren. Hoch darüber, auf einem Vorsprung im Kalkstein, bröckelte die Ruine der Lobdeburg vor sich hin. Die Burg bestand, ganz anders als die vollständig erhaltene Leuchtenburg, nur noch aus den Resten des gemauerten Fundaments, die den Grundriss erahnen ließen, und einer einzelnen Seitenwand.

Sie fuhren in das Hochhausviertel. Falk sah aus dem Fenster, als sie an der Haltestelle vorbeikamen, wo er normalerweise ausstieg, wenn er mit der Bahn zu seinen Eltern fuhr. Hier befanden sich der Supermarkt, ein paar Klamottenläden, sowie eine Post- und eine Sparkassenfiliale. Das gesamte Plattenbaugebiet Lobeda war so konstruiert worden, dass die Einwohner sich komplett hier versorgen konnten. Von der Hauptstraße, entlang der die Straßenbahnschienen nun führten, zweigten kleinere Straßen ab, die sich in den Tiefen des Wohngebiets verloren. Sie passierten auch den Salvador-Allende-Platz und die Baustelle für das große Bürogebäude mit angeschlossenem Fitnesscenter, an dessen Plänen Falk kurz nach seiner abgeschlossenen Bauzeichnerausbildung bei Krehmer noch mitgearbeitet hatte, bevor er die EDV-Zusatzausbildung absolviert hatte. Linkerhand lag das neue Klinikum der Universität. Die Bahn, bis hierhin vollbesetzt, leerte sich zusehends an den folgenden Haltestellen; zum Feierabend strömten die Menschen, die im Stadtzentrum arbeiteten, nun in ihre Wohnungen zurück. Dann hielten sie an der Endhaltestelle, Lobeda-West.

„Hier müssen wir raus“, sagte Falk und schulterte sein Gepäck. Caro hatte wieder ihren Bundeswehrrucksack dabei, der ihren Angaben zufolge Proviant enthielt. Sie stiegen aus. Die letzten Mitfahrer strebten in Richtung der Wohnblöcke, zu deren Füßen Kinder auf Spielgeräten herumturnten, Jugendliche in Gruppen beisammen standen, und alte Leute auf den Bänken in der Sonne saßen.

Falk und Caro gingen zu Fuß an einer schmalen Straße Richtung Autobahn weiter, die auf einem breit angelegten Wall hinter einer Lärmschutzwand an den hintersten Blöcken von Lobeda vorbeiführte. Eine nach Urin stinkende Unterführung brachte sie unter der Autobahn durch auf die andere Seite, wo die Stadt abrupt endete und ein Acker begann. Der Blick war frei auf Felder und Wiesen, dahinter begann ein Waldgebiet, das, wie Falk wusste, bis zur Leuchtenburg reichte.

Bisher hatten er und Caro nur wenige Worte gewechselt, die Fahrt und der kurze Fußmarsch waren wie ihm vorgekommen wie eine kleine Reise in eine andere Welt. Nun hielt Caro an, um sich ihre Lederjacke auszuziehen.

„Warm heute.“, bemerkte sie, und zündete sich eine Zigarette an. „Wo ist denn nur der verdammte Fluss?“

Falk deutete nach rechts auf einen schmalen Feldweg, der am unteren Ende des Autobahndamms in die Büsche führte. Sie folgten ihm und landeten schließlich an einer sandigen kleinen Bucht, die den Blick auf die träge fließende Saale freigab. Die vergangenen Tage waren wieder spätsommerlich warm gewesen und der Wasserstand war deutlich gesunken. Vom Hochwasser waren nur die Grasbüschel geblieben, die in den Ästen der Weiden am Ufer hingen.

Die Bucht, das wusste Falk, war am vielerorts dicht bewachsenen Ufer ein beliebter Platz, um Kanus und andere Boote zu Wasser zu lassen. An diesem stillen Dienstagnachmittag waren sie jedoch die einzigen, und sie machten sich daran, das Schlauchboot mit einer Fußpumpe, die Falk ebenfalls eingepackt hatte, aufzupumpen, es ins Wasser zu schieben, ihre Rucksäcke darin zu verstauen, vorsichtig ins Wasser zu waten und sich schließlich in die kleine Gummischale zu schwingen.

Es war mittlerweile fast fünf Uhr. Falk hatte zwei kleine zusammensteckbare Plastikpaddel mitgebracht, wovon er eines Caro reichte. Die Strömung nahm sie gemächlich mit sich, und sie brauchten nur ab zu einen einzelnen Ruderzug zu machen, um nicht in den Zweigen der Bäume am Ufer hängen zu bleiben. Der Fluss war hier etwa zwanzig Meter breit und so flach, dass der Rumpf des Schlauchbootes gelegentlich, wenn sie zu nahe an die Ufer kamen, sachte über die Algen strich, die vom Grund emporwuchsen.

Nach einigen Flussbiegungen tauchte über ihnen die Autobahnbrücke auf, die wie ein römisches Aquädukt über das Saaletal führte. Dahinter begann wieder das Stadtgebiet, doch die dichte Ufervegetation trennte sie nun von den Plattenbauten Lobedas. Auf kleinen Steinen, die aus dem Wasser ragten, saßen Vögel, Libellen glitten im Tiefflug über die glitzernde Strömung und einmal sahen sie, in einer kleinen Seitenbucht, die vollkommen glatt und dunkel innerhalb ausgespülter lehmiger Uferränder lag, den braunen glänzenden Kopf einer Wasserratte, die zielstrebig auf ein Bündel angeschwemmten Geästs zupaddelte und dabei eine sanft gekräuselten Spur auf der Wasseroberfläche hinter sich herzog.

Der Lärm der Stadt drang nur gedämpft zu ihnen an den Fluss. In der Wärme der tiefstehenden Sonne schloss Falk die Augen, und einen Moment lang hatte er wieder das Gefühl, weit weg von Jena zu sein, irgendwo, wo er noch nie zuvor gewesen war.

„Eigentlich kann ich Wasser nicht ausstehen.“, riss Caro ihn aus seinen Gedanken. Sie saß im Schneidersitz am vorderen Ende des Schlauchboots, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, hatte ihr Paddel quer vor sich abgelegt und ließ eine Hand träge über die Bordwand hängen. Falk saß ihr gegenüber und korrigierte gelegentlich mit seinem Paddel den Kurs.

„Aber duschen tust du schon ab und zu?“

„Nur wenn ich wichtige Verabredungen habe.“

„So wie heute?“

„Unser Paddeldate? Dafür kennen wir uns noch nicht gut genug, dass ich extra für dich duschen würde.“

„Dann wäre es wohl angebracht, dass ich dich nachher mal ins Wasser reinschmeiße, was?!“

„Untersteh dich!“ Jetzt lachte sie laut auf, und erklärte dann: „Nee, was ich eigentlich meinte: ich mag keinen Wassersport, schwimmen, rudern, so was halt.“

„Und machst du sonst irgendeinen Sport?“, fragte Falk. „Etwas, das nichts mit Wasser zu tun hat?“

„Seh ich so aus?“, sie schaute ihn entrüstet an. „Ich hasse Sport.“

Ihre Arme waren tatsächlich so dünn wie Kinderarme, dachte Falk. Wie zum Beweis ihrer Worte zündete Caro sich gleich noch eine Zigarette an und sog genüsslich daran. Der Rauch zog langsam bis zu Falk ans Ende des Boots. Es roch würzig, fast wie Lagerfeuer.

Dann bemerkte Caro:

„Du siehst aber so aus, als ob du ziemlich fit bist.“

Sie gestikulierte in seine Richtung. Falk hatte sein T-Shirt schon vorhin ausgezogen, da es windstill und heiß war, außerdem war er stolz auf seinen trainierten Oberkörper, den er, anders als seine Beine, die schon immer schon dürr und sehnig gewesen waren wie die seines Vaters, durch unendlich viele Situps und Liegestütze gestählt hatte. Falk freute sich über das Kompliment, erzählte von seinen Trainingseinheiten zu Hause, seiner Kindheit im Hockeyverein und auf dem Bolzplatz, und dass er generell für jede Ballsportart zu haben sei.

Caro, so stellte er fest, war eine aufmerksame Zuhörerin, die gelegentlich einen Kommentar beisteuerte oder eine passende Anekdote. So erfuhr Falk, dass ihr jüngerer Bruder früher auch Hockey gespielt hatte und sich einmal bei einem Spiel „in die Hosen geschissen“ habe.

„Danach hat er das Vereinsgelände nie wieder betreten“, fügte sie hinzu.

Beinahe hätten sie, ins Gespräch vertieft, kurze Zeit darauf das Wehr übersehen, dem sie sich langsam näherten. Falk, der Caro nahe gelegt hatte, ihr Paddel lieber nicht mehr zu benutzen, da sie sowieso nur gegenlenkte, steuerte sie ans Ufer, wo sie ausstiegen und eine Pause einlegten. Caro teilte für jeden einen Müsliriegel und eine kleine Colaflasche aus ihrem Rucksack aus. Sie hatten von hier freie Sicht auf die Ruine der Lobdeburg, die sich, in einiger Entfernung hoch oben am Hang über den elfgeschossigen Plattenbauten, deutlich vor dem dichten Wald abhob.

Falk meinte, darauf deutend:

„Sag mal, hast du das auch gehört, dass die Lobdeburger, die das Ding da oben hingesetzt haben, irgendwie mit der toten Adligen verwandt sind? Von der du mir erzählt hattest.“

Caro schaute ebenfalls in die Richtung und sagte nickend:

„Gab ja kein anderes Thema in den letzten Tagen. Offenbar haben die Lobdeburger und die Leuchtenburger tatsächlich gemeinsame Vorfahren. Die Lobdeburg ist übrigens die ältere der beiden Burgen, sie stammt aus dem 12. Jahrhundert.“

„Und die Leuchtenburg entstand dann im 13. Jahrhundert, richtig?“

„Ja. Vermutlich nur einige Jahrzehnte später. Es muss eine Teilung der Familie gegeben haben. Das war damals nicht unüblich, weil ja immer nur der älteste Sohn den Familienbesitz geerbt hat. Der eine Familienzweig blieb hier, das waren dann die Herren von Lobdeburg. Sie gelten übrigens als Begründer der Stadt Jena. Der andere Teil begann, ein paar Kilometer entfernt, mit dem Bau der Leuchtenburg, das waren dann halt die Herren von Leuchtenburg.“

„Unglaublich, dass diese Familien bis heute bestehen.“, meinte Falk.

„Naja, die Familie von Leuchtenburg ja nun wohl nicht mehr. Die tote Frau, die sie da gefunden haben, sie war wohl tatsächlich die letzte Nachkommin. Außer natürlich, es meldet sich noch ein unbekanntes Familienmitglied.“

Caro schob sich noch einen Bissen ihres Müsliriegels in den Mund, zerbröselte den Rest mit den Fingern, und fügte hinzu:

„Allerdings nicht wegen des Erbes. Sie muss völlig mittellos gewesen sein, als sie geheiratet hat.“

„Bis auf das Haus natürlich.“, sagte Falk.

„Welches Haus?“

„Na, wo die Leiche gefunden wurde. Das verfallene Holzhaus unterhalb des Fuchsturmes. Sie ist ja dort aufgewachsen.“

„Stimmt.“, nickte Caro. „Es muss der letzte Besitz der Leuchtenburger gewesen sein.“

Warum nur war Marie an jenem Abend dorthin zurückgekehrt?, fragte sich Falk einmal mehr, und um ein Haar hätte er erwähnt, dass er zumindest von drei weiteren Dingen aus dem Besitz der Leuchtenburgerin wusste: einem Lederbeutel, einem alten Schwert und einem Brief.

*

Später schoben sie ihr Schlauchboot auf der anderen Seite des Wehrs wieder ins Wasser und glitten weiter, durch den beidseits der Ufer gelegenen Paradiespark, bis sie sich schließlich der Brücke bei der großen Wiese näherten, auf der sie erst wenige Tage zuvor abends zusammen gestanden hatten. Da sie hier ein weiteres Wehr hätten umtragen müssen, beschlossen sie, ihre Fahrt zu beenden, und im Paradiescafé noch einen Happen zu essen.

Falk klopfte sorgfältig das Wasser vom Boot, ließ die Luft ab, faltete es zusammen, und verstaute es zusammen mit den Paddeln wieder in seinem Wanderrucksack. Dann gingen er und Caro die paar Schritte hinüber zum Café und setzten sich an einen der Tische im Biergarten. Auf dem Spielplatz nebenan hingen Kinder wie Äffchen an den Klettergerüsten, tobten die Rutsche rauf und runter, und jagten sich um eine Sitzgruppe aus Holz. An den Tischen ringsum saßen erschöpft aussehende Eltern, und alle paar Minuten sprang jemand auf und eilte hinüber auf den Spielplatz, um ein heulendes Kind zu trösten oder Streitereien zu schlichten. Hinter ein paar Bäumen lag die Wiese, auf der heute, am Dienstagabend, weniger los war als am vergangenen Samstag. Die Saale konnte man durch die Uferbüsche in der Abendsonne glitzern sehen.

„Wenn diese schreienden Blagen nicht wären, könnte es hier echt idyllisch sein“, sagte Caro, als der Kellner ihr Essen und ihre Getränke brachte.

Falk wechselte einen unbehaglichen Blick mit dem Kellner. Eltern konnten sehr aufbrausend reagieren, wenn man ihre kleinen Lieblinge beleidigte. Zum Glück schien der Lärm vom Spielplatz Caros Bemerkung übertönt zu haben. Er lehnte sich zurück, betrachtete Caro, die an einer riesigen Portion Bratkartoffeln mit Schweinshaxe herumpickte, nahm einen Schluck von seinem Bier und fasste einen Entschluss.

„Ich muss dir jetzt mal was erzählen“, sagte er.

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie auf und legte dann die Gabel beiseite. Er fügte hinzu:

„Du musst es aber für dich behalten.“

„Jetzt sag nicht du bist verheiratet und hast drei Kinder.“, sagte sie und prustete im selben Moment auch schon los.

„Ja, genau, und deswegen hat das mit uns leider keine Zukunft.“, antwortete Falk.

Caro kicherte noch eine Weile, und er wartete, bis er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Zunächst unsicher, wo er anfangen sollte, setzte er schließlich bei jener Nacht vor gerade einmal einer Woche ein, als er zusammen mit Robs und Fanni auf dem Heimweg von Konrad Seilers Grillparty gewesen war. Er erzählte, wie sie die Abkürzung über den Hausberg genommen hatten, entlang der schmalen unbeleuchteten Straße, und plötzlich vor dem alten Holzhaus mit dem seltsamen Zeichen am Giebel gestanden hatten, und wie er, um Fanni zu vergraulen, Robs dazu überredet hatte, einen Blick hinein zu werfen. Wie sie dann im Inneren des Hauses den Lederbeutel mit dem Schwert entdeckt hatten, und er diesen hatte mitgehen lassen, da Robs im Gegenzug zugesagt hatte, alle weiteren Annäherungsversuche von Fanni abzublocken. Und wie Robs, der alte Drückeberger, gleich am nächsten Morgen ins Trainingslager verschwunden war und ihn, Falk, mit dem ganzen Schlamassel allein gelassen hatte.

Caro hatte seinen Ausführungen erst spöttisch, dann mit immer größerem Interesse gelauscht, während die Haxe auf ihrem Teller erkaltete. Als Falk, bei dem Teil mit dem Holzhaus angekommen, leiser gesprochen hatte, war sie mit ihrem Stuhl ein Stück zu ihm heran gerutscht. Nun steckten sie die Köpfe zusammen, während Falk ihr die schnörkellose Waffe mit den eingravierten Zeichen beschrieb, außerdem auch den Brief, den er und Robs noch in dem Beutel gefunden hatten, mit den vier Wörtern auf dem Umschlag: ‚Für Mark von Marie’.

Nach einem Schluck von seinem Bier erzählte Falk, dass er am nächsten Tag, als er die Sachen gerade habe zurückbringen wollen, von seinem Vermieter erfahren habe, dass oben in dem alten Haus eine Leiche gefunden worden sei.

Caro murmelte:

„Marie von Flotow…“.

Falk berichtete von seinem daraufhin abgeänderten Plan, nämlich einfach alles in die Saale zu schmeißen. Dann jedoch habe er eines der beiden eingravierten Zeichen auf dem Schwert erkannt, und so sei er schließlich in Argots Laden gelandet, wo er zufällig mitbekommen habe, wie sie, Caro, gerade ein Interview mit dem alten Goldschmied vereinbart habe, und dass eben dieser Argot unter seinen Vorfahren offenbar auch Schwertschmiede vorweisen konnte.

„Und dazu passt,“, schloss Falk, „was du mir neulich Abend erzählt hast: dass die Argots seit Jahrhunderten geschäftlich mit den Leuchtenburgern verbunden sind.“

„Du denkst, die Vorfahren von Meister Argot könnten das Schwert für die Leuchtenburger geschmiedet und mit ihrem Zeichen versehen haben.“, sagte Caro.

„Macht doch Sinn, oder?“, gab Falk zurück.

Einen Moment lang schwiegen sie. Der Biergarten hatte sich mit der heraufziehenden Dämmerung geleert, und von den verbliebenen Gästen nahm niemand Notiz von ihnen. Caro setzte ihr Colaglas an, verpasste ihren Mund und schüttete sich einen ordentlichen Schluck in den Ausschnitt. Geistesabwesend wischte sie mit einem Ärmel ihres Pullis darüber. Sie steckte sich eine Kippe an.

Falk vertilgte die Reste von Caros Schweinshaxe, dann räumte der Kellner die Teller ab. Als er wieder weg war fragte Caro leise:

„Und es ist wirklich das Zeichen vom Goldschmied Argot, was du da auf dem Schwert gesehen hast?“

„Erst war ich mir auch unsicher. Aber es ist haargenau dasselbe.“

„Dann muss das Schwert uralt sein. Die letzten richtigen Waffenschmiede in der Familie gab’s vor einigen Hundert Jahren. Wie gesagt, als zunehmend Schusswaffen in Gebrauch kamen, starb der Beruf aus.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, bevor sie ihn auf einmal scharf ansah.

„Jetzt versteh ich auch, warum du mich auf die Paddeltour einlädst und dies hier alles veranstaltest! Du hast das mit meinem Interview mitgekriegt und willst über mich mehr über Argot erfahren! Du willst rauskriegen, ob er etwas über dieses Schwert wissen könnte! Du willst mich ausnutzen!“

„Na, was dachtest du denn? Dass ich dich wegen deiner Nettigkeit einlade?“, meinte Falk. Für einen Moment starrte Caro ihn an, mehr erstaunt als wütend.

„Und diese Sache mit dem Fußballturnier? Und der Radiosendung darüber? War das auch nur ein Märchen?“

„Nein, das planen wir wirklich.“

Falk ließ unerwähnt, dass wahrscheinlich nie mehr als ein Plan daraus werden würde, und beobachtete Caro, die wiederum ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah. Sie schien tief in Gedanken versunken. Dann lachte sie plötzlich und griff nach ihrem Glas.

„Falk, das ist ein echter Hammer, was du da entdeckt hast. Ich fühle mich geehrt, dass du mich ausnutzen willst. Lass uns darauf anstoßen!“

Falk hob ebenfalls sein Bier und sagte:

„Auf Marie von Flotow, geborene von Leuchtenburg!“

*

Erst spät war Falk am Dienstagabend ins Bett gekommen, denn bis weit nach zweiundzwanzig Uhr hatten sie noch im Biergarten gesessen und geredet.

Caro hatte sich, nach der anfänglichen Skepsis, von seinem Fund hellauf begeistert gezeigt. „Höchstwahrscheinlich ein Originalschwert aus dem Mittelalter!“, hatte sie geschwärmt, noch dazu mit einem geheimnisvollen Brief – er habe goldrichtig gehandelt, die Sachen nicht zur Polizei zu bringen!

Aber ob er nicht zumindest Marie von Flotows Familie kontaktieren sollte?, hatte Falk seine Zweifel zum Ausdruck gebracht, doch Caro hatte seine Sorgen nicht im Geringsten geteilt. Es habe schon einen Grund gehabt, dass Marie alleine mit dem Schwert und dem Brief in das Haus gegangen sei. Es sei doch offensichtlich, dass sie ihren Ehemann nicht habe einweihen wollen.

Überhaupt, der Brief, dafür hatte sich Caro ganz besonders interessiert; dass Falk ihn noch nicht geöffnet hatte, hatte sie ihm zunächst gar nicht glauben wollen. Er würde nie auf den Gedanken kommen, fremde Briefe zu öffnen, war Falks entrüsteter Einwand gewesen, woraufhin Caro ihn daran erinnert hatte, dass er immerhin keine Skrupel gehabt habe, in fremde Häuser einzubrechen und Lederbeutel zu klauen!

„Das war bloß eine dämliche Wette! Ich wollte den Beutel doch zurückbringen!“, hatte Falk widersprochen, was Caro wiederum schon gar nicht mehr beachtet hatte, sondern stattdessen, plötzlich ganz geschäftsmäßig, den jetzigen Stand zusammengefasst hatte:

Marie von Flotow, 52 Jahre alt, geborene Leuchtenburg, wohnhaft in Altenburg, hatte am vergangenen Donnerstagabend ihr verfallenes Elternhaus aufgesucht, und aller Wahrscheinlichkeit nach den Lederbeutel mit dem Schwert und dem Brief, adressiert an einen gewissen Mark, dorthin mitgebracht. Gekommen war sie mit dem Auto, welches sie auf dem Parkplatz hatte stehen lassen – Falk meinte sich rückblickend sogar zu erinnern, einen Mini gegenüber der Bushaltestelle gesehen zu haben. Es war relativ wahrscheinlich, dass sich die Adlige im Obergeschoss des Hauses aufgehalten hatte, als Falk und Robs unten den Lederbeutel entdeckt hatten. Und irgendwann später in jener Nacht war die offenbar stark alkoholisierte Marie die Treppe heruntergestürzt, und hatte sich dabei das Genick gebrochen.

Was das Schwert anging, so lag aufgrund des eingravierten Zeichens nahe, dass es von den Vorfahren des Goldschmiedemeisters Argot geschmiedet worden war, die wiederum angeblich schon seit Jahrhunderten geschäftliche Beziehungen mit den Leuchtenburgern pflegten.

Dann war da noch das zweite Zeichen, das, was auch am Giebel des Hauses zu sehen und auf dem Schwert unter Argots ‚A’ eingraviert war. Falk hatte versucht, es auf einem Bierdeckel nachzuzeichnen, sich jedoch nicht mehr genau erinnern können.

„Ich würde das alles zu gern sehen“, hatte Caro geseufzt. „Sowohl das Haus, als auch das Schwert und den Brief…“

Der alten Bruchbude werde er sich in nächster Zeit nicht nähern, hatte Falk gebrummt, das hätte ihm schließlich schon genug Ärger eingebrockt. Aber den Inhalt des Lederbeutels, den könne er ihr durchaus zeigen.

Das hatte Caro sich nicht zweimal sagen lassen. Als der Kellner ihnen noch ein Bier und eine Cola gebracht hatte, nicht ohne säuerlich darauf hinzuweisen, dass sie die letzten Gäste seien, hatte sie sich bereits für den morgigen Nachmittag bei Falk eingeladen. Dies wiederum hatte Falk entschieden abgelehnt, an seine chaotische Wohnung denkend, und daran, dass weder er noch Robert seit ihrem Einzug vor über einem Jahr auch nur ein einziges Mal das Bad geputzt hatten.

Dann ein neutraler Treffpunkt, hatte Caro vorgeschlagen, wie die Uni-Mensa, die wäre nämlich in den Semesterferien nachmittags so gut wie ausgestorben. Aber Falk war bei der Vorstellung, den Beutel schon wieder in der Stadt mit sich herum zu schleppen, unwohl gewesen.

Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie sich zwar tatsächlich am morgigen Nachmittag bei der Mensa treffen würden, Falk aber lediglich Fotos des Lederbeutels und seines Inhaltes mitbringen würde, und nicht die Originale.

Caro hatte ihre Enttäuschung darüber mit dem ihr eigenen Pragmatismus rasch überwunden und bekundet, sie habe eine grandiose Idee: wenn sie sich schon bei der Uni treffen würden, könne sie gleich noch einen echten Experten für das Mittelalter hinzubitten, einen Doktoranden am historischen Institut, der zufällig ein guter Bekannter von ihr sei. Ob er, Falk, etwas dagegen habe?

„Bist du verrückt!“, hatte Falk ausgerufen, selbstverständlich habe er etwas dagegen. „Es darf niemand sonst von der Sache wissen!“

Natürlich würde ihr Bekannter nichts von dem Schwert und dem Brief erfahren, hatte Caro sogleich versichert. Sie wolle ihn lediglich unverbindlich ein wenig ausfragen. Er würde ihnen einiges zu den Hintergründen von adligen Familien aus der Zeit des Mittelalters erzählen können. Auch kenne er sich viel besser mit der Geschichte der Leuchtenburg aus als sie. So würde er ihnen sicherlich einige hilfreiche Hinweise geben können, vielleicht sogar darauf, was die Nachfahrin eines Thüringer Adelsgeschlechts dazu gebracht haben könnte, nachts in ihrem ehemaligen Elternhaus herumzugeistern.

Am Ende hatte Falk eingelenkt, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Caro die Sache schon mehr oder weniger in die Hände genommen hatte.

Argots Schwert

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