Читать книгу Licht und Schatten - Johannes Kunz - Страница 10
ОглавлениеMeine Mutter Ilse Beck mit neun Jahren 1928 in Aussig.
Aufgewachsen ist meine Mutter in Aussig an der Elbe. Inklusive der Vororte zählte Aussig damals rund 70.000 Einwohner. Diese etwas schmutzige Kleinstadt zwischen Erzgebirge im Norden und dem Elbetal im Süden war nicht besonders schön, hatte keine attraktive Altstadt und keine Sehenswürdigkeiten, aber doch Atmosphäre. Die junge Ilse Beck erlebte das Idyll ihrer Kindheit so: »Man konnte die geographische Lage Aussigs aus wirtschaftlichem Aspekt geradezu als ideal bezeichnen. Es lag an der Elbe, die ein ganz wichtiger Verkehrsweg zwischen Böhmen und Hamburg war. Der Elbehafen wurde zu einem regen Umschlagplatz für überseeische Güter, die über Hamburg auf dem Wasserweg hierher kamen. Es war immer ein Erlebnis für mich, wenn ich als Kind an der Hand meiner Nuni, unserem Kinderfräulein, mit dem mich ein sehr herzliches Verhältnis bis zu ihrem Tod verband, an der Elbe spazieren ging und die großen Schiffe und die riesigen Berge von Kokosnüssen sah, die da ausgeladen wurden. Diese Kokosnüsse, deren Milch wir so gern tranken, wurden in den Schicht-Werken zu Ceres, einem Kunstfett, das zum Ausbacken verschiedener Köstlichkeiten sehr beliebt war, verarbeitet. Ebenso wichtig war die Bahnlinie, die von Wien über Prag und Dresden nach Berlin führte, sowie eine weitere zum Elbehafen nach Hamburg. Diese Vorteile der geographischen Lage ermöglichten und förderten das Entstehen von Betrieben, die Aussig zu einer Industriestadt werden lassen konnten.
Entscheidend für die industrielle Entwicklung war aber der Unternehmungsgeist der ›Kohlenbarone‹ Weinmann und Petschek, der weitverzweigten Familien Schicht, Wolfrum und Hübl, um nur einige zu nennen, denen Aussig Wohlstand und zahlreiche soziale Einrichtungen verdankte. Stiftungen wie die Lungenheilanstalt, das Blindeninstitut, die Stadtbibliothek, das Wöchnerinnenheim, Kindergärten, Schulen und Bäder waren und sind zum Teil heute noch Zeugen der Großherzigkeit und sozialen Gesinnung dieser Familien.
Ohne diese großzügigen Förderungen wäre Aussig eine unbedeutende Provinzstadt geblieben. Eben diese oben erwähnten Familien bauten sich prachtvolle Villen, zum Teil durch elegante Auffahrten zu erreichen, von weitläufigen Parks umgeben, die nicht nur ein attraktives Stadtbild schufen. Der kultivierte Lebensstil brachte auch ein reges gesellschaftliches Leben mit sich.
In einer der schönsten Straßen, in der es keine Geschäfte gab, nur Villen und Gärten, in der Baumgartenstraße 9, hatte mein Vater ein großes Haus gemietet, das für viele Jahre unser Heim war und noch heute mit allen Eindrücken und Erinnerungen aus der Kindheit und frühen Jugend auf das Engste verknüpft ist. Der kleine Garten vor dem Haus, der von einem Hausbesorger und dessen Frau auf das Sorgsamste gepflegt wurde, mit weißen und lila Fliederbäumen, einer Reihe Mandelbäumchen hinter einem schmiedeeisernen Zaun und dem Kastanienbaum, dessen rote Kerzen zur Blütezeit in mein Mädchenzimmer leuchteten, war in den Sommermonaten eine kleine Welt für mich. Hier führte ich meine Puppen in ihrem Wagen spazieren, lutschte den Honig aus den Fliederblüten und hockte – die Welt vergessend – mit einem Buch unter einem Baum.«
Im Elternhaus meiner Mutter, das von einer Köchin und einem Stubenmädchen in Schuss gehalten wurde, befand sich im Hochparterre ein holzgetäfeltes Speisezimmer. Von diesem führte eine Tür auf eine mit wildem Wein bewachsene kleine Terrasse. Eine Schiebetür führte in den Salon mit einem Flügel, an dem sich meine Mutter stundenlang austobte, und von da kam man in das behagliche Herrenzimmer mit Kamin und unendlich vielen Büchern. Das war das Refugium des Bankdirektors Beck, der viele gesellschaftliche Verpflichtungen hatte. Oft kamen Gäste. Aber auch abgesehen von beruflichen Terminen führten die Eltern meiner Mutter, somit meine Großeltern, auch privat ein großes Haus. Der Bruder meiner Großmutter, Robert Hage, war Direktor der Nationalbank in Reichenberg und häufig mit seiner Frau zu Besuch. Er sollte Jahre später das Kapital der Reichenberger Nationalbank in letzter Minute vor den Nazis retten. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme, die anlässlich solcher Besuche diskutiert wurden, interessierten meine Mutter zu jener Zeit kaum, doch hörte sie da das erste Mal den Namen Adolf Hitler. Es war die Rede von Berlin, wo angeblich an Geschäftstüren, Parkbänken und Lokalen Aufschriften angebracht waren, auf denen stand: »Juden unerwünscht!«. Meine Mutter verstand das alles (noch) nicht, aber schon bald sollte sie persönlich mit der brutalen Realität des Antisemitismus konfrontiert werden. Schließlich entstammte mein Großvater einer jener deutsch-jüdischen Familien, von denen es hieß, sie wären die besten Deutschen gewesen. Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass sie die deutsche Kultur wesentlich gefördert und unterstützt haben.
Der Urgroßvater meiner Mutter war übrigens Brauereidirektor in Pilsen. Vielleicht habe ich meine Vorliebe für böhmisches Bier von ihm geerbt. Ein anderer Vorfahre meiner Mutter war Arzt und hat als solcher am bosnischen Feldzug teilgenommen. Für besondere Verdienste in diesem Zusammenhang hat man ihm die Baronie angeboten, was er jedoch mit der Begründung ablehnte, er habe nur seine Pflicht als Arzt getan. Später war er einer der angesehensten Gynäkologen, in dessen Prager Praxis Frauen aus verschiedenen Teilen der Monarchie oder sogar aus dem Ausland kamen.