Читать книгу Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht - Страница 4

1 Einleitung: Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María

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In the year of '39 came a ship in from the blue

the volunteers came home that day

and they bring good news of a world so newly born

though their hearts so heavily weigh

for the earth is old and grey, little darlin' we'll away

but my love this cannot be

for so many years have gone though I'm older but a year

your mother's eyes from your eyes cry to me1

Brian May (1975)

1909 in Montevideo geboren, lebte, arbeitete und publizierte Juan Carlos Onetti bis zu seiner Exilierung 1975 wechselweise in Montevideo und Buenos Aires. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Madrid. Dort verfasste er den Großteil seines Spätwerks, erhielt 1980 den Premio Cervantes und starb 1994.2 Lange Zeit war Onetti kaum über Uruguay und den La-Plata-Raum hinaus bekannt. Allein ein eingeschworener Kreis junger Schriftsteller*innen und Intellektueller aus dem Umfeld der linksliberalen Wochenzeitschrift Marcha (deren Redaktion Onetti von 1939 bis 1941 angehörte), die auch als „generación crítica“ oder „generación del 45“ in die Literaturgeschichtsschreibung eingingen, pflegte bereits zu Beginn der 1940er Jahre einen regelrechten Kult um den späteren Cervantes-Preisträger.3 Onetti verfasste und veröffentlichte zwischen 1933 und 1993 14 Romane, zahlreiche Kurzgeschichten sowie journalistische Beiträge.

Als Schlüsselwerk gilt bis heute der 1950 erschienene Roman La vida breve. Anhand der Genese einer fiktiven Kleinstadt namens Santa María exemplifiziert Onetti in diesem Roman die Mechanismen der Autofiktionserzeugung. Sein literarisches Schaffen lässt sich damit grob in zwei Perioden unterteilen: eine ‚präsanmarianische‘ und eine ‚sanmarianische‘, d.h. in Texte vor der Erfindung Santa Marías und in solche, die ebendarin verortet sind.4 So konstatiert Roberto Ferro, dass mit Beginn der „Saga de Santa María“5 Onettis Erzählen in zunehmendem Maße selbstbezüglich werde:

Hasta la aparición de La vida breve, la narrativa de Onetti remite a una constelación de escrituras que cita y reescribe, entre las que se inscriben de modo paradigmático, aunque no excluyente, las de Céline, Faulkner, Arlt, Joyce y la novela de aventuras: ese gesto se registra como un movimiento de apertura. A partir de La vida breve, la instancia citacional se hace endógena, las repeticiones autorreferenciales comienzan a constituirse en uno de los rasgos distintivos de su escritura, que exhibe la marca de un porvenir inscripto en la repetición.6

Ferro zeichnet damit die Veränderung des Gesamtwerks von einem stark intertextuell zu einem stark intratextuell geprägten Erzählwerk nach.7 Das heißt, die narrativen Referenzen beschreiben eine räumliche Bewegung: von einem ‚textlichen Außen‘ in den frühen Werken zu einem ‚textlichen Innen‘ in den sanmarianischen Erzählungen. Einzelne, überwiegend männliche Figuren sind sich ihres Fiktionalitätscharakters bewusst und reflektieren diesen auch aktiv.8 Ein poetologischer Effekt dieser starken Autoreferentialität besteht darin, dass die einzelnen Texte zum Teil erst innerhalb des Gesamtkontextes verständlich werden. Ferro plädiert in seiner Studie daher auch für eine Lesart, die Onettis literarisches Gesamtwerk als „único texto“9 fasst. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Vorschlag, indem sie das ausgewählte Korpus als Teil des Gesamtwerks liest und immer wieder dazu in Beziehung setzt.

Das zu untersuchende Textkorpus umfasst die Romane La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), La muerte y la niña (1973) und Dejemos hablar al viento (1979) sowie die Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968). Allen genannten Texten ist gemein, dass sie sich in zahlreichen Anspielungen auf La vida breve (1950) als ‚Gründungstext‘ beziehen und überwiegend in dem darin erdachten Santa María verortet sind. Entscheidungsleitend bei der Auswahl der einzelnen Romane sowie der Kurzgeschichte waren die unterschiedlichen Darstellungen von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion respektive deren Negationen. Diese wiederum stehen, so die Grundannahme der vorliegenden Arbeit, stets in komplexen reziproken Abhängigkeitsverhältnissen zu den Parametern Raum, Macht und Gender, welche in diesem Rahmen analysiert werden sollen.

Die Hypothese basiert auf folgenden Vorüberlegungen: Mit Santa María wählt Onetti einen in Lateinamerika weit verbreiteten Städtenamen, der sich, wie Jorge Edwards exemplarisch für die bisherige Onetti-Forschung formuliert, auf eine fiktive, prototypische lateinamerikanische Provinzstadt bezieht:10

Es una ciudad provinciana, un espacio cerrado, ocupado por unos cuantos personajes novelescos, y es, en seguida, un mundo novelesco que se encuentra en las cercanías de lugares tan reales como Buenos Aires y Montevideo. […] Es la metáfora de cualquier ciudad de América del Sur, con su carácter provinciano, con su cercanía de algún puerto, con sus barrios de inmigrantes.11

Während die Forschung sich bis dato also vor allem auf Santa María als Teil einer bekannten lateinamerikanischen Geographie bezogen hat, soll in vorliegender Arbeit noch ein weiterer terminologischer Aspekt für die Analyse fruchtbar gemacht werden: So rekurriert der Name Santa María in der christlichen Tradition auf die heilige Maria, die Muttergottes, die Gebärerin des christlichen Heilands; evoziert wird damit werkübergreifend die Figur der Mutter als traditionelles Symbol des Lebens, der Geburt und der Schöpfung. Allerdings spielen auf diegetischer Ebene Mutterfiguren nur eine sehr marginale Rolle. In weiterem starkem Kontrast zu dem christlichen Marienmythos steht, dass Fortpflanzung und Elternschaft in Onettis Texten entweder offen problematisiert oder von den Figuren verweigert werden und damit als grundsätzlich dysfunktional und/oder konfliktbehaftet markiert sind. In Onettis Texten wird, so eine weitere Lektürebeobachtung, (biologische) Reproduktion vielmehr durch kinderlose Frauenfiguren, die gleichzeitig mit Attributionen von Mütterlichkeit versehen werden, repräsentiert. Jegliche Art der Genealogie auf diegetischer Ebene erscheint damit unmöglich. Über all dem ‚schwebt‘ eine männliche Schöpferfigur, deren Erzählpotenz sich auf unterschiedliche männliche Erzählinstanzen aufteilt.

Unter diesen Prämissen wird Santa María über seine Funktion als literarischer Handlungsort oder topographischer Referenzrahmen hinaus auch als metafiktionales Produkt respektive Kunstwerk und metonymisch als grundlegendes Prinzip des stark vom Marienmythos geprägten Phänomen des Marianismo lesbar. In der vorliegenden Arbeit soll es folglich nicht nur um das eine, singuläre Santa María in Onettis Gesamtwerk gehen, sondern um eine Vielzahl von Santa Marías und innerhalb dieser um die genderbezogene Darstellung machträumlicher Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion.

Nach den inhaltlichen Vorüberlegungen sollen nun kurz diejenigen Raumtheorien skizziert werden, die zu oben genannter Beobachtungen geführt und diese Arbeit geprägt haben. Grundlegend war zunächst die Orientierung an Henri Lefebvres Theorie des sozialen Raums, wonach Raum nicht nur als Produkt, sondern gleichzeitig auch als Produzent sozialer Ordnungen zu verstehen ist.12 In den Worten von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann heißt das: „Als Signatur sozialer und symbolischer Praktiken ist Raum kulturell produziert und kulturell produktiv: Der Raum selbst spiegelt demzufolge bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt diese.”13 Raum, und insbesondere der Raum in der Literatur, fungiert in dieser Lesart als „kultureller Bedeutungsträger“, der, so Hallet/Neumann weiter, „[k]ulturell vorherrschende Normen, Wertehierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem“14 konkret veranschaulicht. Diese kulturellen Wertehierarchien und -vorstellungen stehen sich mitunter widersprüchlich gegenüber und bilden dadurch Machtverhältnisse, kulturelle Konflikte oder Formen von Diskriminierung ab. Dementsprechend argumentieren Hallet/Neumann:

Da in materiellen Räumen heterogene, sogar widersprüchliche Symbolisierungen zusammenlaufen können, ist ihnen stets eine (inter-)kulturelle Vielschichtigkeit eingeschrieben, die dazu geeignet ist, die vermeintliche Homogenität und Hierarchisierung kultureller Ordnungen in Frage zu stellen.15

Die zitierte Betonung der Machtverhältnisse als Effekte räumlicher Praktiken rekurriert wiederum auf Michel Foucaults relationales Macht- und Raumverständnis. Allerdings fehlt in Foucaults Ausführungen zu raumabhängigen Machtrelationen ein expliziter Geschlechterbezug, sprich: Foucault verwendete in seinen Analysen das generische Maskulinum. Erst eine feministische Rezeption zeigte die gendersensible Anschlussfähigkeit seiner Texte auf und ebnete damit den theoretischen Weg für eine genderkritische Perspektive. Diese wiederum korrespondiert mit einem Postulat der feministischen Humangeographie, welches die Konstruktion von Raum als unbedingt genderabhängig beschreibt.16 Mit ihrem programmatischen Ansatz „geography matters to gender“17 prägte Doreen Massey, eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Humangeographie, die wissenschaftliche Erforschung von Raum-, Macht- und Genderrelationen. Mit implizitem Rückgriff auf Lefebvre schreibt sie:

The only point I want to make is that space and place, spaces and places, and our senses of them (and such related things as our degrees of mobility) are gendered through and through. Moreover they are gendered in a myriad different ways, which vary between cultures and over time. And this gendering of space and place both reflects and has effects back on the ways in which gender is constructed and understood in the societies in which we live.18

Massey betont damit die Notwendigkeit, nicht nur Klassenzugehörigkeit, sondern auch das soziale Geschlecht (gender) als feste Analysegrößen in der Humangeographie zu etablieren. Sie verweist auf die Interdependenzen zwischen der sozialen Konstruktion von Geschlecht und unserer alltäglichen Raumwahrnehmung und -gestaltung. Wie sehr die deiktische Funktion von Sprache genderspezifische räumliche Grenzen zu ziehen respektive zu reproduzieren vermag, und inwieweit Machtverhältnisse durch Sprechverbote in bestimmten räumlichen Kontexten geprägt werden, erläutert die britische Mediävistin Mary Beard in Women and Power (2017). Beide genannten feministischen Ansätze sind dem Prinzip der Intersektionalität verhaftet, das wiederum einer herrschafts- und machtkritischen Perspektive Rechnung trägt: Es wird nicht mehr von singulärer (und damit ausschließlicher) Weiblichkeit respektive Männlichkeit ausgegangen, sondern die Pluralität unterschiedlicher struktureller und gesellschaftlicher Abhängigkeiten und Diskriminierungserfahrungen abgebildet, in die jede Person eingebunden ist bzw. die eine Person in einem bestimmten kulturellen oder politischen Kontext erfährt.19 Diesem intersektionalen Ansatz fühlt sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet.

Dementsprechend lässt sich also konkretisieren: Raum ist in vorliegender Untersuchung als sozial geformtes, kulturell veränderliches Konstrukt zu verstehen, das Machtbeziehungen sowohl abbildet als auch hervorbringt. Die einzelnen Akteur*innen bzw. Figuren werden dabei nicht androzentrisch, d.h. ‚automatisch‘ als männlich verstanden, sondern in Abhängigkeit von ihrem sozialen Geschlecht untersucht. Das in dieser Arbeit angewandte Geschlechter-Verständnis orientiert sich wiederum an R.W. Connells theoretischem Zugang auf dem Gebiet der Men’s Studies.20 In Abgrenzung zu einem überwiegend diskursiv-semiotisch verstandenen Gender-Begriff, wie ihn insbesondere Judith Butler prägte, spricht Connell einerseits von der sozialen Gemachtheit von Geschlecht, betont jedoch gleichzeitig auch die Bedeutung körperreflexiver Praktiken für dessen Darstellung:21

Through body-reflexive practices, bodies are addressed by social process and drawn into history, without ceasing to be bodies. They do not turn into symbols, signs or positions in discourse. Their materiality (including material capacities to engender, to give birth, to give milk, to menstruate, to open, to penetrate, to ejaculate) is not erased, it continues to matter. The social process of gender includes childbirth and child care, youth and aging, the pleasures of sport and sex, labour, injury, death from AIDS.22

Unter körperreflexive Praxen fasst Connell dezidiert auch reproduktive Fähigkeiten und Vorgänge. Sie spricht von der „reproductive arena“23 als sozialem Ordnungsprinzip. Nach Connell strukturiere der Reproduktionsbereich, einschließlich körperreflexiver Praktiken wie sexueller Erregung oder Zeugung sowie der Organisation von Fürsorge-Aufgaben maßgeblich die Geschlechterverhältnisse und konstituiere damit auch die spezifischen Machtrelationen zwischen Männern und Frauen.24

Für die vorliegende Arbeit lässt sich aus diesen schlaglichtartig skizzierten Vorüberlegungen eine Reihe von Forschungsfragen formulieren:

 Wie wirken die geschlechtsspezifischen, reproduktiven (Un-)Fähigkeiten der Figuren auf die gesellschaftliche und räumliche Ordnung Santa Marías und

 in welcher Weise prägt der Raum selbst das Feld der Reproduktion und

 damit die Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse?

 In welchem geschlechterspezifischen Verhältnis stehen biologische Reproduktion und künstlerische Produktion und

 inwieweit spiegelt sich dieses Spannungsfeld in den dargestellten Männlichkeiten respektive Weiblichkeiten wider?

 Wie verhält sich der durch den Namen Santa María evozierte Marienmythos in Bezug auf die dargestellten Geschlechterverhältnisse innerhalb des männlich dominierten Onetti’schen Erzählkosmos und

 welche biopolitischen Diskurse lassen sich daraus für die analysierten Werke ableiten?

Diese Forschungsfragen implizieren, wie bereits im Titel der Arbeit anklingt, dass innerhalb des Onettti’schen Gesamtwerks und insbesondere innerhalb der ausgewählten Texte, eine konfliktive Beziehung zwischen Reproduktion und Produktion vorherrscht und dass dieses Spannungsverhältnis in genderspezifische, machträumliche Parameter eingebunden ist. Mit dieser Arbeitshypothese begegnet die vorliegende Untersuchung einem im Folgenden noch näher auszuführenden Forschungsdesiderat, insofern der Analysefokus auf den schöpferischen, hervorbringenden Fähigkeiten der Frauenfiguren liegt und diese unter machträumlichen Implikationen und als selbstbestimmte Handlungen zu männlicher Schöpfungspotenz in Beziehung gesetzt werden.

Die Forschungsarbeiten, die sich bislang unter dezidiert genderspezifischen Fragestellungen mit Onettis Texten auseinandergesetzt haben, reproduzieren einen heteronormativen Machtdiskurs, der Männern Handlungsmacht zugesteht und Frauen als Katalysatoren dieser Handlungen begreift. So beschreibt etwa Elena M. Martínez den narrativen ‚Wert‘ der Frau hauptsächlich über deren Nutzen für die männlichen Figuren, sei es „en términos de la producción narrativa [o de] la gratificación sexual“25. Die vorliegende Arbeit weist, wie bereits die oben formulierten Forschungsfragen verdeutlichen, weit über diesen Forschungsdiskurs hinaus, indem sie die Frauenfiguren in ein Machtverhältnis zu den Männerfiguren setzt und damit das bisherige Subjekt (männlich)-Objekt (weiblich)-Schema aufbricht.26 Diese explizit feministische Lektüre will sich damit auch als Gegengewicht zu einem Forschungsdiskurs verstanden wissen, dessen Interesse überproportional auf die Analyse der männlichen Figuren gerichtet ist und Frauenfiguren allein in Bezug auf ihre Objekthaftigkeit, in eindimensionaler Abhängigkeit zu den dargestellten Männerfiguren liest. So geht die vorliegende Untersuchung zwar auch davon aus, dass Onettis Erzählwelt klar androzentrisch markiert und patriarchal strukturiert ist, verweigert sich jedoch der im Forschungsdiskurs bislang daraus abgeleiteten Schlussfolgerung, dass weibliche Figuren per se einen passiven und alle männlichen Figuren einen aktiven Part besetzen. Die vorliegende Arbeit basiert vielmehr auf einem pluralistischen Patriarchatsbegriff, d.h. sie geht von einer grundsätzlichen Pluralität unterschiedlich organisierter patriarchaler Systeme aus, deren terminologisch verbindendes Merkmal auf der Tatsache beruht, dass die Systeme von Männern dominiert werden und Frauen darin eine untergeordnete Position zugewiesen ist. Patriarchal ist an dieser Stelle deskriptiv, als Ausdruck feministischer Systemkritik zu verstehen. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich ein pluralistischer Patriarchatsbegriff von der Denkschule des radikalen Feminismus distanziert, nach der ‚Männer‘ ‚Frauen‘ unterdrücken und nicht ein kulturell etabliertes System Machtasymmetrien und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern reproduziert.

In dieser Arbeit soll somit herausgearbeitet werden, dass Frauen in Onettis Texten, trotz systematischer männlicher Dominanz innerhalb des Diskursraums Santa María, im Bereich der Sexualität und Reproduktion Strategien der Verweigerung und Selbstermächtigung aufweisen, welche die in den ausgewählten Texten dargestellten patriarchalen Logiken aktiv zu unterlaufen vermögen.

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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