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Die Entzauberung des Schicksals
ОглавлениеDie Moderne nimmt nun das Schicksal mehr und mehr in die eigene Hand. Um beim Beispiel Krankheiten zu bleiben, bei denen der Mensch früher dem Tod geweiht war – sie folgen heute einer simplen Gleichung: Diagnose plus Therapie ist gleich Heilung.
Der Fortschritt nimmt dem Schicksal das Geheimnisvolle. Jede Entdeckung, jede Erfindung lüftet vor allem in der Medizin den Vorhang der Unkenntnis und nimmt die Angst vor kosmisch gesteuerter Unbill. Was die Moderne allerdings nicht in den Griff bekommt, sind die sich anbahnenden Schicksalsschläge, die von der Umwelt ausgehen.
Unser größter Schatz in dieser Hinsicht ist der Sozialstaat. Er ist eine Art kollektive Versicherung gegenüber allem Versicherbarem, mit dem das Schicksal die Gesellschaft und ihre Individuen behelligen kann.
Der Sozialstaat hat eigentlich nicht unbedingt mit »roter« Politik zu tun, vielmehr lebt er nach einem größeren Sinn und höheren Zielen. Gerechtigkeit. Sicherheit. Gemeinsamkeit. Vor allem aber lebt er auch von jenem Wohlstand, der mitunter die Umwelt belastet. Er lebt von den Steuern der Ökonomie und letztlich von einigen Paradoxien, die der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk so formuliert: »Es werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum, Freizeit, Reisen und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit im Recycling-Prozess resorbieren lassen. Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und neue Fairnessregeln domestiziert werden könnten.«
Krankheit, Umweltverschmutzung und hemmungsloser Egoismus also. Der Sozialstaat lebt somit auch von Gedanken, denen Gier zugrunde liegt, und Gedanken werden zu Schicksal. Es ist die gedankliche Gier, die die Welt schicksalhaft in den Abgrund stürzt, autofrei und klassenlos wird da nichts ändern. Wir müssen die Gedanken ändern, um aus dieser Falle zu entkommen, den Sozialstaat auf ein neues Fundament stellen. Sonst bringt uns unsere Versicherung vor schweren Schicksalsschlägen ebensolche.
Zudem bleibt da immer ein Aspekt des Schicksals, gegen den wir uns mit nichts versichern können: die schicksalhafte Veränderung der Zeit.
Den höheren Rhythmus der Geschichte, die Neuformierung der Welt kann niemand aufhalten. Alles geht in diesem Zyklus seinen logischen, vorhergesehenen Gang. Wie beim Kreislauf von Werden und Vergehen. »Ob einer Persönlichkeit Raum gelassen wird, entscheidet allein das Zeitalter, in das sie geboren wird. Man kann zu früh, aber auch zu spät zur Welt kommen. Die Epoche, in die wir hineingeworfen sind, hämmert und meißelt uns«, formulierte der Wiener Jurist und Autor Tassilo Wallentin einmal.
Vor vierzig Jahren wäre Donald Trump nicht US-Präsident geworden, heißt das zum Beispiel. In zwanzig Jahren würde Angela Merkel nicht mehr frohgemut in die Hände klatschen und versprechen: »Wir schaffen das!« Die Beatles würden heute keine Castingshow gewinnen.