Читать книгу Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht - Страница 16
2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten
ОглавлениеEine Arbeit, die sich mit lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten in Verbindung mit machträumlichen Aspekten befasst, kommt nicht umhin, sich mit den Phänomenen Machismo und Marianismo auseinanderzusetzen, insofern deren Komplementarität auf einer klaren räumlichen Dichotomie und entsprechenden genderspezifischen Machtzuschreibungen beruht. Oder anders gewendet: Machismo beschreibt eine Männlichkeit, die auf die Sphäre des Öffentlichen gerichtet ist, Marianismo eine Weiblichkeit, welche die Frau in ihrer sozialen Funktion als Mutter fasst und exklusiv im Inneren des Hauses verortet. Die daraus resultierende machträumliche Ordnung weist der Frau die Herrschaft über den häuslichen, dem Mann über den öffentlichen Bereich zu. „Entsprechend“, so Barbara Potthast, „verkündet die lateinamerikanische Frau: ‚la reina del hogar soy yo‘ […] oder ‚en la casa, mando yo‘ […].“194 Diese räumliche Segregation, die auch Foucault, Beard, Massey und Lorey als grundlegend für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis konstatieren respektive kritisieren, bildet den Kern des Verhältnisses zwischen Machismo und Marianismo. Inwieweit dieses reziproke Verhältnis auch in Onettis Texte eingeschrieben ist und für die Analyse genderbezogener machträumlicher Zusammenhänge innerhalb des Diskursraums Santa María fruchtbar gemacht werden kann, soll in den Kapiteln 4 und 5 diskutiert werden.
In einem ersten Schritt sollen nun die Implikationen dieser beiden Konzepte sowie deren wissenschaftliche Einbettung erläutert werden, in einem weiteren Schritt die soziologische Engführung auf die Darstellung spezifischer Geschlechterverhältnisse innerhalb des Tangodiskurses, insofern ein Teil des Onetti‘schen Figurenkabinetts im Tango-Milieu verortet ist und dieses somit als außerliterarische Referenz für die Textanalyse herangezogen werden soll.195 Während Machismo keine exklusiv lateinamerikanische Männlichkeit beschreibt und auch innerhalb des Kontinents in seiner Ausprägung variiert, wird Marianismo ausschließlich zur Beschreibung einer spezifisch lateinamerikanischen Weiblichkeit verwendet. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Terminus Anfang der 1970er Jahre von der US-amerikanischen Anthropologin Evelyn Stevens.196 „Marianismo“, schreibt sie, „is the cult of feminine spiritual superiority, which teaches that women are semidivine, morally superior to and spiritually stronger than men.“197 In Analogie zur heiligen Maria verstehe sich die Frau im Marianismo als dem Mann moralisch und spirituell überlegen – und wird auch so wahrgenommen. Sie gelte als das Abbild der Muttergottes, deren passive Geschlechterrolle durch die unbefleckte Empfängnis festgeschrieben ist:
In the patriarchal Catholic culture – where God was the father and only men could become priests – the Virgin Mary stood as the most prominent image of what an ideal woman should be.198
Die ‚echte Frau‘ ist laut Stevens‘ Untersuchungen moralisch unfehlbar, bleibt keusch bis zur Ehe und betrachtet Geschlechtsverkehr als exklusiv eheliche Pflicht im Dienste Gottes.199 Sie bete für die Vergebung der Sünden ihrer männlichen Verwandten, vor allem die des Ehemannes und der Söhne – wohlwissend, dass diese Gebete ob der grundsätzlichen männlichen Fehlbarkeit und deren kindlicher Unreife200 weitestgehend wirkungslos blieben. Die wichtigste Fähigkeit dieser idealisierten Frauenfigur sei indes die Mutterschaft. Als solche erlange ‚die Frau‘ einen halbheiligen (semidivine) Status innerhalb der Familie. Das Erdulden der Geburtsschmerzen und das Wissen um die moralischen Fehlbarkeiten des Ehemannes spiegle sich, wie Stevens fortfährt, im Bild der mater dolorosa201 wider: Es steht für mütterliche Leidensfähigkeit, die Erduldung von Trauer und Schmerz.202
Indem Stevens Marianismo in Abhängigkeit zum Begriff des Machismo setzt, argumentiert sie gegen ein als ungleich wahrgenommenes Machtverhältnis zwischen lateinamerikanischen Männern und Frauen: „It is time to set the record straight: from the Rio Bravo south to Patagonia it is at least 50 percent a woman’s world, even though the men don’t know it.“203 Machismo sei demnach kein Phänomen rein männlicher Alleinherrschaft, sondern könne seine Suprematie über die Frau erst im Zusammenspiel mit dem weiblichen Analogon, dem Marianismo, entfalten: „Our historical perspective enables us to see that far from being an oppressive norm dictated by tyrannical males, marianismo has received considerable impetus from women themselves.“204 Sie betont damit die Reziprozität beider Phänomene oder anders gewendet: ‚Die marianistische Frau‘ begehre nicht gegen ihre Unterordnung auf, sondern stütze und reproduziere die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – da sie selbst, so Stevens weiter, innerhalb eines großfamiliären Verbundes von diesem Arrangement profitiere. Zugespitzt spricht Stevens in diesem Zusammenhang auch von „female chauvinism“205, denn Frauen seien innerhalb dieser stark christlich heteronormativ geprägten Geschlechterordnung keineswegs machtlos. Ihre gesellschaftliche Machtposition finde ihre Ausprägung insbesondere in der Erziehung (männlicher) Kinder. Als Manifestationen der Muttergottes profitierten sie von der moralischen und spirituellen Erhöhung, die ihnen durch die kulturelle Hegemonie des christlichen Glaubens in Lateinamerika zukomme – solange sie sich an die ihnen zugewiesene passive sexuelle Rolle hielten:
For women do enjoy great power in Latin America, based on their acknowledged spiritual superiority. In the hierarchy of values of Latin American culture, matters of the spirit stand undisputedly above all others. […] A married woman can be lazy, bad tempered, improvident, but as long as she is not found to be sexually promiscuous, she will be regarded as a good wife and mother.206
Entscheidend für eine positive gesellschaftliche Reputation seien demnach ihr Status als verheiratete Frau, sowie ihre Mutterfunktion. Das heißt, das marianistische Bild der ‚guten Frau‘ ist sowohl an eine erfüllte Reproduktion als auch an den rechtlichen Rahmen der Ehe gebunden, woraus sich wiederum eine Limitierung weiblicher Sexualität auf eben diese Institution, oder wie Foucault schreibt, eine exklusive räumliche Verortung im ehelichen Bett ergibt.
Machismo definiert Stevens als ‚Männlichkeits-‘ oder ‚Virilitätskult‘, welcher tief im gesamten lateinamerikanischen Kulturraum verwurzelt, und je nach historischen Kulturkontakten der Bevölkerung stärker oder schwächer ausgeprägt sei:
[T]he term Machismo will be used to designate a way of orientation which can be most succinctly described as the cult of virility. The chief characteristics of this cult are exaggerated aggressiveness and intransigence in male-to-male interpersonal relationships and arrogance and sexual aggression in male-to-female relationships.207
Machismo zeichne sich demnach vor allem über einen hohen Grad an Aggression aus. In homosozialen Kontexten zeige sich dies in der Härte und Unnachgiebigkeit gegenüber anderen Männern. In heterosozialen Kontexten finde diese Aggression ihren Ausdruck oftmals in sexualisierter Gewalt und einer grundsätzlichen Abwertung der Frau. Die beschriebenen Aggressionen ließen sich daher nur in den wenigsten Fällen in „business or professional activities [that] can be nonphysical expressions“208 kanalisieren – in der Mehrzahl entlade sie sich in heterosozialen Konstellationen, sprich: gegen Frauen. Machistische Männlichkeit erfordere außerdem, die eigene sexuelle Potenz ständig unter Beweis zu stellen – bestenfalls durch das Zeugen von Kindern, im Idealfall von Söhnen, oder zumindest durch das öffentliche Sich-Zeigen mit Geliebten. Diese stammten häufig aus sozial niedrigeren Schichten und profitierten ihrerseits von diesem gesellschaftlich akzeptierten Arrangement, indem sie für ihre Rolle als Geliebte materielle Zuwendungen erhielten.209 Auffällig ist, dass die machistischen Codices überwiegend innerhalb eines homosozialen Referenzahmens verortet sind; das bedeutet zum Beispiel, dass laut Stevens der Beweis sexueller Aktivität und Potenz, die in der Zeugung eines Kindes manifest werden, für eine ausschließlich männliche Peergroup außerhalb des eigenen Hauses erbracht werde.210 Machistische Männlichkeit ist demnach mit einer kontinuierlichen ‚Beweispflicht‘ bezüglich der eigenen Potenz verbunden, marianistische Weiblichkeit hingegen mit der Negierung der eigenen Sexualität. Innerhalb des Machismo und Marianismo ist Sexualität damit stark kontrastiv markiert; der Mann als sexuell aktiver, die Frau als sexuell passiver Part. Was beide, männliche und weibliche Sexualität als reflexive Körperpraxis wiederum eint, ist die grundsätzliche Ausrichtung auf Reproduktivität. Doch auch darin unterliegen sie einer starken Dichotomie: Männliche reproduktive Fähigkeiten gelten als Affirmation ihrer Potenz und sind nicht an den christlich-institutionellen Rahmen der Ehe gebunden, weibliche Reproduktionsfähigkeit ist hingegen exklusiv darauf beschränkt. Die Rigidität dieser Dichotomie birgt ein starkes Subversionspotential, welches in Kapitel 5.3 am Beispiel mehrerer weiblicher Figuren in Onettis Texten analysiert werden soll.
Kritik, die das Konzept des Machismo erfährt, zielt unter anderem auf die Tendenzen zu Generalisierung und Exotisierung, die einige Untersuchungen aufweisen.211 So sieht etwa Rafael L. Ramírez Machismo als einen vielgebrauchten, medial überstrapazierten und damit als Beschimpfung in die Alltagssprache eingegangenen Begriff. Er kritisiert dessen konzeptuell schlechte Ausarbeitung, da durch dessen Singularität die Vielfalt lateinamerikanischer Männlichkeiten nicht abgebildet und in den meisten Fällen die positiv konnotierten Eigenschaften des typischen ‚Macho‘ ausgespart würden:212
Although many authors (Abad, Ramos, and Boyce 1974: Padilla and Ruiz 1973) pointed out some purportedly positive aspects of Machismo, such as courage, responsibility, and perseverance, the fact remains that the term is associated with male traits or behaviors to which negative qualities are attributed: ‚the sum total of simultaneous brutality, arrogance, and submissiveness (De Jesús Guerrero 1977, 37).213
Ramírez‘ Kritik richtet sich damit gegen eine essentialistische Form von Rollenzuschreibung, wie sie etwa Robert Brannon und Elisabeth Badinter in den 1970er und 1990er Jahren formulierten.214 Ramírez plädiert jedoch trotz seiner Kritik an den „conceptual limitations of studies on Machismo and their limited explanatory power“ für einen Erhalt von Machismo als wissenschaftlichem Terminus. Allerdings fordert er eine kritische Diskussion und stärkere Kontextualisierung des Begriffs in Bezug auf die grundsätzliche Pluralität von Männlich- und Weiblichkeiten.215
Mit Fokussierung auf Männlichkeiten in Peru leistet dies Norma Fuller in ihren Forschungsarbeiten:216
Uno de los objetivos que me propuse al iniciar mis investigaciones sobre las identidades masculinas fue criticar la identificación del llamado macho con la masculinidad típica en América Latina. Buscaba demostrar que este estereotipo nos impide comprenderla bien y encontrar un camino alternativo para explicar por qué el discurso de sentido común –y en algunos casos el académico– lo aceptan como un hecho.217
Fuller fasst Machismo nicht als die lateinamerikanische Männlichkeit, sondern als eine von vielen lateinamerikanischen Männlichkeiten. Gleichwohl weist sie dem Machismo eine hegemoniale Position innerhalb der Geschlechterordnung zu. Allerdings verwendet sie den Begriff nicht in seiner populären, mitunter pejorativen Verwendung (gegen die sich eben auch Ramírez verwehrt). Stattdessen betont sie die Ambivalenzen innerhalb der Konstruktion des lateinamerikanischen Machos:
A medida que avanzaba en mis investigaciones encontré que muchos rasgos atribuidos al macho eran parte integrante de la noción de masculinidad hegemónica pero convivían con otros que los contradecían. Así por ejemplo, la potencia sexual y la capacidad de seducir mujeres es una cualidad que en ciertos momentos o espacios puede ser festejada, en otras puede ser considerada como un rasgo de falta de hombría. […] Parecería, pues que no se trata de que el llamado Machismo no exista sino que la difusión de esta imagen ha distorsionado nuestra comprensión de las masculinidades en América Latina porque ha enfocado solo ciertos aspectos, los más llamativos, de ellas ignorando que éstas incluyen muchas facetas.218
Sie differenziert in ihren Untersuchungen zu Männlichkeiten zwischen verschiedenen Lebensphasen und damit verbundenen unterschiedlichen Konzepten hegemonialer Männlichkeit. Grundlegend für Normas Forschung ist, wie schon bei Connell beschrieben, die heteronormative Abhängigkeit von (einer nicht näher spezifizierten) Weiblichkeit und damit verbunden die genderspezifisch dichotomische Unterscheidung zwischen häuslichem, also privatem, und öffentlichem Bereich. Der häusliche stehe unter der Verwaltung der Frauen (Mütter oder Ehefrauen!), der öffentliche unter der der Männer. Letztgenannter teile sich wiederum in zwei Sphären auf, die jedoch beide homosozial organisiert seien: zum einen den Bereich der Arbeit und zum anderen den Bereich der männlichen Peergroups. Die drei Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, für die Fuller jeweils bestimmte Kriterien hegemonialer Männlichkeit herausarbeitet, sind jede für sich an bestimmte Räumlichkeiten gebunden. Während das männliche Kind auf den häuslichen Raum beschränkt und dort der mütterlichen Macht untergeordnet sei, habe der Jugendliche seine Virilität im öffentlichen Raum zu beweisen. Entscheidend sei dort das Urteil seiner homosozialen Peergroup. Ein wichtiger Teil des jugendlichen Virilitätskodex‘ sei das Brechen mit häuslichen Regeln, d.h. die Ablösung vom weiblich dominierten Raum des Hauses, von der Mutter und grundsätzlich von allem Weiblichen.219 In einem nächsten Entwicklungsschritt, dem Erwachsenwerden, gelte es, beide räumlichen Sphären zu vereinen und die jugendliche Virilität (virilidad) in ein Mannsein (hombría) zu überführen. So impliziert die von Fuller herausgearbeitete hegemoniale Männlichkeit die Gründung einer Familie, d.h. das Schaffen eines eigenen häuslichen Bereichs, dem der Mann vorstehen kann, und gleichzeitig bestehe sie darin, dass er seine außerhäusliche Reputation nicht vernachlässige. Das wiederum bedeute, sowohl den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen als auch innerhalb der Peergroup zu reüssieren:220
[L]a vida conyugal les proporciona una vida sexual plena y la oportunidad de demostrar a sus pares que son sexualmente activos. Al tener un hijo de una relación públicamente reconocida, el joven se convierte en padre y jefe de familia: el eje de un nuevo núcleo social. Se inaugura así un nuevo período del ciclo vital y, sobre todo significa el punto en que el varón se consagra como tal al obtener los símbolos de la hombría: comprueba que es potente sexualmente, es jefe de una unidad familiar y responde por ella ante el mundo exterior. Es decir confirma su virilidad y se inserta definitivamente en los ejes doméstico y público.221
Dieses Anforderungsprofil sei jedoch, wie Fuller fortfährt, eng an eine heteronormative Zweigeschlechtlichkeit sowie die Institution der Ehe gebunden. Reproduktion, die außerhalb der Ehe stattfinde, sei seitens des Mannes gesellschaftlich geduldet, führe jedoch auf Seiten der ledigen Mutter und der entstandenen Kinder zu sozialer und ökonomischer Marginalisierung, da das oben beschriebene heteronormative ‚Ernährer-Gebärerinnen-Modell‘ mit den entsprechenden genderspezifischen machträumlichen Zuschreibungen dort nicht greife. Grundlegend dafür sei die ‚Möglichkeit‘ der Väter, die Vaterschaft zu verweigern bzw. nicht anzuerkennen, während die Mütter bei ihren Kindern blieben.222 Dieses sozioökonomische Phänomen sei laut Fuller ein Klassenproblem, da die beschriebenen Väter oftmals der Mittel- oder Oberschicht, die entsprechenden Mütter niedrigeren Klassen zuzuordnen seien.223
Die hegemoniale Männlichkeit, die Fuller in ihren Ausführungen beschreibt, ist damit zum einen an institutionalisierte Heteronormativität gekoppelt und bedingt andererseits ein räumlich stark segregiertes Geschlechterverhältnis. Durch die räumliche Zweiteilung werde auch, wie Potthast formuliert, Konkurrenz unter den Ehepartnern vermieden:
Die Mütter bestimmen in Lateinamerika nicht nur über die Küche und das Haus [sic] sondern auch über die Erziehung der Kinder. […] Die Frauen erhalten somit eine starke Stellung innerhalb bestimmter Räume, und zwar in Familie und Haus. Dies bedeutet, dass keine Konkurrenz zu den männlichen Machtansprüchen entsteht. Die Geschlechterrollen und -sphären sind derart deutlich voneinander abgegrenzt, dass sie einander kaum tangieren, zumal der weibliche Bereich als privat deklariert wurde und eine eventuelle Einschränkung männlicher Dominanz hier für die Männer nicht ehrenrüchig ist.224
Doch was, wenn diese genderspezifische Dichotomie nicht eingehalten wird? Oder was bedeutet es für das geschlechterspezifische Machtgeflecht, wenn Frauen zwar als mütterlich dargestellt werden, tatsächlich jedoch kinderlos, sprich keine Mütter sind? Beide Fälle bilden in Onettis Texten mehr die Regel denn die Ausnahme. Dementsprechend soll im fünften Kapitel dieser Arbeit auch der Frage nachgegangen werden, welche Macht- und Raumzuschreibungen mit kinderlosen Frauen verbunden sind – insofern durch die Kinderlosigkeit ja das christlich heteronormative Raum-Geschlechter-Verhältnis unterlaufen wird. Ebenfalls zu untersuchen sein werden die Männerfiguren, mit denen es sich ähnlich verhält: Denn auch sie werden bei Onetti überwiegend als kinderlos dargestellt – oder als solche, die kompensatorische Formen der biologischen Vaterschaft praktizieren, wie im vierten Kapitel noch ausführlich zu erläutern sein wird. Daraus wiederum lässt sich die Vermutung ableiten, dass ein Großteil der männlichen Figuren bei Onetti zwar Komplizen der hegemonialen Männlichkeit, wie sie Fuller expliziert, sind, zu dieser jedoch im Verhältnis als Marginalisierte oder Untergeordnete stehen. Eine Untersuchung, die sich diesen untergeordnetten Männlichkeiten im soziokulturellen Kontext des La-Plata-Raums und insbesondere in dem von Onetti vornehmlich dargestellten Milieu der Nachtclubs und Cabarets widmet, stammt von Eduardo P. Archetti und soll im Folgenden vorgestellt werden.225 Ein detaillierter Abgleich dieser Männlichkeiten mit jenen in Onettis Texten erfolgt in Kapitel 4.3.
Im Unterschied zu Stevens‘ anthropologischer und Ramírez‘ ethnographischer Herangehensweise basieren Archettis Untersuchungen auf der narrativen Analyse klassischer Tango-Texte: „The analysis of tango lyrics is rooted in the classical period of the tango-canción (tango-song) from 1917 to 1935. Most significant tango narratives were produced in that period […].”226 Archetti setzt eine stereotypisierte, heterosexuelle Männlichkeit, die vor allem auf einer Unterordnung der Frau basiert, als hegemonial für den rioplatensischen Kontext. In Abgrenzung (Unterordnung oder Subversion) dazu, arbeitet er mehrere plurale Männlichkeiten innerhalb des Tango-Diskurses heraus:
The comparative masculinities depicted in the universes of tango […] appear as fluid, ambiguous, on occasion contradictory, perhaps subversive of a dominant and hegemonic heterosexual Argentine masculinity based on the institutionalization of men’s dominance over women. The active men in the ritual arenas of […] tango are dispossessed of social power and wealth, and, therefore, less concerned with the reproduction of the image of a dominating middle-class ‚pure‘ heterosexual male.227
Wenngleich Archetti in seinen Ausführungen den Terminus Machismo vermeidet, ist anzunehmen, dass er auf eben dieses Phänomen anspielt, wenn er in obigem Zitat die Schlüsselbegriffe ‚heterosexuell‘, ‚Ehe‘ (die er als institutionalisierte Herrschaft der Männer über die Frauen paraphrasiert) und ‚dominant‘ aufruft. Außerdem stellt er die verschiedenen Männlichkeiten in einen Klassenkontext, indem er auf die Aspekte von sozialem und ökonomischem Kapital (social power and wealth) eingeht. Ein weiterer Punkt, den obiges Zitat addressiert, ist die Fluidität der untersuchten Männlichkeiten. Sie stehen damit in einem mitunter gegensätzlichen, ambivalenten und konkurrierenden Verhältnis zueinander, da es laut Archetti mitnichten das eine gültige Tango-Narrativ gibt, sondern auch hier wieder von einer Pluralität, diesmal innerhalb der verschiedenen Texte ausgegangen werden muss.
Eines der Hauptmotive, das Archetti innerhalb dieser heterogenen Narrative untersucht, ist das der unerfüllten, romantischen Liebe. Heterosexuelle, kinderlose Paare ohne Trauschein konstituierten diese Form des ‚romantischen‘ Zusammenlebens, wobei üblicherweise ‚die Männer‘ von ‚den Frauen‘ verlassen würden. Der Trennungsschmerz und der ob des Verlassen-Werdens erlittene Kontrollverlust stürze ‚die Männer‘ in eine Identitätskrise.228 Anders als in den Konzepten von Machismo und Marianismo, in deren Zentrum Reproduktion und Familie stehen, fokussiert der Tango-Diskurs damit die freie, heterosexuelle Liebe als Gegenentwurf zur bürgerlichen, institutionalisierten Form von Ehe und Familie:
[T]he basic elements in the cultural construction of romantic love are intimacy, companionship or friendship, the existence of mutual empathy, and the search for sexual pleasure. […] they are perceived as ‚subversive‘ to family life and ordered biological reproduction.229
Der archetypische „‚man of the tango‘ is middle-aged, single, middle-class“ und auf der Suche nach ‚der Liebe‘ – und nicht nach einer devoten Ehefrau samt zugehörigem, konventionellem Familienleben, wie im Machismo/Marianismo dargestellt. Gegenseitige Liebe, Loyalität und Freundschaft bestimmen die Beziehung, welche dieser so genannte „romantic lover“230 laut Archetti zum Idealbild erhebt. Die zugehörige ‚ideale Frau‘ ordne sich ihm nicht mehr unter und verkörpere auch nicht mehr die für den zeitgenössischen Liebesroman prototypischen Tugenden wie Jungfräulichkeit und Keuschheit, sondern agiere frei und selbstbestimmt. Treue basiere für den romantischen Liebhaber auf wahrer, ‚authentischer‘ Liebe und nicht auf ehelicher Übereinkunft oder als Folge autoritären männlichen Verhaltens. Das heißt, er erwartet, dass seine Geliebte ihm aus freien Stücken treu ist und nicht unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Autorität agiert. Männliche Sexualität richte sich demnach nicht auf Reproduktion, sondern auf sexuelle Erfüllung und die wiederum unerfüllbare Sehnsucht nach der ‚wahren‘, romantischen Liebe. Die spezifische Weiblichkeit, die auf der Suche nach der unerreichbaren ‚wahren‘ Liebe adressiert wird, sieht Archetti daher in der Figur der unabhängigen, selbstbestimmten Liebhaberin verwirklicht: „In the discourse of romantic love women can decide for themselves whom to love. In such cases the chosen man is responsible only for himself and not for her decisions and feelings.“231 Frauen erreichten damit einen Grad an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, die jegliche bürgerliche, heteronormative Vorstellung von Weiblichkeiten, die immer in Bezug auf oder in Abhängigkeit von einem Mann konstruiert seien, unterliefen.232 Das Dilemma dieser Beziehung liege in deren Umsetzung, wie der Terminus ‚romantisch‘, sofern er in seinem eurozentrischen Ursprungssinn erfasst wird, bereits impliziere. Denn Beständigkeit habe nach wie vor nur die gesellschaftlich anerkannte Form der Ehe und damit die Erfüllung christlich-bürgerlicher Rollenanforderungen an die Eheleute. Die ‚wahre‘ Liebe bleibe damit nur als Utopie oder unerreichbares kulturelles Konstrukt bestehen. Sobald die Liebenden zueinander gefunden haben, trete, wie Archetti fortfährt, die paradoxe Situation ein, dass die romantische Liebe durch den Weggang der Frau entweder unglücklich ende oder sich in die bürgerlichen Rollenbilder, die sie unterlaufen wollte, fügen müsse.
Im Gegensatz dazu sei das materialistische Denken der „milonguita“233 innerhalb des Narrativs der romantischen Liebe als oberflächlich und letztlich zerstörerisch markiert – gleichwohl sei sie immer wieder ebenfalls Adressatin des romantischen Liebhabers. Allerdings nur in Form eines unerreichbaren Objekts der Begierde, da dem romantic lover meist die finanziellen Mittel (wealth) fehlten, um ihr das bieten zu können, wonach sie strebe: nämlich einer Verbesserung ihrer sozialen und materiellen Situation. Archetti beschreibt die Tango- bzw. Cabaret-Tänzerin als „sensual and egoistic“; außerdem verfüge sie über „self-confidence that emanates from their beauty and elegance“:234
The milonguita escapes from the barrio, from poverty perhaps, and from a future as a housewife, to the center […], to the excitement, luxury, and pleasure that the best cabarets offer to young, ambitious, and beautiful women.235
Die Tango-Tänzerin versuche durch Weggehen aus dem eigenen, meist ärmlichen Viertel den sozialen Aufstieg und einen Ausbruch aus dem gesellschaftlich vorgezeichneten Weg als Mutter und Hausfrau – oder, wie im Falle Miriams in La vida breve (1950), aus der elenden körperlichen Ausbeutung als prekäre Prostituierte.236 Der Aufbruch der Tänzerin sei mit einem Streben nach ökonomischer Verbesserung und den aufregenden Vergnügungen, die das Nachtleben verheiße, verbunden. Der Nachtclub ist damit zugleich als Ort gesellschaftlicher Freiheit markiert: „[C]abaret can provide a space of ‚freedom‘.“237 Dabei ist das Leben als Tänzerin auch stark an Aspekte der Physis geknüpft, denn, wie Archettis Zitat zeigt, ist dieser Weg jungen und schönen Frauen vorbehalten. Mit zunehmendem Alter verliert deren Körperkapital an Wert und führt in die Einsamkeit der Verlassenen. Denn die oberflächlichen, materialistischen Geschenke, die ihnen reiche Männer, Archetti bezeichnet sie als „bacanes“238, bieten, erhalten sie nur, solange sie dem reichen Mann einen körperlichen Gegenwert in Form von Jugend und Schönheit bieten können.
Der reiche bacán, der seinen Wohlstand zur Verführung junger milonguitas einsetzt, repräsentiert eine Männlichkeit, die innerhalb des Tango-Diskurses als hegemonial wahrgenommen wird. Sie verweist den romantischen Liebhaber auf eine untergeordnete Position. Ökonomische Potenz gilt demnach als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Der prototypische Macho nach Stevens bietet demnach einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten an – insofern Archetti den bacán allein in Relation zur milonguita schildert. Dessen soziokulturellen Hintergrund, z.B. den entscheidenden Umstand, ob er verheiratet ist oder Kinder hat, erwähnt Archetti nicht – auch nicht in der Negation. Er schildert ihn allein in seinen sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum, d.h. dem Tango-Milieu.
Neben den Archetypen des romantic lover und des bacán arbeitet Archetti jedoch noch eine dritte wichtige männliche Figur innerhalb des Tango-Diskurses heraus, die, wie das nächste Zitat verdeutlichen soll, vor allem in seiner Körperlichkeit und seinem Überlegenheitsstreben auf ‚den Macho‘ nach Stevens verweist. Der compadrito repräsentiert den Typus des ‚eleganten Verführers‘ (im Gegensatz zu dem hauptsächlich als reich dargestellten bacán). Archetti beschreibt ihn als jemanden
whom no woman is able to resist, and is admired because of his courage, physical strength, and capacity to cheat where necessary. [He] has a defiant and hostile attitude toward other men. In the code of honor defended by the compadrito, violence and fighting establish and reproduce social hierarchies. […] He is very concerned with women’s loyalty but in a context where men expect obedience and submission from their women. He is a character from the outskirts, not the center, of the city. […] In this context male honor is very dependent on female sexual behavior. In some cases the betrayal by the women is punished by death, but in most, the woman is described as weak, unable to resist temptation. The ‚other man‘ takes advantage of her moral fragility, and, consequently, is punished.239
Seine soziale Stellung erreiche und verteidige der compadrito mittels Gewalt. Interaktionen mit anderen Männern seien von Feindseligkeit und Konkurrenzkampf geprägt. Durch Mut, körperliche Stärke und, wenn nötig Betrug, verschaffe er sich Respekt innerhalb homosozialer Kontexte. Seine männliche Ehre sei von der Treue seiner Geliebten abhängig. Das heißt im Umkehrschluss, er fordert ihre Treue als Beweis seiner Männlichkeit ein – in der romantischen Liebe beruhte diese, wie bereits erläutert, auf der freien Selbstbestimmung der Frau. Der compadrito hingegen ahnde den Betrug, sofern seine Geliebte es überhaupt wagt, ihn zu betrügen, mit körperlicher Bestrafung, die auch den Tod der Frau bedeuten könne. Außerdem räche er sich an dem Konkurrenten, der die weibliche Schwäche ausgenutzt und die Ehre des compadrito verletzt hat. Dass Frauen dieser Art von Männlichkeit nicht nur machtlos gegenüberstehen, sondern ihr auch nicht widerstehen können, wird im Tango-Diskurs auf ihren schwachen Charakter zurückgeführt. Hauptmerkmale dieser spezifischen Weiblichkeit seien Abhängigkeit von der brutalen Männlichkeit des compadrito sowie Verschlagenheit.
Allerdings befinde sich der compadrito in vielen Tango-Texten in der Krise. Als Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit führt Archetti die Tatsache an, dass der compadrito seine verletzte Ehre in einigen Fällen nicht mehr durch Tötung der untreuen Geliebten wiederherzustellen, sondern den Ehrverlust tränenreich betrauere und die Frau zu vergessen versuche:
Many tangos between 1917 and 1930 present the figure of the compadrito in a deep identity crisis. In ‚La he visto con otro‘ (I have seen her with another man) the betrayed man will not kill her: while crying, he will try to forget her.240
In anderen Narrativen erfahre der betrogene compadrito vermittels der ‚transformativen Kraft der Liebe‘ Läuterung. Anstatt sein Leben durch die kontinuierliche Konkurrenz und körperliche Auseinandersetzung mit anderen Männern aufs Spiel zu setzen, nehme er den potentiellen Ehrverlust hin.241 Das heißt, der Betrug kann für den compadrito nicht nur bedeuten, durch die Rache an seinem Konkurrenten das eigene Leben riskieren zu müssen, sondern er kann die Ehrverletzung gleichsam als Katharsis nutzen.
Die letzte archetypische heterosoziale Konstellation, die Archetti anführt, ist die von Mutter und Sohn. Dabei werde, so Archetti, der männliche Protagonist der Tango-Narrative niemals als Vater, sondern immer als Sohn dargestellt. Das Bild der idealisierten Mutter werde mit Begriffen wie „purity, suffering, sincerity, generosity, and fidelity“ assoziiert: „The idealized mother is the source of boundless love and absolute self-sacrifice.“242 Reinheit, Leiden und Selbstaufopferung spielen wieder deutlich auf das weibliche Idealbild im Marianismo an, während Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Fröhlichkeit und grenzenlose Liebe eher auf charakterliche Aspekte und Verhaltensweisen deuten, die mit der spezifischen Weiblichkeit der unabhängigen Geliebten korrespondieren.
Zwei Weiblichkeiten schlössen sich in Archettis Analyse jedoch aus. So besitze die klassische Mutterfigur zwar durchaus Charakteristika der unabhängigen Geliebten, mit der spezifischen Weiblichkeit der Tänzerin sowie dem freiheitlichen Ideal einer romantischen Liebe sei sie jedoch komplett inkompatibel. Archetti argumentiert, dass aus einer freiheitsliebenden Tänzerin (und einer unabhängigen Geliebten) keine aufopferungsvolle Mutter werden könne und vice versa:
The milonguita cannot be transformed into a ‚mother‘, and, conversely, the ‚mother’s‘ world excludes the nightlife of the public sphere. In other words, a milonguita will never be a wife, or a mother of many children. Hence, for the chaste mother, romantic love is impossible, just as motherhood is impossible for the milonguita.243
Die Inkompatibilität dieser Weiblichkeiten ist nicht zuletzt an die spezifischen Räumlichkeiten gebunden, welche die jeweiligen Figuren besetzen: die Mutter das Haus als private Enklave, die Tänzerin die Cabarets im öffentlichen Raum.244 Während Muttersein an den häuslichen Raum gebunden ist und heteronormativen Zwängen unterliegt, verkörpert die Tänzerin Werte wie absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie nur in der Öffentlichkeit ausleben kann.245
Nach diesem Überblick über den theoretischen Grundstock dieser Arbeit, beginnt mit dem folgenden Kapitel die Textarbeit an ausgewählten Romanen und einer Kurzgeschichte Onettis. Doch zunächst einmal soll über die Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías das Untersuchungskorpus eingehend vorgestellt werden.