Читать книгу Scriptor Praxis: Diagnostizieren, Fordern und Fördern (6., überarbeitete Auflage) - Johannes Greving - Страница 8
1.1 Vorbemerkung
ОглавлениеDie damalige schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave forderte in einem Beitrag in der Zeitschrift „Stern“ vom 20.7.2006 (S. 52), jedes Kind müsste von der Schule individuell gefördert werden. Sie kündigte an, dass in einem neuen Schulgesetz daher festgehalten werden solle, dass die Schulen einen individuellen Lernplan für jedes Kind erstellen müssten, in dem genau festgehalten werden solle, was die Lücken und Schwächen sind, falls das Klassenziel absehbar nicht erreicht wird. Sie definierte, dass dieser Lernplan ein Vertrag zwischen Lehrer, Eltern und Schülern sei, der unterschrieben und überprüft werden soll.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich an den Schulen vieles verändert. Diagnostizieren, Fordern und Fördern ist mittlerweile zum Alltagsgeschäft für uns Lehrer geworden – trotzdem sind die Situationen und Bedingungen in den Schulen nicht immer so, dass wir wirklich jeden Schüler individuell begleiten können. Die Praxis zeigt, dass vor allem bestimmte Schülerinnen und Schüler innerhalb einer Lerngruppe, die aus verschiedenen, eher offensichtlichen Gründen besonderen Förderbedarf haben, gezielte Förderung außerhalb oder innerhalb des Unterrichts erhalten. Dazu gehören z. B. die Hochbegabten oder Kinder mit Funktionsstörungen.
Bis zur Selbstverständlichkeit der Forderung und Förderung für alle ist der Weg aber noch weit, denn die Rahmenbedingungen sind noch lange nicht so, dass dies für jede Schülerin und jeden Schüler gewährleistet werden kann.
Warum müssen Lehrer überhaupt diagnostizieren, fördern und fordern? Auf diese einfache Frage sind zwei sehr unterschiedliche Antworten möglich:
Weil wir Lehrer dazu dienstlich verpflichtet sind, es also in dieser Beziehung einen klaren Rechtsanspruch an uns gibt;
weil alle internationalen Schulvergleichsstudien eindeutig gezeigt haben, dass integrative Schulsysteme, in denen differenziert diagnostiziert und – darauf aufbauend – individuell gefördert und gefordert wird, unserem deutschen Schulsystem in vielerlei Hinsicht überlegen sind.
Wir sind davon überzeugt, dass diese Aufgabe eine echte Chance für die notwendige Reform unserer „Leistungsschule“ bietet und mittelfristig sogar zu unserer eigenen Entlastung und zu größerer Zufriedenheit führen wird.
Häufig ist nämlich nicht die Förderung der Schüler die Grundlage unterrichtlichen Handelns, sondern die Erfüllung bestimmter normierter Ansprüche, die vom Lehrer eingefordert werden. Fordern in diesem Sinne bedeutet Funktion, Erfüllung einer Dienstpflicht, Feststellung einer vorgeschriebenen Zahl von Leistungsnachweisen; es bleibt eine Amtshandlung ohne wirkliche Berücksichtigung der zu unterrichtenden Schüler.
Ein Unterricht, in dem das bequeme Ermitteln von Ziffernnoten zum bestimmenden Prinzip geworden ist, verliert schnell den Schüler als Individuum aus den Augen. Auf diese Weise verhindert man eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit in der Schule, der Schüler lernt nicht, was in ihm steckt und was er daraus machen könnte, sondern nur, was er im Augenblick gerade machen muss.
Der Dreischritt Diagnostizieren, Fördern und Fordern bedeutet in unseren Augen:
1. eine Sache aus ihren Merkmalen heraus begründend erkennen und unterscheiden (diagnostizieren),
2. verlangen, dass etwas oder jemand hervorkommt (fordern) und
3. etwas oder jemanden weiter nach vorne bringen (fördern).
Um dies zu erreichen, braucht man Motivation, Anschaulichkeit, Transparenz. Anders ausgedrückt heißt dies auch, sich als Lehrer selbst zu fordern und damit den Schülern ein Beispiel zu geben, wie man – von sich ausgehend – Leistung entwickeln kann.
Forderungen an die Schüler müssen immer auf ihren pädagogischen Sinn hin überprüft werden, also sollten sich die Themen, Texte oder Aufgabenstellungen in einer Schulaufgabe nicht an dem orientieren, was seit Jahren an dieser Schule zu diesem Zeitpunkt in einer bestimmten Jahrgangsstufe gestellt wird, sondern an dem, was sich aus der Interaktion im eigenen Unterricht – bei vergleichbarem Schwierigkeitsgrad versteht sich – ergibt. Ein solches Verfahren ist zwar zeitaufwändiger und fordert vom Lehrer mehr Engagement, bringt die Schüler andererseits aber wesentlich besser voran.
Auch Hausaufgabenstellungen verlieren ihren pädagogischen Wert, wenn sie nicht auf die Schüler zugeschnitten sind. Das hier Geforderte muss auch machbar sein, ohne zu über- oder zu unterfordern. Wer bereit ist, seine Schüler der Kategorie von Köpfen zuzuordnen, die eine Einsicht gewinnen, wenn es ihnen entsprechend dargeboten wird, der sollte sich auch nicht scheuen, für eine gute Anleitung diesbezüglich Sorge zu tragen.
Schopenhauer fordert hierbei wie in der Erziehung vor allem eine klare Begrifflichkeit, ohne die alle pädagogischen Bemühungen vergeblich seien. Zu denken gibt auch die Antwort des Antisthenes (griechischer Philosoph der Antike). Auf die Frage, was am notwendigsten zu erlernen sei, hob dieser hervor, das Schlechte soll verlernt werden (vgl. Schopenhauer 1977, S. 682 ff.). Demnach wäre eines der wichtigsten erzieherischen Anliegen die Förderung der Schüler durch die Forderung, selbst zu denken, also zu lernen durch Anschauung in der Realität und durch Reflexion.