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Es sind nicht die Gene
ОглавлениеSchicksal ist kein Synonym für Erkrankung oder Katastrophe, für Desaster oder Tod. Es muss sich nicht unbedingt um etwas Furchtbares handeln, damit es Schicksal genannt werden kann. Auch wenn wir uns das im Sprachgebrauch so angewöhnt haben, Schicksal ist nicht per se negativ. Es haftet ihm nicht a priori etwas an, womit man im Leben nichts zu tun haben will.
Das Schicksal kann uns auch auf der Sonnenseite des Lebens einquartieren. Wir sehen zum Beispiel in Familien, wie ähnliche Schicksale in Form von ähnlichen Begabungen weitergegeben werden. Da sind Musikerfamilien beispielhaft, wir kommen später im Kapitel »Der Strauss-Faktor« dazu. So viel vorweg: Es zeigt, dass da irgendetwas gewesen sein muss, irgendetwas, das diese musikalische Begabung gefördert hat.
Früher hätte man gesagt: Es sind die Gene.
Heute weiß man: Gene spielen eher eine untergeordnete Rolle. Doch was nun erkennt die Biologie als neue schicksalhafte Kräfte?
Als Bill Clinton im Juni 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündete, vermutete man, die Schicksalhaftigkeit der Gene entdeckt zu haben. Allerdings merkte man bald, dass es hinter dem genetischen Code noch einen anderen gibt, nämlich den epigenetischen. Er bestimmt sozusagen darüber, welche Gene unser Organismus wie stark benutzt. Er kann Gene zum Beispiel stilllegen oder aktivieren und damit über unsere Gesundheit, unser Glück und damit unser Schicksal mitbestimmen.
Der epigenetische Code hat mit elektrischen Ladungen zu tun und entfaltet weitreichende Wirkungen, die seit seiner Entdeckung Forscher und das interessierte Publikum gleichermaßen faszinieren, und die ich bereits in meinem Buch Der holistische Mensch – Wir sind mehr als die Summe unserer Organe beschrieben habe.
Ein Beispiel: Wenn Weinbauern Pestizide verwenden, schädigen sie damit ihre eigenen Keimzellen. Bekommen sie Kinder, geben sie diese Schädigungen an sie weiter. Das heißt, dass ihre Kinder Pestizid-Schäden haben, selbst dann, wenn sie keine einzige Stunde im Weingarten verbringen. Selbst dann, wenn die Weinbauern ihre Kinder unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigeben.
Der genetische Code steht somit für ein unabänderliches Schicksal, der epigenetische aber für ein veränderbares, negativ wie auch positiv, denn klarerweise lassen sich auch positive epigenetische Prägungen vererben. Was bedeutet: Ein gutes Leben schlägt Wellen in den uns nachfolgenden Generationen, ein schlechtes tut es ebenfalls. Wir beeinflussen diesen epigenetischen Code zum Beispiel durch unsere Ernährung, durch Krankheiten und durch unseren Lebensstil.
Eine Weile galt die Epigenetik sogar als die große und einzige Komponente im Bereich der biologischen Übertragung von organischen und auch psychischen beziehungsweise seelischen Faktoren von einer Generation auf die nächste. Doch dann entdeckte die evolutionäre Entwicklungsbilologie die stille, schicksalhafte Macht der dunklen DNA und der microRNA.
Was bedeutet der Begriff »dunkle DNA«, der klingt, als würde er uns in ein geheimnisvolles Reich entführen – und das zu Recht?
Um ihn zu verstehen, müssen wir wissen: Nur ein ganz kleiner Teil unserer DNA ist für die Proteine verantwortlich, aus denen wir bestehen. Es gibt auch in der DNA so etwas wie im Weltall, nämlich dunkle Materie. Nur ein kleiner Teil des Universums ist greifbare Materie. Die dunkle Materie, die wir nicht sehen, die aber extreme Bedeutung hat, ist in der Überzahl.
In der DNA besteht die dunkle Materie aus langen Sequenzen, von denen lange niemand wusste, wieso sie eigentlich da sind. Aus denen nichts abgelesen zu werden schien, kein Protein. Und die dennoch mehr als neunzig Prozent der Gesamt-DNA bilden. Nur ein kleiner Teil unseres Erbfadens wird transkribiert, der große Teil schien nichts wert zu sein, Junk-DNA eben.
Mittlerweile hat die Wissenschaft belegt, dass dem nicht so ist.
Wenn nötig, greift der Körper, wie von magischer Hand, auf diese nicht abgelesenen Junk-DNA-Stücke zurück und macht aus ihnen RNA-Stücke. Plötzlich sind die Nichtsnutze etwas wert. Auf einmal haben sie eine Funktion, eine, die vorher gar nicht da war. Mit einem Mal ist da eine neue Möglichkeit des Überlebens.
Ein Beispiel aus der Biologie: Durch die Erderwärmung ändert sich die Fruchtbechergeometrie bei Pflanzen. Genau dort, wo der Nektar enthalten ist. Die Distanz zur Pflanzenoberfläche wird größer und der Fruchtbecher verändert sich, schließt sich praktisch, um den Nektar besser vor der Wärme zu schützen. Mit der Zeit orientieren sich die Insekten daran und passen sich an. Sie bekommen längere Rüssel. Dafür ist wahrscheinlich die Junk-DNA mitverantwortlich. Ihr Organismus holt aus ihrer nicht abgelesenen DNA plötzlich etwas wie aus einem Zauberhut hervor und daraus entsteht etwas Neues.
Ein anderes Phänomen, das wundersam erscheint, aber gar nicht wundersam ist: In der Natur gibt es Bakterien, die Glucose nicht abbauen können. Wenn man diese Bakterien allerdings über lange Zeit in glucosereiches Material gibt, dann tun sie, was sie nie konnten, nämlich Glucose abbauen. Sie greifen auf ein schwarzes Energieloch in ihrer DNA zurück.
Das alles ist Anpassung, das ist Evolution.
Ein Beispiel, das sich so in der Geschichte der Menschheit abgespielt haben oder theoretisch noch abspielen könnte: Eine Hungersnot bricht aus. Wir, die Menschheit oder zumindest ein Teil davon, können uns plötzlich nicht mehr ernähren. Nun liest unser Körper die dunkle Gen-Materie ab und wird dort fündig: Er bringt ein Enzym hervor, mit dessen Hilfe wir Dinge verdauen können, die wir bisher nicht verdauen konnten.
Die dunkle Gen-Materie hat in der Menschheitsgeschichte zweifellos schon die wertvollsten Dienste geleistet. Wer weiß, was sich dort noch alles an Bauplänen befindet. Sie ist ein Schatz an allem, das Menschen schon einmal waren und das sie noch werden können. Und selbst, wenn wir uns noch nicht einmal die Frage stellen, wie all diese stille Information in die DNA gelangt ist, wer sie dort hineingeschrieben hat, bildet sie eine geheimnisvolle Welt voller Abenteuer für die Forschung, die besonders deutlich macht, was für ein großartiges Wunder alles Leben ist.
Einen völlig neuen Aspekt brachte eine Erkenntnis über die Viren in unserem Genom. Sie sind die längste Zeit ruhiggestellt, aber wenn es der Teufel will, und unser Körper etwas braucht, was nur die Virus-DNA hervorbringen kann, dann schaltet er dieses Fremd-DNA-Gut ein. Und dieses Virus-Genom bildet dann plötzlich ein Virus-Protein, weil es dem Körper hilft, sich an eine bestimmte Situation anzupassen. Wobei das Ganze für uns auch schiefgehen kann. Virus-DNA kann auch Krebs erzeugen, wenn sie ohne Erlaubnis abgelesen wird. Früher sagte man: Das ist zufällig, das ist schicksalhaft. Mitnichten. Da sind einfach Kräfte am Werk, die wir bisher nicht kannten.
Womit wir beim dritten Punkt sind, der microRNA. Bei diesen winzig kleinen RNA-Stücken, die der Körper nicht hervorbringt, um ein Protein zu bilden, sondern um regulativ in die Gene einzugreifen. Es geht um Anpassungskontrolle. MicroRNA, das sind sozusagen die kleinen Männchen, die die Evolution steuern und die das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie als »mächtige Winzlinge« bezeichnet.
Mächtig sind sie deshalb, weil sie darüber mitbestimmen, welche unserer Gene zum Einsatz kommen. Sie können Gene aktivieren oder stilllegen. Stilllegen zum Beispiel kann gut sein, wenn sie dabei ein Gen nehmen, das uns für eine bestimmte Krankheit prädestiniert, und es kann schlecht sein, wenn es eins ist, das uns besondere Leistungen, körperliche oder auch musische oder mathematische, ermöglichen würde.
Nehmen wir das Laufen.
Wenn wir laufen, glaubt unser Körper aufgrund urzeitlicher Prägungen, dass wir auf der Flucht sind. Deshalb stellt er mithilfe der microRNA neue Vernetzungen im Gehirn her. Wozu? Weil auf der Flucht zu sein für unseren Körper bedeutet, bedroht zu sein. Von jemandem verfolgt und möglicherweise angegriffen zu werden. Weshalb er Maßnahmen ergreift, um unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, besser gesagt: um unsere neurologischen Möglichkeiten, aufmerksam zu sein und Angreifer frühzeitig zu bemerken, zu verbessern. So ganz nebenbei sind diese Vernetzungen auch eine wunderbare Prävention gegen Alzheimer. Daran sind die Steinzeitmenschen zwar noch nicht erkrankt, weil sie dafür nicht alt genug wurden, aber es funktioniert trotzdem.
Die Forschung hat das Wirken der microRNA inzwischen weitgehend entschlüsselt. Sie regelt die Aktivität einer Vielzahl von Genen gleichzeitig. Beim Menschen scheinen mehr als sechzig Prozent aller Gene durch microRNAs beeinflusst zu werden. Rund siebzig Prozent der bekannten microRNAs befinden sich im Gehirn. Sie steuern dort wie im Beispiel mit dem Laufen die Aktivität vieler wichtiger Gene, und sie beeinflussen unter anderem die Struktur, Funktion und Verknüpfung von Nervenzellen. Sie haben auf diese Weise auch enorme Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Intelligenz, auf unser Bewusstsein.
Auch unser Befinden beeinflussen sie und bieten so Schutz vor Depressionen. Wissenschaftler des Max-Planck-Weizmann-Labors für experimentelle Neuropsychiatrie und Verhaltensneurogenetik haben die Aufgabe von microRNAs in Nervenzellen untersucht, die Serotonin produzieren – also jenen Botenstoff, der Appetit, Schmerzempfinden oder Gefühlsregungen beeinflusst und der gemeinhin als Glückshormon gilt. Die Forscher haben dabei eine spezielle microRNA identifiziert, die im Gehirn und im Blut von depressiven Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden in geringeren Mengen vorkommt.
Die mächtigen, schicksalhaft wirkenden Winzlinge microRNA, auch das hat die Forschung herausgefunden, sind davon abhängig, in welchem Zustand wir sie von unseren Eltern übernommen haben, aber auch davon, was um uns selbst herum geschieht, welchen Umweltfaktoren wir ausgesetzt sind, was wir eben so erleben. Schicksal, das wir selbst in der Hand haben, ähnlich wie die schicksalhaften epigenetischen Prägungen. Was wir denken, was wir fühlen und was wir tun, das zeigt auch die evolutionäre Entwicklungsbiologie anhand der microRNA, das geht weit, sehr weit, generationenweit über die unmittelbar sichtbaren Effekte davon hinaus.
Die Übertragung der microRNA durch unsere Vorfahren auf uns kann dabei ebenso Fluch wie Segen sein, je nachdem, wie sehr diese Vorfahren im Einklang mit ihrer Umwelt, mit ihrer ganzen Umgebung und mit sich selbst gelebt und damit ihre microRNA geformt haben. Wir profitieren von dem, was sie gut gemacht haben, und es spukt durch unser Leben, was sie schlecht gemacht haben.
Doch auch hier bleibt das Schicksal wandelbar. Wir können es durch unseren eigenen Lebensstil korrigieren. Und gleichzeitig erhalten Lebensregeln, wie sie uns etwa die Heilige Schrift mitgibt, eine ganz neue, biologische, holistische Bedeutung. Sie in ihrem ursprünglichen Sinn zu befolgen, so könnte man das sehen, bedeutet, die Biologie des Lebens und damit die Anatomie des Schicksals von nicht weniger als der Menschheit an sich positiv zu beeinflussen.
Da ist übrigens noch etwas, was man erst seit Kurzem weiß: Die DNA, der Erbfaden, hat eine extrem gute Leitfähigkeit. Eine bessere Leitfähigkeit als der Draht für den Strom. Das heißt, es könnte drinnen, im Haus der Gene, Strom fließen. Lebensenergie. Was das bedeutet, muss erst erhellt werden. Ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet sich uns da.
Ein interessanter Bogen, der sich neuerdings über das Schicksal spannen lässt. Und da ist noch mehr.
Wir werden in den folgenden Kapiteln auch noch sehen, wie sehr das Immunsystem mit dem Gehirn kommuniziert und für Dinge sorgt, die wir in Unkenntnis als schicksalhaft bestimmt, abgehakt und hingenommen haben. Heute wird das durch die neu erkannten Mechanismen verständlicher.
Vorweg ein Beispiel, das zunächst ganz banal klingt: Menschen, die sich öfter im Wald aufhalten und sozusagen gute Luft atmen, sind psychisch ausgeglichener.
Ach, werden Sie sagen, wirklich? Wissenschaftlich gesehen ist Erfahrung gut, aber noch kein Grund, Dinge als bewiesen anzusehen. Ganz genau weiß man nämlich nicht, warum Bäume so gut für uns sind.
Die Forschung hat dazu Daten von 45.000 Stadtbewohnern ausgewertet: Angaben zur Wohnungssituation, zur Nähe von Grünanlagen und zu psychischen Erkrankungen. Ergebnis: Am besten wirkten sich Bäume auf das seelische Wohlbefinden aus. In Nachbarschaften von Stadtwäldern ist das Risiko von Erwachsenen, unter psychischen Problemen zu leiden, um fast ein Drittel geringer als in Gegenden mit weniger Bäumen. Auch der allgemeine Gesundheitszustand ist in der Nähe von Bäumen besser. Wiesen oder andere Grünflächen aus Büschen und Sträuchern haben diese Wirkung laut der Studie dagegen nicht.
Warum sich Bäume so positiv auswirken, ist, wie gesagt, nicht ganz klar. Ein einfacher Teil der Antwort ist sicher der Schatten, den sie spenden. Schon etwas spekulativer ist die größere Biodiversität von Bäumen im Vergleich zu Wiesen. Ein Forscherteam aus Dänemark hat jedenfalls herausgefunden, dass Kinder, die mit Natur aufwachsen, als Erwachsene zu 55 Prozent seltener psychisch erkranken als Gleichaltrige, die ohne Grün lebten.
Es muss also etwas in der Luft sein, das uns zufrieden macht oder unruhig werden lässt. Dabei könnte das Immunsystem seine Wirkung entfalten. Es registriert die Ruhe auf dem Land und die Hektik in der Stadt und gibt das an das Gehirn weiter. Das Immunsystem steht in ständigem Dialog mit der Außenwelt und auch mit dem Gehirn. Alles, was passiert, hat Auswirkungen. Gute, schlechte, wie auch immer. Unsere Umwelt bestimmt so, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, was wir tun, wie wir denken. Wie wir sind.
Das Schicksal liegt also auch in der Umwelt, die wir unsererseits beeinflussen. Im Umfeld, in dem wir uns bewegen. Es liegt in dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten. Das Immunsystem wacht über unsere Begegnungen, auch mit der Umwelt, und bietet uns nicht nur Schutz, sondern verändert Emotionen und Denkmuster im Gehirn.
Das Schicksal ist sinnlich.
Wir machen es selbst.
Diese Erkenntnisse könnten wunderschön sein, schon weil sie naturwissenschaftlich belegen, dass Gutes im Sinne etwa von Respekt vor der Umwelt Gutes bewirkt. Sie sind aber auch besorgniserregend angesichts der Respektlosigkeit, mit der wir die Natur behandeln. Denn in diesem holistischen System, in dem alles mit allem zusammenhängt, drängt sich eine bange Frage auf: Wie wird, wenn wir uns nicht rasch und gründlich ändern, dieses von uns selbst hervorgerufene Schicksal uns und die nächsten Generationen noch bestrafen?