Читать книгу Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht - Страница 17

3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus

Оглавление

El profesor preguntó si el nombre de Santamaría

me era conocido. Le dije que toda América del Sur

del Centro estaba salpicada de ciudades

o pueblos que llevaban ese nombre.

-Ya lo sé. Pero nuestra Santamaría es cosa distinta.246

Juan Carlos Onetti (1993)

Mit La vida breve (1950) entsteht auch Santa María als einer der prägendsten imaginären Orte der lateinamerikanischen Literatur. Denn, wenngleich dieses scheinbar so vertraute und gleichzeitig so schwer greifbare fiktive Territorium stets mit den weitaus berühmter gewordenen Topographien Comala von Juan Rulfo oder Gabriel García Márquez’ weltbekanntem Macondo verglichen wird, so gerät dabei oftmals eines in Vergessenheit: Am Beginn dieser modernen literarischen Entwicklung Lateinamerikas, einen spezifischen Ort ins Zentrum einer oder mehrerer Erzählungen zu stellen, steht Santa María. Der Roman, in dem Juan María Brausen Santa María erstmals imaginierte, erschien 1950, von Comala erfuhren die Leser*innen 1955, von Macondo 1967.

Santa María geht auf eine Drehbuchidee der Romanfigur Juan María Brausen in La vida breve (1950) zurück. Die Handlung dieses Drehbuchs situiert Brausen ebendort. Da dieses Drehbuch in der Fiktion jedoch nie über den Status des ‚Gedachtwerdens‘ hinausgeht, d.h. von der fiktiven Autorfigur Brausen niemals aufgeschrieben, geschweige denn verfilmt wird, gilt Santa María – zumindest als Drehort im Roman – als gescheitert:

Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se cumplirían nunca. (VB 533)

Als – von dem realen Autor Onetti zu Papier gebrachter – literarischer Diskursraum verbindet Santa María jedoch fast alle Texte, die Onetti nach La vida breve (1950) verfasst hat. La vida breve (1950) wird damit zum Gründungstext innerhalb des Gesamtwerks. Wie in der Einleitung bereits dargestellt, widmet sich vorliegende Arbeit insbesondere den Santa-Maria-Texten Onettis, die das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion abbilden. In editionschronologischer Reihenfolge sind dies: La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) sowie Dejemos hablar al viento (1979). Die fünf ausgewählten Erzählungen sind damit nicht nur durch Santa María als Diskursraum verbunden, sondern auch durch einen thematischen Schwerpunkt: Sie verhandeln allesamt Elternschaft und Reproduktion als dysfunktionale Systeme.247 Dieser Dysfunktionalität steht die Darstellung künstlerische Produktion als herausgehobener Selbstzweck entgegen, wie im vierten Kapitel anhand männlicher Erzähler und männlich konnotierter Erzählkunst herausgearbeitet werden soll. Inwieweit die Problematisierung von Elternschaft als Strategie weiblicher Selbstermächtigung gelesen werden kann, soll im fünften Kapitel untersucht werden. In diesem Kapitel soll jedoch zunächst einmal Santa María vermessen werden, einerseits als alle Erzählungen umspannender Diskursraum, andererseits aber auch als Stadtraum, dessen räumliche Ausgestaltung wiederum in Wechselwirkung zur Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse innerhalb der Texte tritt. Gleichzeitig stellt dieses Kapitel einen inhaltlichen Überblick über die einzelnen untersuchten Texte sowie deren Verknüpfung innerhalb des Analysekorpus dar.

Im Sinne einer narrativen Rahmung können die beiden Romane La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) als Anfang und Endes eines möglichen Lebenszyklus‘ namens Santa Marías gelesen werden.248 So schildert La vida breve (1950) die Erfindung Santa Marías sowie dessen metafiktionale Verortung im Gesamtwerk. Dejemos hablar al viento (1979) deutet im letzten Kapitel die physische Zerstörung Santa Marías an und wird gemeinhin als Replik auf alle vorangegangenen Romane, insbesondere La vida breve (1950), interpretiert.249 Die Handlungen von Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968) und La muerte y la niña (1973) schreiben sich jeweils intratextuell in diesen Zyklus ein.

Monographisch gelesen entwickelt sich das anfänglich als Drehort ersonnene Santa María in nachfolgenden Romanen zu einem eigenen metafiktiven Diskursuniversum, das, wie in Kapitel 4.1 zu zeigen sein wird, in unterschiedlich starker Ausprägung von seinem fiktiven Schöpfer Brausen dominiert wird. Topographisch entzieht sich Santa María dabei jedoch jedweder Eindeutigkeit. Eva Erdmann veranschaulicht dies an folgenden Beispielen:

Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, Nähe oder Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Er ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu ‚Esbjerg, en la costa’, dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der ‚Colonia Suiza’ aus zu bewältigen […].250

Buchstäblich zum Scheitern verurteilt ist so der Versuch, eine Karte zu zeichnen, welche die wiederkehrenden Orte innerhalb Santa Marías (Kirche, diverse Hotels und Bordelle) und auch dessen Außentopographie (in Bezug auf Buenos Aires, Montevideo oder in späteren Werken Monte, Enduro oder Rosario sowie die Werft oder die Schweizer Kolonie) konzise abzubilden vermag.251 Gleichwohl lässt sich mithilfe strukturalistischer Kriterien die diskursive Darstellung Santa Marías in den verschiedenen Texten nachzeichnen, die, so die These, im Laufe des Gesamtwerks veränderlich ist. Dieses Kapitel soll daher zunächst anhand der diskursiven Darstellung Santa Marías die (stadt-)räumlichen Strukturen, Konfliktfelder und gesellschaftlichen Diskurse beleuchten, innerhalb derer sich die Problematiken dysfunktionaler Elternschaft und Reproduktion bei Onetti verorten lassen. Die folgende Analyse soll somit zeigen, dass Santa María in Onettis Texten nicht als starre räumliche Kulisse konstituiert ist, sondern vielmehr eine veränderliche, mitunter kontingente Raumfigur darstellt, über welche die einzelnen Texte miteinander verbunden sind und vermittels derer gesellschaftliche Diskurse abgebildet werden. Für die entsprechende Analyse der Darstellung Santa Marías in diesem Kapitel werden Andreas Mahlers Kriterien zur Untersuchung von „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“252 herangezogen.

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

Подняться наверх