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1.2 Optimales Lernen mit individueller Passung

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Die PISA-Studie hat unter anderem gezeigt, dass es in Deutschland eine im Vergleich zu anderen Ländern signifikant hohe Wechselwirkung zwischen Herkunftsmilieu und Schulerfolg gibt. Wer in Deutschland aus unteren Sozialschichten kommt, hat deutlich weniger Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss. Die Studie hat eindeutig gezeigt, dass es in den Schulen kaum gelingt, Unterschiede sozialer Herkunft in den vor- und außerschulischen Erfahrungen der Schüler im täglichen Unterricht auszugleichen.

Es gibt kaum ein anderes Land unter den PISA-Vergleichsländern, in dem die soziale Kopplung, also die Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft, so hoch ist wie in Deutschland (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 379–407). Diese hohe Korrelation hat sich auch in der letzten Pisa-Studie von 2018 nicht wesentlich geändert.

• Jeder zehnte Jugendliche verlässt in Deutschland die Schule ohne Abschluss.

• Sitzenbleiben, Zurückstellen und Aussortieren nach „Begabung“ erbringt keine Leistungsvorteile und damit auch keine höhere Bildung.

• Das Versagen der deutschen Schulen ist kein „Naturgesetz“.

Eine für uns Deutsche überraschende Feststellung ergibt sich aus dem internationalen Vergleich der PISA-Studien: Die möglichst große Homogenität der Lerngruppen, die durch die Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems immer wieder versucht wird herzustellen, bietet keineswegs die Garantie für individuell optimale Lernerfolge – im Gegenteil: Der internationale Vergleich zeigt eindeutig, dass in Ländern mit integrativen Schulsystemen die Chancengleichheit für Kinder aus allen sozialen Schichten höher ist!

In den skandinavischen Staaten, die ja bei den PISA-Studien durchweg gut bis sehr gut abgeschnitten haben, wird die Heterogenität von Lerngruppen sogar teilweise bewusst verstärkt – etwas, das einem traditionellen deutschen Gymnasiallehrer wohl eher Schauder über den Rücken laufen lässt. Aber auch in Deutschland zeichnet sich mittlerweile eine Tendenz ab: In vielen Bundesländern entstehen Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen oder Oberschulen. Hier werden alle Schüler – außer Gymnasialschüler – gemeinsam unterrichtet und das Abitur ist für alle ein möglicher Abschluss.

Wir formulieren daher folgende Ausgangsthese:

Bei gleichen Voraussetzungen entwickeln sich Schüler dann besser, wenn sie in heterogenen Regelklassen bleiben und situationsspezifisch in Gruppen differenziert werden, als wenn sie in einem dreigliedrigen System in separierten Klassen unterrichtet werden.

Jeder Lehrer kann die Schüler seiner Lerngruppe je nach Unterrichtssituation nach bestimmten Kriterien zu situativ wechselnden Gruppierungen zusammenfassen, wobei das Schulcurriculum und die Persönlichkeit des unterrichtenden Lehrers selbstredend sowohl Präferenzen als auch Grenzen festlegen.

Situationsspezifische Gruppendifferenzierung kann nach folgenden Kriterien erfolgen (vgl. im Einzelnen Paradies/Linser 2010, S. 26 ff.):

Gruppenbildung nach

1. Organisation und Zufall,

2. Lernvoraussetzungen,

3. Sozialformen,

4. Unterrichtsmethoden und -medien,

5. Unterrichtsinhalten,

6. Zielen.

Die situativ wechselnde Mischung aus Leistungsheterogenität und -homogenität ist einer der Gründe für das erfolgreiche Abschneiden der skandinavischen Schulsysteme bei internationalen Vergleichstests. (Nicht nur) aus der PISA-Studie lassen sich daher folgende Konsequenzen formulieren:

 Schule kann die schichtspezifischen Benachteiligungen ausgleichen.

 Schule kann Leistungsunterschiede verringern und zugleich ein hohes Durchschnittsniveau fördern.

 Das Zurückstellen und Sitzenbleiben von Schülern ist nicht nur unnötig, sondern nutzlos und teuer.

 Schule kann Kinder aus Migrantenfamilien erfolgreicher fördern und angemessen bilden.

 Geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen den Lernleistungen von Jungen und Mädchen sind nicht naturgegeben.

 Hohe Fachleistungen sind auch ohne Ziffernoten und zentrale Prüfungen erreichbar.

Diese Aussagen erfordern Veränderungen sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich: Nicht Aussortierung, sondern professionelle pädagogische Unterstützung und Förderung – so muss das Gebot der Stunde lauten. Sparmaßnahmen beeinträchtigen diese Forderung zwar in erheblichem Maße, aber das darf nicht bedeuten, dass damit alle Chancengleichheit passé ist. Daraus folgt:

 Es müssen umfassende und individualisierte Förderprogramme entwickelt und angeboten werden.

 Sprachförderung muss als Angebot für jeden, der sie benötigt, zur Verfügung stehen.

 Keine Aussortierung bei Leistungsdefiziten, sondern gezielte professionelle und individuelle Förderung ist geboten.

 Veränderte handlungsorientierte Unterrichtskonzepte können Leistungsunterschiede verringern.

 Lerndiagnosen und daraus abgeleitete gezielte Förderungen und Forderungen führen zu einem hohen Durchschnittsniveau.

So könnten sich daraus z. B. entwickeln:

 Konzepte zur Förderung der Sprachkompetenz bei Migranten,

 Vereinbarungen statt Verordnungen auf Schulträgerebene,

 Qualitätsentwicklung und -sicherung anstelle von bürokratischen Reglementierungen,

 Professionalisierung der Lehrerarbeit durch kontinuierliche Evaluation der jeweiligen Schulpraxis,

 eine lern- und entwicklungspsychologische Grundausbildung für alle Lehrer,

 regelmäßige Fortbildungen zur Stärkung der Diagnosefähigkeit, Interventions- und Förderkompetenz.

Als zweite Ausgangsthese formulieren wir:

Die Hauptursache für das schwache Abschneiden vieler Lernender ist die zu wenig ausgeprägte Diagnosekompetenz von Lehrern, denn werden Lernrückstände nicht erkannt, können sie auch nicht abgebaut werden.

Eine statistisch repräsentative Untersuchung über die Diagnosekompetenzen der deutschen Lehrer steht zwar noch aus, aber unsere eigenen Erfahrungen zeigen, dass sich die Diagnosekompetenz von Lehrern an deutschen Schulen kontinuierlich weiterentwickelt.

Lernen im Gleichschritt, im gleichen Lerntempo und mit für alle gleichen Rahmenbedingungen kommt nur einem kleinen Teil der Lerngruppe entgegen. Gleichgültig, wie weit der Abstand des jeweiligen Schülers vom vorgegebenen Lerntempo ist, die unterrichtlichen Inhalte erreichen ihn nicht mehr, und schon ein kleiner Lernrückstand reicht aus, um völlig den Anschluss zu verpassen. Wer einen Zug verpasst, bleibt auf dem Bahnhof zurück, gleichgültig, ob er zehn Sekunden oder zehn Minuten zu spät kommt. Lehrer sind aber keine Bahnhofsvorsteher, sondern eher Reiseleiter, und es gehört zu ihrer Aufgabe, jeden einzelnen Schüler möglichst weitgehend individuell zu unterrichten.

Es geht, um es an dieser Stelle ganz deutlich zu sagen, keineswegs darum, das Rad neu zu erfinden; denn gewiss verfügt jeder berufserfahrene Lehrer über ein angemessenes diagnostisches Instrumentarium. Lehrer beurteilen und bewerten ihre Schüler und deren Leistungen täglich, indem sie:

 loben und tadeln,

 mündliche und schriftliche Rückmeldungen geben,

 Tests, Klassenarbeiten und Klausuren bewerten,

 Noten- oder Berichtszeugnisse schreiben,

 über Versetzungen entscheiden,

 Schullaufbahnempfehlungen geben,

 Abschlüsse vergeben.

Um eine optimale Passung der Unterrichtsinhalte und -angebote an die Lernausgangslage von Schülern zu erreichen, sollte die tägliche Routine des Diagnostizierens, Förderns und Forderns aber zum bewussten, methodisch kontrollierten und transparenten Prozess weiterentwickelt werden.

Diagnosen können als Frühwarnsystem dienen, um rechtzeitig Präventionsmaßnahmen für lern- und entwicklungsgefährdete Schüler zu initiieren, zu planen und zu organisieren. Vorhandene Lern- und Leistungsprobleme können nur mithilfe von Diagnosekompetenzen erkannt, erfasst, benannt und behoben werden – als Mittel der Krisenintervention. Diagnosekompetenz bedeutet aber nicht nur, Diagnoseinstrumente kompetent handhaben zu können, sondern sie muss auch Antworten für die folgenden Fragen parat haben:

 Auf welcher Grundlage kann man überhaupt kompetent diagnostizieren?

 Wie reagiert man auf gewonnene Diagnoseergebnisse angemessen und förderlich?

 Was sind geeignete Arbeitsinstrumente und -mittel für das Diagnostizieren?

 Welche Handlungsspielräume hat man, um seine gewonnenen Erkenntnisse richtig und nachhaltig umzusetzen?

 Welcher Organisationsrahmen ist vorgegeben und welche Strukturen müssen berücksichtigt werden?

Unser Ziel ist ein höherer Grad an pädagogischer Professionalität bei der Lerndiagnose:

 keine künstlich (dienstlich vorgegebene) Aufblähung von Diagnosetätigkeiten, sondern eine qualitative Verbesserung,

 Entwicklung eines individuellen Beratungs- und Beurteilungssystems, Schärfung des diagnostischen Blicks auf Prozesse und deren Bedingungen.

Ziel sollte nicht die Selektion sein, sondern primär die individuelle Beratung und Förderung.

Diagnosen können in Bezug auf den Prozess, die Ergebnisse und die konstituierenden Bedingungen gestellt werden. Die daraus abgeleiteten Fördermaßnahmen (qualitative Verfahren) fördern besondere Begabungen, verringern Lerndefizite (unterschiedliche Diagnoseverfahren) oder zielen auf veränderte Verhaltensweisen (Lernstrategieentwicklung, Entscheidungskompetenzen). Diagnosen stellen keine endgültige Wahrheit dar, sondern bilden die Basis für Prognosen und Hypothesen, die immer wieder neu zu überprüfen und zu hinterfragen sind.

Besonders wichtig ist uns dabei der Zusammenhang von Beobachten, Diagnostizieren und Fördern. Gerade die Beobachtungskompetenz scheint in unseren Schulen im Argen zu liegen. Ohne eine intensive Beobachtung ist aber individuelle Förderung (und Forderung) nicht möglich. Wir wissen, dass die Herangehensweise an die Beobachtung einer Problemsituation bestimmt, wie sie gedeutet wird und welche Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung der Situation daraus entwickelt werden.

Wir werden alltagstaugliche Verfahren und Instrumente vorstellen, die wir entwickelt haben und mit deren Hilfe Lerndiagnostik unterrichtsbegleitend durchgeführt werden kann.

Die Basis bilden konkrete Lern- und Leistungsmerkmale auf drei Ebenen:

 inhaltlich/fachlich (Wissen, Verstehen, Erkennen, Urteilen),

 methodisch (Lernformen, Arbeitsformen, Gesprächsformen, Kooperationsformen),

 individuell (Anstrengungen, Lernfortschritte, individuelle Lernstrategien).

Auf dieser Grundlage gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Lernstandsmessungen:

 ergebnisorientiert (schriftliche Arbeiten, Lernkontrollen, Tests),

 prozessorientiert (Schülerbeobachtung, Schülergespräche, Schülerselbstbeobachtung),

 interaktionsorientiert („Trial-and-error-Verfahren“ und produktive Fehlerfahndung in beurteilungsfreien Situationen).

Auch dem Aspekt der Schülerselbstdiagnose und -selbstbeurteilung wird genügend Raum gegeben. Die Einbeziehung der Schülerselbstdiagnose in die schulische Praxis der Leistungsbeurteilung ist aus vielen Gründen geboten, schon um die Mündigkeit, aber auch um die Metakognitionen der Schüler zu fördern. Im Kern geht es dabei um eigenes Reflektieren der Schüler über Arbeits- und Lernprozesse und über Leistungen. Dabei sind das Führen von Berichtsheften, Lerntagebüchern und Portfolios in dialogischer Partnerschaft mit dem Lehrer bewährte Methoden, die durch Schülerporträts, Cluster und Lernplakate ergänzt werden, mit denen der Lernstand, das methodische Knowhow und die Lernstrategien eines Schülers ermittelt werden können.

Mithilfe dieser Instrumente und Verfahren wird das Lernen beschrieben, dokumentiert und bewertet:

 Leistungsbeschreibung (Zeugnisse, Lernentwicklungsberichte),

 Verhaltensbeschreibung (Lernverhalten, Sozialverhalten, Arbeitsverhalten, Individualverhalten),

 Berichte und Gespräche (Schüler, Eltern, Kollegen).

Auf dieser Grundlage wird dann eine Diagnose gestellt, die sich auf folgende drei Bereiche beziehen kann:

 Lernprobleme (Leistungen unterhalb der tolerierbaren Abweichungen von verbindlichen institutionellen, sozialen und individuellen Bezugsnormen, Unterschreiten des Minimalstandards),

 Lernbegabung (Leistungen oberhalb der Bezugsnormen, spezielle Begabungen, Hochbegabung),

 Lernverhalten (Persönlichkeitsentwicklung, personenbezogene Aspekte).

Im nächsten Schritt werden die auf der Diagnose aufbauenden Förderkonzepte dargestellt. Die daraus resultierenden Fördermaßnahmen folgen in ihrer Systematik der grundlegenden Dreiteilung:

 Förderkonzepte für Lernprobleme (Maßnahmen: Förderpläne, -programme, -unterricht),

 Förderkonzepte für Lernbegabungen (Maßnahmen: Begabungs-, Talent-, Hochbegabungsförderung),

 Förderkonzepte zum Lernverhalten (Maßnahmen: z. B. Lernvermeidungsstrategien abbauen).

Chancen und Grenzen des Diagnostizierens sollen evaluiert und Gütekriterien entwickelt werden.

Scriptor Praxis: Diagnostizieren, Fordern und Fördern (6., überarbeitete Auflage)

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