Читать книгу Argots Schwert - Johanna Danneberg - Страница 9

Tag 7 - 8, Mittwoch bis Donnerstag

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Es dämmerte schon, als die beiden den Marktplatz erreichten. Sie setzten sich in einem gemütlichen Café ans Fenster, abseits der anderen Gäste. Caro bestellte einen großen Kaffee, während Falk sich statt des Espressos mit Schuss dann doch lieber für einen Kakao mit Sahne entschied. Die Kellnerin brachte die Getränke, Caro rührte in ihrer Tasse herum und begann, einige der Begriffe, die Tobi benutzt hatte, zu erklären.

Anfangen werde sie am besten mit den ‚Lehen’, meinte sie und Falk nickte aufmunternd. Das Lehnswesen, erzählte Caro, war bestimmend für die gesamte mittelalterliche Gesellschaftsordnung gewesen. Herausgebildet hatte es sich im Hochmittelalter, ab ca. 1000 nach Christus. Es zeichnete sich insbesondere aus durch die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Lehnsherr und dem Lehnsempfänger, dem Vasall.

Der oberste Lehnsherr im Reich war der König, der an seine höchstgestellten Fürsten das Nutzungsrecht an Grundstücken mitsamt den darauf befindlichen Gebäuden „verlieh“. Das verliehene Grundstück nannte man Lehen. Das Ganze wurde durch einen Eid besiegelt und beide waren sich von nun an verpflichtet: der Lehnsherr zu „Schutz und Schirm“, der Vasall zu „Rat und Hilfe“. Das bedeutete, er musste seinem Herrn dienen, wenn dieser es verlangte, was insbesondere den Kriegsdienst mit einschloss. Im Laufe der Generationen wurden die Lehen erblich, das hieß, der Vasall konnte sein Lehen an seine Kinder weitervererben; aber der eigentliche Eigentümer blieb immer der Lehnsherr. Der König war aber nicht der einzige Lehnsherr im Land. Vielmehr konnte seine Vasallen ihrerseits zu Lehnsherren werden, indem sie ihre Ländereien an andere Adlige weiterreichen, die dann auch wieder Lehnempfänger, also Vasallen, wurden.

In der gesellschaftlichen Rangordnung standen unter den Vasallen als nächstes die Bauern in Grundherrschaft. Sie bearbeiteten ihre Schollen, also kleine Parzellen Land auf dem Lehensgut ihres Vasallen, und mussten Abgaben an ihn leisten: zum einen den sogenannten Zehnt, etwa zehn Prozent der Ernte, und zum anderen ihre Arbeitskraft im sogenannten Frondienst. Es gab sowohl „freie“ als auch „unfreie“ Bauern, das kam auf die Eltern an, da man in seinen Stand hineingeboren wurde. Als Hörige befanden sich die Unfreien zwar unter der alleinigen Gewalt des Grundherrn, hatten jedoch den Vorteil, dass sie nicht zum Kriegsdienst verpflichtet werden konnten, wie die freien Bauern. Da sie dieser Pflicht im Laufe des Mittelalters zunehmend nachkommen mussten, begaben sich viele von sich aus in die Unfreiheit.

Der Kriegsdienst war dann auch einer der Gründe, warum sich aus dem in Grundherrschaft unter den Vasallen lebenden Volk ein neuer eigener Stand hervorbildete: die Ministerialen (nicht „Minister“ übrigens, meinte Caro grinsend), der sogenannte Dienstadel. Da nämlich die Herren immer wieder für ihre jeweiligen Lehnsherren, oder gleich für den König, in den Krieg ziehen mussten und oft monatelang unterwegs waren, brauchten sie treue und verantwortungsvolle Verwalter für ihre Lehen. Darüber hinaus wurden gut ausgebildete Kämpfer benötigt. Beides konnten die Ministerialen erfüllen, die so einerseits wichtige Funktionen in der Verwaltung der Güter im Reich übernahmen, gleichzeitig aber auch den Kern der eigentlichen Ritterschaft bildeten. Für ihre Dienste wurden sie von den Vasallen oft mit eigenen Dienstlehen entlohnt, für die sie zwar keine Abgaben leisten mussten wie die hörigen Bauern, die aber auch nicht vererbbar waren wie richtige Lehen.

Die Macht der Ministerialen stieg im Laufe des Hochmittelalters, insbesondere unter den Geschlechtern der Salier und der Staufer, die im 11. und 12. Jahrhundert die Könige und Kaiser stellten. Es gab sogar direkt dem Kaiser unterstellte Reichsministerialen, die wichtige Ämter am Hofe innehatten und Einfluss auf die Reichspolitik nehmen konnten. Sie sollten eine Art Gegengewicht zum selbstherrlichen und oftmals erschreckend ungebildeten Adel bilden.

Die Ministerialen begannen, ihre eigenen Burgen zu bauen, und ihr Lebensstil glich sich dem der adligen Familien immer mehr an. Schließlich entwickelte sich hieraus der Stand des sogenannten niederen Adels, der selber Lehen empfangen und auch vererben konnte.

„Unsere Herren von Lobdeburg und später Leuchtenburg, die damals, um 1150, an die Saale kamen, waren solche Ministerialen. Kein hoher Adel, aber kampferprobt und bestimmt nicht zimperlich, wenn es um die Eroberung dieser unbekannten Landstriche im Osten ging. Und dafür durften sie sich ihre eigenen Burgen bauen und sich danach benennen. Um 1150 wurde die Lobdeburg errichtet, um 1220 folgte dann die Leuchtenburg.“, schloss Caro.

Falk nickte und sagte:

„Aber, wie wir ja von Tobi gehört haben, dauerte es nicht lang und sie mussten ihre Burgen räumen, oder?“

Caro warf einen Blick auf ihre Notizen, nickte, und fasste zusammen:

„Nur rund Hundert Jahre später, 1333, mussten die Leuchtenburger ihre Burg schon an die Wettiner verkaufen. Weitere sieben Jahre später, 1340, verloren auch die Lobdeburger ihre Burg an die aufstrebende Macht der Wettiner. Ab da hatten beide Familien keine überregionale Bedeutung mehr.“

„Und galten als verfeindet.“, fügte Falk hinzu. „Wegen eines angeblichen Verrats der Leuchtenburger, welcher den anrückenden Wettinern den Zugang zur Lobdeburg ermöglichte.“

Ernst sah er Caro an, die wieder emsig in ihrem Kaffee rührte, von dem sie kaum einen Schluck getrunken hatte.

„Jetzt erzähl doch mal, was hat es denn nun auf sich mit diesen Fehden?“, forderte Falk sie auf. „Das ist wohl so eine Art offizieller Streit gewesen? Der nach dem Motto ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ ablief? Und deswegen theoretisch bis heute andauern könnte?“

„Ach, bis heute andauern, das ist doch Unsinn!“, rief Caro. Dann seufzte sie und erklärte:

„Das Fehdewesen bedeutete im Grunde, dass jeder sich selber Recht verschaffen konnte, wenn er sich zu Unrecht behandelt fühlte. Aber weil sich die Fürsten ununterbrochen in ihren Streitigkeiten verstrickten, wurde die Sitte schon im 12. Jahrhundert unter Strafe gestellt.“

Caro hatte sich zwischenzeitlich noch einen Kirschkuchen bestellt, davon aß sie nun ein paar Happen und schob den Rest zu Falk herüber, bevor sie fortfuhr:

„Du siehst, als die Lobdeburg Mitte des 14. Jahrhunderts an die Wettiner fiel, hätte es eigentlich gar keine Fehden mehr geben sollen.“

Falk beäugte erst den Kuchen, dann Caro, die unbehaglich zur Seite blickte. Misstrauisch merkte Falk auf:

„An solche Verbote hielt sich doch damals bestimmt keine Sau! Ich dachte, das waren so kriegerische Zeiten damals. Und die ganzen Ritter brauchten doch auch was zu tun.“

Er sah Caro zu, wie sie unglücklich den Kopf wiegte.

„Du hast schon irgendwie Recht. Das mit der Rechtsprechung war schwierig damals, weswegen Gesetze auch nicht so einfach durchzusetzen waren. Letztlich war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein einziger Flickenteppich mit vielen kleinen und großen Herrschern. Es gab keine zentralen Verwaltungsorgane und somit war es kaum möglich, die Einhaltung eines solchen Verbotes überall zu gewährleisten.“

Falk sagte triumphierend:

„Hab ich mir doch gedacht! Wenn also ein Leuchtenburger den Wettinern einen Trick verraten hätte, wie sie die Lobdeburg einnehmen konnten, und dadurch seinen Schwager oder Cousin oder sonst wen auf der Lobdeburg verraten hätte, hätte sich der Lobdeburger ‚zu Unrecht’ behandelt gefühlt und hätte einen blutigen Rachefeldzug lostreten können!“

„Ja, so ungefähr. Er hätte aber natürlich vorher einen Fehdebrief an seinen Feind…“

Erschrocken hielt Caro inne und starrte Falk sekundenlang an. Der fragte:

„Fehdebrief?“

Caro schlug sich mit der Hand an die Stirn.

„Das muss es sein. Natürlich! Tobi hat den Fehdebrief gefunden!“

Sie sah Falks fragenden Gesichtsausdruck und erklärte:

„Das ist das offizielle Dokument, was man seinem Feind aushändigte, bevor man ihn angriff. Da stand sozusagen drin: Ich, Ritter Soundso von Soundso gedenke, dich und deine gesamte Familie in der nächsten Zeit auszulöschen, mir deine Besitztümer anzueignen und in Zukunft deine Bauern für mich arbeiten zu lassen. Das waren höfliche Menschen damals.“

Zerknirscht fügte Caro hinzu:

„Ich hätte gleich daran denken müssen. Wahrscheinlich hat Tobi, als er diese Schriften von Bruder Claudius entdeckt hat, gezielt im Archiv nach Fehdebriefen aus der betreffenden Zeit gesucht. Er ist fündig geworden, und dann vielleicht auf weitere ungeklärten Todesfälle in den Familien der Lobdeburger und Leuchtenburger gestoßen…“

„… und so zu seiner Vermutung gelangt, dass der Tod von Marie von Flotow, geborene Leuchtenburg, das Ende dieser fast 700 Jahre andauernden Fehde sein könnte.“, beendete Falk ihren Satz.

Er fixierte Caro.

„Dieses Archiv – was ist das nun?“

„Das Thüringische Hauptstaatsarchiv in Weimar, eine Lagerstätte für Dokumente. Und zwar Dokumente, die bis ins Hochmittelalter zurückgehen. Es ist hervorgegangen aus den Archiven der Ernestinischen Herzogtümer. Du erinnerst dich, Tobi hatte von der Aufteilung der wettinische Linie in Ernestiner und Albertiner erzählt, im Jahr 1485.“

„Ja, da wurde es mir aber zu bunt. Ich hab ihn unterbrochen.“

„Das war auch genau richtig so. Aber was für uns von Interesse ist: die Ernestinische Linie war diejenige, die in Jena, in Weimar und auch in Kahla, wo die Leuchtenburg steht, das Sagen hatte. Nachdem sich die Wettiner die Leuchtenburg angeeignet hatten, errichteten sie ja dort ein Amt für die Verwaltung ihrer Ländereien. Und aus dieser Zeit und bis zur Gründung des Landes Thüringen 1920, lagern im Archiv unendlich viele Dokumente, die quasi die Verwaltung der Ernestinischen Herzogtümer dokumentieren.“

Caro erzählte, dass die mittelalterlichen Verwalter fürstlicher Lehen mit buchhalterischer Genauigkeit alles vermerkt hatten, was im Alltag eine Rolle spielte, also Ernteerträge, Abgaben und Einnahmen durch die Bauern in Grundherrschaft, Viehbestände, sowie Ausgaben für Waffen und Kriegsgerät.

Darüber hinaus wurden im Archiv Gerichtsakten und Verkaufsurkunden aufbewahrt, aber auch Schriftstücke zu Bürgermeisterwahlen, private Briefe und Notizen von wichtigen adligen Familien der umgebenden Gemeinden, sowie Kirchenbücher, sofern diese nicht durch Brände, Hochwässer oder Kriege zerstört worden waren. Darin standen die Geburten, Taufen, Eheschließungen und Todesfälle der jeweiligen Gemeinden, und zwar sowohl der Bauern als auch der adligen Lehnsherren. Wenn dem damaligen Chronisten die nötigen Informationen zugänglich gewesen waren, so schrieb er auch die Todesursache dazu, so dass heute noch nachzulesen war, ob jemand im Kriegsdienst gefallen oder daheim im Bett friedlich eingeschlafen war.

„Oder unter ungeklärten Umständen gestorben ist.“, bemerkte Falk düster.

Caro überging seinen Kommentar und schloss mit den Worten, dass das Lesen und Interpretieren solcher Quellen ein wichtiger Teil des Geschichtsstudiums sei, weswegen sie nicht nur Latein, sondern auch mittel- und niederdeutsche Dialekte hatte lernen müssen.

„Wir mussten uns dafür etxta in die Vorlesungen der Germanisten einschreiben, ich sag dir, das sind...“

Sie wollte ihn ablenken, bemerkte Falk, und unterbrach ruppig:

„Tobi kann doch nicht jedes Schriftstück im Archiv übersetzt haben, auf der Suche nach seinem Fehdebrief.“

Caro grinste, als freute sie sich insgeheim, dass er sie durchschaut hatte.

„Das wäre in der Tat beachtlich. Der Bestand ist so riesig, das die Angaben zum Umfang in laufenden Metern gemacht werden. Wenn es zum Beispiel sieben laufende Meter Urkunden gibt, dann bedeutet das, sieben Meter Regallänge, von oben bis unten gefüllt mit Urkunden.“

„Und wie könnte Tobi da auf den Fehdebref, oder andere dieser uralten Dokumente gestoßen sein?“

„Nun, es gibt natürlich eine Datenbank für den Bestand. Der Archivar und seine Mitarbeiter sind dafür verantwortlich. Außerdem kennt sich Tobi durch seine Doktorarbeit sicherlich auch schon ziemlich gut dort aus.“

„Aber theoretisch könnten wir diese Dokumente dann doch ebenfalls finden!“

Caro schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nein. Nur Historiker mit Abschluss haben Zugang. Studenten nur, wenn sie ein begründetes Interesse haben. Leute wie dich und mich lassen sie allenfalls in die Vorhalle…“

Sie warf einen Blick in ihre Kaffeetasse und sah sich dann nach der Kellnerin um.

„Mein Kaffee ist kalt. Willst du auch noch was?“

Falk schüttelte den Kopf und sah Caro stattdessen eingehend an.

„Du studierst doch Geschichte. Solltest du da nicht auch ins Archiv können?“

Caro winkte entnervt ab.

„Ach, ist doch jetzt egal.“, sagte sie mit heller Stimme, bestellte, als sie die Kellnerin entdeckte, noch einen Kaffee, ein weiteres Stück Kuchen – diesmal Schokolade - , und floh dann in Richtung Toilette.

Stirnrunzelnd sah Falk ihr nach. Als sie zurückkam, roch sie nach Zigarettenrauch, und sagte ohne Einleitung:

„Letztlich wissen wir nicht, ob Tobi Recht hat mit seiner Fehde. Es spricht einiges dafür, aber auch einiges dagegen. Ich könnte mir sogar durchaus vorstellen, dass es mal eine Fehde gegeben hat, damals, im 14. Jahrhundert. Aber eben nicht, dass sie bis heute andauert.“

Falk seufzte, ließ sich in die Lehne seines Stuhls zurückfallen, und fuhr sich mit der Hand mehrfach durch die langen Haare.

„Nun, zumindest wäre es eine Erklärung dafür, was die Nachfahrin eines unbedeutenden Adelsgeschlechts niederen Ranges, das ohne eigene Burg und ohne sonderlichen Einfluss fast 700 Jahre einfach nur da war, dazu getrieben haben könnte, sich eines Abends im September 2007 in ihr verfallenes Elternhaus zu begeben, mit einem Schwert, vermutlich einem Familienerbstück, und einem Brief an einen gewissen ‚Mark’.“

„Ach ja?“, fragte Caro.

Ja. Und das ist doch das, worum es hier geht. Tobi hat dazu ja nun nicht wirklich etwas beitragen können. Seine Vermutung war: sie wollte es verkaufen. Er hat aber nicht die Information, die wir haben! Marie könnte nämlich erpresst worden sein. Von einem Lobdeburger, namens ‚Mark’, der sie aus irgendeinem Grund dazu bringen wollte, ihm das Schwert mitzubringen. Vielleicht sollten wir mal im Telefonbuch gucken, ob es ein einen ‚Mark von Lobdeburg’ gibt!“

Schweigend sah Caro ihn an.

„Gar nicht übel.“, meinte sie dann, bevor sie grinste: „Enorm helfen würde es aber sicherlich auch, wenn wir einfach mal nachsehen würden, was in dem Brief steht!“

Und als würde beiden gleichzeitig bewusst werden, dass sie sich immer nur im Kreis drehten, mussten sie plötzlich so laut lachen, dass die wenigen verbliebenen Gäste im Café sich verwundert nach ihnen umdrehten.

*

Falk wischte sich die Lachtränen aus den Augen und auch Caro, ihm gegenüber, kicherte immer noch und schüttelte dabei den Kopf, als könne sie selber kaum glauben, über was für Dinge sie sich hier Gedanken machten.

Falk sah aus dem Fenster. Es war mittlerweile dunkel geworden. Gerade eilte eine junge Frau mit einem dicken grünen Schal vorbei. Im Gehen schaute sie kurz hoch und streifte dabei Falks Blick, wendete sich aber gleich wieder ab, wie so oft bei zufälligen Augenkontakten mit Fremden auf der Straße. Sie war schon an ihnen vorbei gegangen, als Falk bemerkte, wie sie innehielt, zurückkam und zu ihnen hineinlugte. Dann klopfte sie direkt neben Caro an die Scheibe. Die zuckte erschrocken zusammen, doch als sie hinaussah hellte sich ihre Miene auf.

„Na so ein Zufall!“, rief sie. „Das ist ja Melanie.“

Sie winkte und deutete der draußen Stehenden dann mit Gesten an, hereinzukommen.

„Eine gute Freundin von mir. Eigentlich meine beste. Und übrigens die, von der ich vorhin erzählt habe, die sich so gut mit Schwertern auskennt...“

Caro fing Falks warnenden Blick auf.

„Kein Wort davon, ich weiß.“, sagte sie lächelnd, und drehte sich zu Melanie um, die, ihren Schal abwickelnd, an den Tisch trat.

Die beiden Freundinnen umarmten sich zur Begrüßung, dann wurden Falk und Melanie miteinander bekannt gemacht. Caro stellte ihn erneut als einen Freund vor, der ihr bei der nächsten Radiosendung helfen würde.

Melanie schüttelte ihm mit kräftigem Händedruck die Hand, bevor sie sich auf einen Stuhl fallen ließ. Sie hatte dunkelblonde Locken, die zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden waren, wobei fein gekräuseltes Haar ihr rundes Gesicht umrahmte. Außerdem besaß sie braune, leicht schräg stehende Augen und eine kleine breite Nase.

„Feierabend?“, fragte Caro.

„Ja. Und jetzt wollte ich eigentlich zum Poi-jonglieren. Hab aber gar keine Lust. Bleibt ihr noch einen Moment? Ich könnte nämlich gut einen Kaffee vertragen.“

Während Caro zustimmend nickte, fragte Falk verdutzt:

„Pois? Ich kenne nur Kois, aber die kann man wohl eher schwer jonglieren.“

Melanie erklärte, dass es sich um eine neuseeländische Sportart handele, bei der mit Reis gefüllte Säckchen, sogenannte Pois, in langen elastischen Schlaufen ruhend, herumgeschleudert werden, was hohe Konzentration und ein gewisses akrobatisches Geschick erfordere.

„Hab ich leider beides nicht!“, lachte Melanie.

Die Kellnerin brachte gerade Caros Kaffee und das Stück Schokokuchen. Melanie bestellte einen Milchkaffee und sagte, auf den Kuchen deutend, mit einem Augenzwinkern zu Falk:

„Ist das Caros Kuchen? Dann brauch ich ja selber keinen mehr bestellen.“

Caro überging die Bemerkung mit würdevoller Miene, nahm einen Bissen von ihrem Kuchen und schob ihn dann wortlos zu Melanie herüber, die erfreut zugriff.

„Wie geht es denn voran mit der Sendung, Caro?“, fragte sie schmatzend. „Hast du ein paar alte Handwerksfamilien in Jena auftreiben können?“

„Naja, ich habe schon mit einem Steinmetz gesprochen. Am Samstag hab ich ein Interview mit dem Goldschmied Argot. Und eben haben Falk und ich uns mit Tobi getroffen, der uns allerhand erzählen konnte über die Leuchtenburger. Die haben ja angeblich seit Jahrhunderten geschäftlichen Beziehungen mit den Argots.“

„Glückwunsch, dass du ein Interview mit Argot bekommen hast.“, meinte Melanie und häufte mehrere Löffel Zucker in ihren Milchkaffee. „Der soll ja ein ziemlich harter Brocken sein.“

Sie schlürfte einen Schluck Kaffee und bemerkte dann grinsend:

„Und sag mal, Tobi, der hat es doch mit Sicherheit geschafft, den Bogen zu den Wettinern zu schlagen.“

„Na was denkst denn du. Nach zehn Minuten war es soweit.“

Melanie verdrehte die Augen.

„Das erklärt jedenfalls, warum Tobi vorhin ohne den obligatorischen Absacker in seinem Büro aufgebrochen ist. Er genehmigt sich ja fast jeden Abend noch ein oder zwei Gläschen Wein, bevor er nach Hause geht. Oder auch ne ganze Flasche, manchmal mit Professor Friedmann zusammen. Dann diskutieren sie die ganz großen Themen.“

Sie ließ sich lässig in ihrem Stuhl zurücksinken, legte einen Arm besitzergreifend auf Caros Lehne und amte Tobis näselnde Stimme nach:

„Das Demokratieverständnis in Sachsen-Weimar war im Gegensatz zu Sachsen-Eisenach bereits vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Rahmen der Fruchtbringenden Gesellschaft ein vieldiskutiertes Phänomen, meinen Sie nicht auch, Professor Friedmann?“

Falk musste lachen – sie traf den Ton genau. Auch Caro lächelte, allerdings etwas gequält.

„Wie auch immer. Jedenfalls hab ich langsam schon einiges an Material zusammen für die Sendung. Falk hatte mir auch noch einen Hinweis gegeben, auf den Friseursalon, da gegenüber. Es gibt da einen Bottich.“

Sie deutete durch den Fenster zur anderen Seite des Marktes, wo im Salon Amadeus gerade zusammengekehrt wurde. Falk konnte die dicke Silhouette seiner Mutter nicht erkennen und vermutete, dass sie heute früher Feierabend gemacht hatte.

„Einen Bottich?“

Caro erzählte Melanie, die reichlich verwundert von einem zum anderen geblickt hatte, von dem hölzernen Gefäß und dass sie hoffe, die Geschichte zum Anlass nehmen, um über das Fassbinderhandwerk zu erzählen. Falk, dem es am liebsten gewesen wäre, wenn Caro die ganze Sache mit dem Bottich einfach vergessen würde, wollte etwas einwerfen, als Melanie auch schon rief:

„Super Idee! Ich könnte dir helfen! Wenn das ein Badezuber war, könntest du auch über die Jenaer Badehäuser berichten. Da wurde nämlich nicht nur gebadet. Da liefen noch ganz andere Dinge, die eben so passieren, wenn nackte Männer und Frauen aufeinandertreffen.“

Sie vielsagende Blicke zwischen Falk und Caro hin und herwandern. Falk musste grinsen.

„Das wäre super.“, antwortete ungerührt Caro und fügte, zu Falk gewandt hinzu: „Melanie arbeitet nämlich nicht nur am Historischen Institut, sondern hilft auch ein paar Stunden die Woche im Stadtmuseum aus.“

„Weswegen ich aber mit meiner Magisterarbeit nicht wirklich vorankomme.“

„Womit wir schon zu zweit wären.“

Die Freundinnen lachten sich an. Dann sah Melanie zu Falk und erklärte:

„Ich muss mir halt meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Caro, die ja alles von ihrem Papa in den Hintern geschoben bekommt, könnte sich ganz auf ihre Abschlussarbeit konzentrieren, verschwendet aber lieber ihre Zeit mit dieser Radiosache…“

Caro prustete und rief:

„Wenn du nicht so viel feiern gehen und dein Geld versaufen würdest, müsstest du auch nicht so viel arbeiten!“

„Feiern? Saufen? Schätzchen, während du abends vorm Fernseher deine sinnlosen Serien schaust, verdiene ich Kohle beim Online-Poker!“

Sie lachten beide noch lauter, und Falk schaute sich Melanie noch mal genauer an. Sie trug ausgeleierte Cordhosen und ein T-Shirt von undefinierter Farbe, unter dem man durchtrainierte Arme erkennen konnte. Mit dem Pferdeschwanz und ihrem rauen Lachen konnte er sich Melanie gut in einer Bar hinter dem Tresen vorstellen. Stattdessen aber studierte sie Geschichte, arbeitete nebenher in irgendwelchen Historikerjobs, spielte Poker und jonglierte mit Pois. Und sie beharkte sich mit Caro genauso wie er und Robs, wenn sie in Hochform waren, was er bisher, wenn er sich recht erinnerte, noch nie bei zwei Frauen erlebt hatte. Er überlegte, wo er Melanies Dialekt einordnen sollte und tippte auf das nördliche Thüringen.

Währenddessen hatte sie ein zerkratztes Handy hervorgezogen, kurz darauf herumgetippt und dann verkündet, dass sie los müsse, die Pois habe sie zwar nun verpasst, aber ihr Tangotanzpartner habe einen Spontan-Intensivkurs mit einer argentinischen Erasmus-Studentin organisiert, das dürfe sie sich nicht entgehen lassen.

Falk und Caro einigten sich mit einem Blick, dass sie ebenfalls für heute Schluss machen würden. Wegen „der weiteren Planung für die Radiosendung“ würden sie dann noch mal telefonieren, deutete Caro an.

Beim Hinausgehen hakte sich Melanie bei Caro unter und die beiden Frauen traten vor Falk hinaus auf den Marktplatz. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass Melanie, ganz anders als die schlaksige Caro, ihre Hose mit einem ziemlich prallen Hintern ausfüllte.

*

Am nächsten Tag, Donnerstag, ging Falk direkt nach der Arbeit Fußball spielen. Erst als es zu dämmern begonnen hatte, radelte er erschöpft, mit einem blutigen Schienbein und einem verrenkten Daumen, langsam den Steinborn hoch. Gerade als er vor seiner Wohnung ankam, und, da alle Fenster der Dachwohnung dunkel waren, folgerte, dass Robs auch heute Abend nicht zu Hause war, klingelte sein Handy.

„Fräulein Schubert!“, meldete er sich. „Hast mich wohl schon vermisst!“

„Träum weiter!“, klang es nicht unfreundlich aus dem Hörer. „Was keuchst du denn so?“

„Ist ne steile Straße hoch zu mir nach Hause.“

Falk stieg die Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf, während er Caro am anderen Ende der Leitung nur mit halbem Ohr zuhörte. Nach einem kurzen Blick in Roberts Zimmer stellte er fest, dass sich an der dort herrschenden Unordnung nichts verändert hatte. Beim Öffnen des Kühlschranks jedoch, das Telefon immer noch am Ohr, bemerkte er, dass sowohl das Stück Käse als auch die restliche Wurst verschwunden waren. Stirnrunzelnd betrachtete er eine Plastikpackung im untersten Fach des Kühlschranks, die noch genau eine Scheibe angegraute Salami enthielt. Er würde morgen mal wieder ein Frühstücksbrot ohne Aufschnitt zur Arbeit mitnehmen müssen.

„Hörst du mir überhaupt zu?!“, ertönte Caros spitze Stimme aus dem Telefon.

Falk seufzte und setzte sich an den Küchentisch.

„Nicht wirklich.“

Sie schien ihm seine gedankliche Abwesenheit nicht weiter übel zu nehmen. Stattdessen begann sie, noch einmal von den Recherchen, die sie am heutigen Tag durchgeführt habe, zu erzählen. Zunächst einmal habe sie im Telefonbuch keinen einzigen ‚Mark’ von Lobdeburg gefunden, wohl aber den besagten Helmut. Sie habe dann versucht, einen Termin bei ihm zu bekommen, wieder mit dem Vorwand der Radiosendung über das Mittelalter. Eigentlich habe sie nicht damit gerechnet, erfolgreich zu sein, schließlich sei der Mann als Kandidat für ein politisches Amt sicherlich schwer beschäftigt. Und tatsächlich habe seine Sekretärin ihr abgesagt, die Begründung jedoch habe sie, Caro, dann doch überrascht. Helmut von Lobdeburg, sei ihr durch die Sekretärin mitgeteilt worden, wünsche keine weiteren Anfragen mehr, weder von der Presse, noch geschichtsversessenen Laien oder überehrgeizigen Doktoranden, die ihn bezüglich des Stammbaums seiner Familie oder irgendwelcher möglichen Verbindungen mit den Leuchtenburgern ausfragten! Er habe die Verstorbene Marie von Flotow nicht gekannt, und habe sich außerdem um aktuellere Dinge zu kümmern.

„Versteht du?“, rief Caro. „Ich hatte gar nicht erwähnt, dass ich etwas zu der Leuchtenburgerin wissen wollte!“

Falk begutachtete sein Bein. Micha hat ihm mit voller Wucht weggegrätscht, hinterher aber felsenfest behauptet, dass er den Ball und nicht Falk hatte treffen wollen.

„Dein toller Tobi wird ihn heimgesucht und ausgefragt haben.“

Caro gluckste vergnügt.

„Genau das hab ich auch gedacht!“

„Fantastisch.“, sagte Falk. „Wenn an der Fehde was dran ist, und Helmut von Lobdeburg irgendwas mit Maries Tod zu tun haben sollte, dann ist er jetzt auf jeden Fall gewarnt.“

„Ich denke eher, dass er Tobi für genauso durchgeknallt hält wie ich.“

Falk hörte das Geräusch eines klickendes Feuerzeugs am anderen Ende des Leitung.

„Ich glaube auch nicht, dass Tobi sich vollkommen sicher ist. Sonst wäre er doch auch nicht so scharf darauf, zu erfahren, ob Argot etwas von der Fehde weiß.“

Die Glühlampe, die von der Küchendecke hing, spendete gelbliches Licht. Falk war auf einmal sehr müde.

„Es bleibt immer noch die Möglichkeit, dass ein Verbrechen geschehen ist. Und wenn Marie möglicherweise tatsächlich erpresst wurde, egal ob dieser ‚Mark’ nun mit Nachnamen von Lobdeburg hieß oder nicht, dann müssten wir dafür sorgen, dass das Schwert sofort zur Polizei kommt. Es wäre ein wichtiges Beweisstück.“

Am anderen Ende der Leitung war es still. Dann sagte Caro trotzig:

„Wir würden nicht so im Dunkeln tappen, wenn wir endlich den Brief lesen würden.“

Falk seufzte.

„Ich will ja selber auch weiter recherchieren….“, begann er, doch bevor er mit dem „…aber….“ weiter machen konnte, sagte Caro:

„Falk, du darfst nicht vergessen: wir haben auch noch das Interview mit Meister Argot! Er oder seine Vorfahren haben das Schwert geschmiedet. Er oder seine Vorfahren hatten Kontakt zu der Familie der Leuchtenburger. Wer weiß, vielleicht kannte er die Tote ja sogar persönlich! Ich denke, dass wir dort einiges heraus bekommen könnten. Am besten kommst du wieder mit, wie bei Tobi. Und passt auf, dass ich mich nicht verplappere…“

Falk überlegte einen Moment.

„Und du fragst ihn nach der Fehde?“

„Von mir aus frage ich ihn auch nach der Fehde.“

„Immerhin würde dir Tobi ja dann auch sagen, was er im Archiv gefunden hat.“

„Bist du verrückt? Das würde er niemals tun. Was auch immer Argot erzählt, ich werde den Teufel tun und davon irgendwas an Tobi weitergeben.“

Falk musste grinsen.

„Nicht schlecht, Fräulein Schubert.“

„Mit seinem „Eine Hand wäscht die andere“ Geschwätz brauch er mir nicht kommen. Was er im Archiv gefunden hat, finde ich auch so heraus.“

„Wann war das Interview noch mal?“, fragte Falk.

„Lass mich sehen…“

Es raschelte.

„Noch dran? Also, am Samstagnachmittag um 16 Uhr. Ich soll zu ihm in den Laden kommen.“

„Na gut, von mir aus.“, beschloss Falk. „Aber du wirst das alleine machen müssen.“

„Was? Wieso denn das jetzt schon wieder?“

„Ich war doch selber dort, an dem Tag, als wir uns getroffen haben. Ich denke, es könnte Meister Argot misstrauisch machen, wenn wir nun auf einmal zusammen bei ihm aufkreuzen.“

„Der wird sich doch gar nicht an dich erinnern.“

„Ich glaube schon. Ich hab mich ziemlich dämlich angestellt. Er wollte von mir wissen, ob ich heiraten wolle, weil ich ausgerechnet bei den Trauringen herumstand.“

Caro kicherte und Falk erzählte nicht, dass er sich vorhin außerdem für den Samstagnachmittag schon zum Fußball verabredet hatte. Aus alter Gewohnheit schob er hinterher:

„Solange du nur dran denkst, das Schwert nicht zu erwähnen!“

„Jaja. Hey, wie wär’s wenn wir das alles morgen in der Rose noch mal genau besprechen?“, schlug Caro vor.

„In der Rose?“

Falk, der bislang nur vage Vorstellungen von Caros üblicher Abendgestaltung gehabt, dabei aber irgendwie an dicke staubige historische Wälzer und Kerzenschein gedacht hatte, konnte sie sich nur schwer im Rosenkeller vorstellen, einem Studentenclub in der Johannisstraße, der bekannt war für sehr laute Musik, billiges Bier und einen klebrigen Kickertisch.

„Das hab ich wohl noch gar nicht erzählt?“, sagte Caro. „Melanie, meine Freundin, die wir gestern getroffen haben, hat vorgeschlagen, mal wieder in die Rose zu gehen, morgen, am Freitag. Und sie hat gefragt, ob du nicht auch mitkommen willst.“

„Klingt nicht übel.“, meinte Falk. „Ich könnte noch ein paar Leuten Bescheid sagen.“

„Großartig! Wann treffen wir uns, und wo?

„Immer mit der Ruhe. Lass uns morgen Abend noch mal telefonieren.“

Sie verabschiedeten sich. Falk ging ins Nebenzimmer, schaltete den Fernseher ein und überlegte flüchtig, wieso Melanie ihn wohl dabei haben wollte.

Argots Schwert

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