Читать книгу Die Anatomie des Schicksals - Johannes Huber - Страница 9
Kraft zur Veränderung
ОглавлениеOb abwendbar oder nicht. Es gab immer wieder Denkrichtungen und Bestrebungen, die eine Vermutung äußerten: Vielleicht kann man ja doch etwas machen. Das ist eine jahrtausendalte Geschichte im Weisheitsschatz der Menschheit. Der Zweifel am Determinismus und der Glaube an die aktive Veränderung.
Die Antike konzentrierte sich dabei auf Schicksalsschläge des Einzelnen.
Ich. Kann. Etwas. Tun.
Oder eben nicht.
Die Oder-eben-nicht-Variante können wir bei Ödipus und Odysseus nachlesen, die ein schicksalhaftes Fatum vorhergesagt bekamen. Die Weissagung der Sphinx für Ödipus war: »Du wirst deinen Vater ermorden und deine Mutter heiraten.« Und tatsächlich, was immer er tat, da fuhr die Eisenbahn drüber, es kam genau wie vorhergesagt.
Im Detail, wen’s interessiert, geht die Geschichte so: Laios, König von Theben, ist im Streit mit König Pelops. Das Orakel von Delphi weissagt ihm: »Wenn du einen Sohn zeugst, wird er dich töten und deine Frau heiraten.« Laios’ Frau Iokaste willigt ein, den Neugeborenen zu töten. Und das nicht gerade gnadenvoll: Füße durchstechen, zusammenbinden, und von einem Hirten im Gebirge aussetzen lassen. Der Hirte aber hat Mitleid. Er übergibt den Knaben dem Königspaar Polybos und Merope von Korinth. Sie nennen ihn Ödipus, was so viel wie Schwellfuß bedeutet.
Ödipus wächst auf, ohne seine Herkunft zu kennen. Als er erfährt, nicht der leibliche Sohn seiner Eltern zu sein, wendet er sich an das Orakel von Delphi. Das weiß ja bekanntlich alles.
Er erfährt: »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter zur Frau nehmen.« Ödipus schüttelt den Kopf, Orakel sind manchmal so penetrant melodramatisch, denkt er, schauen wir einmal. Er bricht auf nach Theben, um das Vorausgesagte zu verhindern. Auf dem Weg gerät er in Streit mit dem Fahrer eines Wagens, der ihn seiner Ansicht nach zu arrogant behandelt. Er erschlägt ihn und damit seinen leiblichen Vater. Erster Teil der Prophezeiung erfüllt.
Vor Theben überwindet Ödipus eine Sphinx, die vorzugsweise Reisende verschlingt. Er löst ein Rätsel, das sie ihm aufgibt, woraufhin sich die Sphinx vom Felsen stürzt. Da Theben nun von dieser Plage befreit und der alte König tot ist, wird Ödipus zur Belohnung zum neuen König ernannt. Und er heiratet seine Mutter. Zweiter Teil erfüllt. Weder sie noch er wissen von ihrem Verwandtschaftsverhältnis.
Die Tragödie reflektiert das Unvermögen des Menschen, sein Schicksal voraussehen zu können.
Es ist, als würde das Schicksal uns Scheuklappen anlegen und sagen: Was links und rechts ist, braucht dich nicht zu interessieren, du kannst mir nicht entkommen. Deswegen werden furchtbare persönliche Schicksalsschläge auch heute noch mit einer griechischen Tragödie verglichen.
Ähnlich bei Odysseus. Die düstere Vorhersage lautete: »Wenn deine Krieger die heiligen Kühe des Gottes sowieso schlachten, dann wirst du nur alleine und unter großen Opfern wieder Hellas erreichen.« Und prompt, so war es. Odysseus‘ Krieger haben sich zwar redlich bemüht, die Kühe nicht zu schlachten, aber sie waren auf der Insel des Sonnengottes Helios gestrandet und hatten so einen furchtbaren Hunger, dass die Rindviecher letzten Endes dran glauben mussten. Während Odysseus schlief, ging die Vorsehung in Erfüllung.
Es war nicht anders möglich, so war die alte, antiquierte Definition. Es geht nicht anders. Was kommen soll, kommt. Von oben. Egal, was du tust. Du kannst rennen in deinem Hamsterrad, zappeln in deinem Käfig oder meditieren für bessere Tage. Tja, Pech, das Drehbuch ist längst geschrieben.
Auch bei der Odyssee geschah alles wie vorhergesagt. Ein vom zornigen Zeus losgesandter Orkan zerstört sein Schiff, Odysseus strandet bei Kalypso und wird für sieben Jahre ihr Geliebter, weshalb er sehr stark verzögert nach Hause kommt. Weil er so lang weg war, hat seine Frau Penelope ihn für tot gehalten und, als er wieder erscheint, auch nicht gleich erkannt. Um sie herum hat sich ein Schwarm von Freiern angesammelt, die er alle tötet. In Hollywood wäre das der Showdown vor dem Happy End. Hier nicht. Odysseus herrscht wieder auf Ithaka und stirbt schließlich, weil einer seiner Söhne, Telegonos, ihn nicht als seinen Vater erkennt und im Streit mit einem Speer aufspießt. Typisch griechische Tragödie.
Du kannst in den Trojanischen Krieg ziehen, zehn Jahre auf Irrfahrt gehen, gegen einen menschenfressenden Riesen kämpfen, dir von singenden Sirenen den Kopf verdrehen lassen, dich mit Todesqualen und blutdurstigen Seelen in der Unterwelt herumschlagen, aber das Schicksal holt dich ein. Es holt dich immer ein. Das ist die Botschaft.