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1.3 Diagnoserealitäten vor Ort

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Zahlreiche Untersuchungen zu den individuellen Lernbedingungen von Schülern zeigen, dass ihr Lernerfolg nicht unwesentlich von der Diagnose- und Beurteilungskompetenz der Lehrer abhängt. Ebenfalls ist deutlich geworden, dass Lehrerurteile zu ein und demselben Lernergebnis sich erheblich unterscheiden können.

In unserem Beruf haben wir die große Verantwortung, dass unsere Beurteilungen unter anderem darüber entscheiden, welche beruflichen Wege Schüler gehen können und welche gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten sie haben.

Jede Art von Wahrnehmung, von Bewusstwerdung und von Beurteilung hängt von vielen subjektiven Faktoren ab bzw. wird von unbewussten Voreinstellungen und Erwartungen des Beobachtenden beeinflusst. Diese haben aber wenig mit Objektivität oder Transparenz zu tun, werden der Leistungsbeurteilung nur in Teilbereichen gerecht und behindern die Vergleichbarkeit der Beurteilungen.

Je umfangreicher und komplexer die zu beurteilenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, desto anspruchsvoller und damit fehleranfälliger wird die Beurteilung der Lernerfolge.

Alle Lehrerinnen und Lehrer wissen aus Erfahrung – und zahlreiche Untersuchungen belegen es –, dass sich Beurteilungen zum gleichen Lernergebnis gravierend unterscheiden können. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zu der Bedeutung subjektiver Fehlerquellen bei der Leistungsbeurteilung.

Da wir der Meinung sind, dass diese subjektiven Verzerrungen des professionellen Blickwinkels nicht erst am Ende des Prozesses (also der Leistungsbeurteilung), sondern auch schon an dessen Anfang (der Diagnose) virulent sind, zitieren wir an dieser Stelle die wichtigsten Erkenntnisse.

1. Der Einfluss von Vor- und Zusatzinformationen

Positive oder negative Zusatzinformationen – auch über außerschulische Bedingungen – beeinflussen die Beurteilung von schriftlichen und mündlichen Leistungen, was sich auf die alltägliche Benotungspraxis auswirkt. Ein unauffälliger, stiller Schüler, über den der Lehrer sonst wenig weiß, hat bei der Korrektur einer Arbeit wahrscheinlich deutlich „schlechtere Karten“ als ein sprachgewandter, in seiner Freizeit im Orchester spielender Schüler, dessen Schwester gerade einen Sportwettbewerb gewonnen hat, wie in der Zeitung zu lesen war.

2. Der Einfluss von Sympathie und Geschlecht

Objektiv gleiche Leistungen von Mädchen werden günstiger benotet als die von Jungen – und zwar von Lehrern wie von Lehrerinnen! In Befragungen geben beide Gruppen an, Mädchen im Vergleich zu Jungen als fleißiger, angepasster, ordentlicher usw. wahrzunehmen. Untersuchungen haben gezeigt, dass zahlreiche Lehrer diejenigen Schüler günstiger beurteilen, die ihnen sympathisch sind, aber es gab auch zahlreiche Lehrer, die in dieser Hinsicht völlig immun waren.

3. Der Einfluss von subjektiven Theorien

Die subjektiven, berufsbezogenen Theorien eines Lehrers leiten in hohem Maße sein Handeln; ausgeprägte Grundüberzeugungen beeinflussen die Wahrnehmung und Einschätzung von Schülerleistungen. Es ist eine allgemeine Tatsache, dass man vornehmlich das wahrnimmt, was man wahrzunehmen erwartet. Dadurch kommt es häufig zu Beobachtungsverzerrungen und -einseitigkeiten.

4. Halo-Effekt und logischer Fehler

Allgemeineindrücke oder hervorstechende Merkmale können die Wahrnehmung einzelner, nicht direkt beobachtbarer Merkmale bestimmen. Höfliches Auftreten, ordentliche Kleidung, saubere Heftführung und angemessenes Sprachverhalten führen zu einem gesamtordentlichen Eindruck eines Schülers. Es besteht aber die Gefahr, dass er bessere Leistungsbeurteilungen erhält, als er es eigentlich verdient hätte. Ähnlich wirkt mitunter auch der Ruf, der einem Schüler vorauseilt.

Voreilige Schlussfolgerungen werden von einem Leistungsmerkmal auf ein anderes übertragen, weil man annimmt, dass es quasi logisch mit dem beobachteten verbunden ist (logischer Fehler). Erbringt z. B. ein Schüler vorzügliche Leistungen in Mathematik, wird leicht angenommen, dass seine Leistungen auch im Fach Physik sehr gut sein müssen. Ähnlich wird nicht selten von einer vorzüglichen Gedächtnisleistung auf ein entsprechend hohes Maß an Verständnis geschlossen.

5. Stabile Urteilstendenzen

 Gute und sehr gute Noten werden selten benutzt. Es besteht die Neigung, kleinere Mängel relativ stark zu gewichten und vorwiegend negative Urteile abzugeben und schlechte Noten zu erteilen. (Strengefehler)

 Es werden hauptsächlich gute Noten und günstige Beurteilungen vergeben. (Mildefehler)

 Die Scheu vor extremen Urteilen führt zur Häufung von mittleren Urteilen und durchschnittlichen Noten. (Tendenz zur Mitte)

 Es kommt relativ selten zu mittleren Urteilen und durchschnittlichen Noten, sondern häufig zu überzogenen, extremen Urteilen. (Tendenz zu Extremurteilen)

6. Reihenfolgeneffekte

Reihenfolgen- und Positionsfehler ergeben sich aufgrund vorangehender Urteile oder wenn mehrere Beurteilungen nacheinander durchgeführt werden. Eine durchschnittliche Leistung wird beispielsweise oft besser beurteilt, wenn direkt vorher eine sehr mäßige zu bewerten war; eine Leistung wird leicht schlechter beurteilt, wenn ihr eine besonders gute voranging.

Um sich Klarheit über die eigene Beurteilungstendenz zu verschaffen, können Fehler in den Urteilen durch folgende Vorgehensweisen abgemildert werden:

 Abgleich persönlicher Beurteilungen mit Kollegenurteilen,

 Vergleich mit einer großen Zahl von Schülern (Klasse – Jahrgang) und Vergleichsarbeiten,

 systematische, regelmäßige Vergleiche über einen längeren Zeitraum,

 Analyse des persönlichen Leistungsbildes,

 transparente Leistungsbeschreibung für jede Beurteilung,

 systematische Datenermittlung nach eindeutigen Regeln,

 ausreichende Datenmengen für Gesamturteile.

Lehrer sind im Regelfall in der Lage, die Lernleistungen der Schüler ihrer Klasse relativ zutreffend einzuschätzen und in eine Rangfolge zu bringen (vgl. Schrader/Helmke 2001, S. 50 f.). Sie haben aber Schwierigkeiten, den Leistungsstand klassenübergreifend oder jahrgangsintern zu beurteilen, denn sie vergleichen überwiegend die Leistungen von Schülern mit denen anderer Schüler in der Klasse, d. h., sie orientieren sich an einem klasseninternen Bezugssystem und weniger an einem absoluten Bezugsmaßstab.

Auffällig und immer wieder in der Literatur erwähnt ist folgender Umstand: Lehrer, die bemüht sind, alle Schüler in ihrer Leistungsfähigkeit zu fördern, gehen meist davon aus, dass alle Schüler es schaffen, die ihnen angemessenen Lehrziele des curricularen Lehrplans zu erreichen. Existierende Leistungsunterschiede werden diagnostiziert und nicht als gegeben hingenommen. Diese Pädagogen versuchen konsequent, Leistungsschwächen zu beseitigen, und kommen damit dem Ziel des individuellen Diagnostizierens, Förderns und Forderns deutlich näher als diejenigen Lehrer, die Begabungsunterschiede als naturgegebene Invariante begreifen.

Helmke (2003, S. 89 f.) formuliert: „Warum Lehrerurteile nicht immer genau sein müssen“, und zitiert Weinert/Schrader (1986, S. 18 f.): „Lehrerdiagnosen während des Unterrichts brauchen im Gegensatz zu landläufigen Überzeugungen keineswegs besonders genau zu sein, wenn sich der Diagnostiker der Ungenauigkeit, Vorläufigkeit und Revisionsbedürftigkeit seiner Urteile bewusst ist. … Lehrerdiagnosen müssen sich nicht durch neutrale Objektivität, sondern durch eine pädagogisch günstige Voreingenommenheit auszeichnen. …

Als pädagogisch ungünstig müssen demgegenüber diagnostische Voreingenommenheiten von Lehrern angesehen werden, die häufig zu einer Überschätzung der Leistungsdifferenzen in der Klasse, zu einer Unterschätzung der individuellen Lernmöglichkeiten und zu einer subjektiven Erklärung von Misserfolgen durch mangelnde Begabung und von Erfolgen durch Zufall oder besondere Anstrengung führen.“

Scriptor Praxis: Diagnostizieren, Fordern und Fördern (6., überarbeitete Auflage)

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