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5 Familie Beck überstehtden Zweiten Weltkrieg

In dieser Zeit, so erzählte meine Mutter, habe die Isolation, das Ausgestoßensein, genau das Gegenteil dessen bewirkt, was beabsichtigt war, nämlich Abwertung und Erniedrigung. Ihr Selbstbewusstsein, das infolge der ihrer Generation zuteil gewordenen mehr oder weniger autoritären Erziehung nicht besonders ausgeprägt gewesen sei, habe sich zu ihrer eigenen Überraschung enorm gesteigert. Sie ging hoch erhobenen Hauptes durch die Stadt, in dem Bewusstsein, im Recht zu sein und dass das, was ihr und ihresgleichen geschah – von Juden oder Andersdenkenden gar nicht zu reden – gröbstes Unrecht war. Das hat ihr geholfen: »Was aber nicht heißt, dass wir ein normales Leben führten. Wenn ich ›wir‹ sage, meine ich damit meine Familie und meinen Freundeskreis. Es war der Beginn von sieben Jahren Angst. Wir waren, wenn auch mit stark eingeschränkten Rechten, noch geduldet, es war uns aber vollkommen klar, dass wir an der Reihe waren, sobald die Juden liquidiert waren. Wir sogenannten ›Mischlinge‹ und die sogenannten ›Mischehen‹. Wir hatten Angst vor jedem neuen Tag, vor jedem Radio- oder Zeitungsbericht, der ja neue Maßnahmen verlautbaren könnte, wir zitterten um unsere Existenzmöglichkeit und unsere Wohnung, sobald es an der Tür läutete. Man konnte abgeholt, in ein Gefängnis oder KZ geschickt werden, weil man von irgendjemandem denunziert worden ist, der sich einen Bonus verschaffen wollte. Man war absoluter Willkür ausgesetzt. Und wer hätte uns schon geglaubt, wenn es zu einer Anzeige gekommen wäre? Wie berechtigt diese Ängste waren, sollte sich nur zu bald herausstellen.«

In der Tat wurde das Heim meiner Familie schon bald mit dem Argument requiriert, es sei zu groß und stehe ihr nicht zu. Die Postdirektion benötige das Haus und werde es bereits nach dem bevorstehenden Weihnachtsfest beziehen. Mit Glück gelang es meiner Mutter, mit ihrer Mutter und Großmutter eine andere Wohnung zu finden. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Walter, sah unter den gegebenen Umständen keine Chance, bei den Schicht-Werken weiterzukommen oder gar Karriere zu machen. Er wollte weg und suchte angestrengt nach einem Wirkungskreis in anderer Umgebung. Er ging schließlich nach Wien, wo einer seiner Jugendfreunde verlässliche Mitarbeiter für seine Erzeugung landwirtschaftlicher Maschinen suchte. Onkel Walter war begeistert. Er kam in eine große Stadt, bekam neue, interessante Aufgaben und fand sofort, nicht zuletzt durch das Reiten (nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er erfolgreich als Spring- und Dressurreiter an internationalen Turnieren teil), das er sofort aufnahm, Zugang zu einer Gesellschaft von netten, aufgeschlossenen, fröhlichen Menschen, für die der Nationalsozialismus überhaupt kein Thema war. Begreiflicherweise empfand er das als Wohltat und konnte sich eine akzeptable Existenz aufbauen. Später folgten ihm meine Mutter und Großmutter nach Wien nach.

Diese Schilderung meiner Mutter ist insofern bemerkenswert, als zu dieser Zeit auch Österreich längst dem Deutschen Reich einverleibt war. Aber offenbar waren die Lebensbedingungen für »Mischlinge« in Wien besser als in Aussig oder Prag.

Vor seiner Abreise nach Wien Anfang 1939 hatte sich Onkel Walter noch sehr intensiv darum bemüht, von den berechtigten Ansprüchen seiner Mutter nach dem Tod ihres Mannes eine kleine Rente herauszuholen. Das brachte keinen Erfolg, sodass die finanzielle Lage der Familie ziemlich prekär wurde. Man lebte von der Rente der Großmutter. Den Wunsch, in Stockholm zu studieren, hatte meine Mutter nach dem Tod des Vaters sofort ad acta gelegt. Erstens war das Geld dafür nicht vorhanden und zweitens konnte und wollte sie meine Großmutter nicht allein lassen. In dieser Situation bekam sie die ultimative Aufforderung, dem Arbeitsamt bekannt zu geben, was und so sie arbeitet. Also ging sie aufs Neue auf Jobsuche. Das Ergebnis war vorhersehbar. Die sudetendeutschen Unternehmer trauten sich nicht, ein junges Mädchen ohne Ariernachweis auch nur als Lehrling anzustellen, und eine tschechische Druckerei, bei der meine Mutter ihr Glück versuchte, bedauerte und meinte, sie könne sich keine Angestellten mehr leisten und werde ohnedies über kurz oder lang schließen müssen.

Da sie keine Beschäftigung nachweisen konnte, drohte ihr die Verschickung zu einer Wehrmachtsabteilung nach Griechenland, der sie durch Vortäuschung akuter Gallenbeschwerden entkam. Man schickte sie statt nach Griechenland nach Hause – mit der Auflage, sich nach vier Wochen wieder beim Arbeitsamt zu melden und eine Beschäftigung nachzuweisen. Nun ergab es sich, dass Onkel Walter beim Aufarbeiten der Akten meines Großvaters eine Briefmarkensammlung gefunden hatte, die sehr viel Platz beanspruchte, was in der neuen, viel kleineren Wohnung ein Problem darstellte: »Wir beschlossen, die Sammlung vom Vater eines ehemaligen Mitschülers, der in Aussig ein Briefmarkengeschäft betrieb, begutachten zu lassen, da wir nichts davon verstanden. Es erwies sich, dass das Objekt nicht gerade ein Eckhaus wert war, aber gut verkäuflich, und da wir jeden Pfenning, wie das jetzt bei uns hieß, brauchen konnten, ließen wir sie gleich dort. Bei der anschließenden Unterhaltung erkundigte sich Julius Kunz (zufällige Namensgleichheit, keine Verwandtschaft mit meinem späteren Mann) bei Walter nach mir, und der erzählte ihm, in welcher Klemme ich momentan sitze. Da eine seiner Angestellten in Kürze heiraten wollte, schlug Herr Kunz vor, ich sollte an ihre Stelle treten. Damit hätte ich das Arbeitsamt aus dem Kopf. Ich könne mich so lange mit den Marken spielen, bis ich etwas gefunden hätte, das mir mehr zusagt. Herr Kunz lebte in einer sogenannten Mischehe, er kannte also die Probleme. So kam ich zu den Briefmarken, mit denen ich mich befasste, anfreundete und denen ich – abgesehen von unfreiwilligen Unterbrechungen – bis zum Ende meiner Berufstätigkeit treu blieb.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt meine Mutter als Auktionatorin der Firma Julius Kunz in Wien als eine international anerkannte Philatelistin. Später übte sie diese Tätigkeit sehr erfolgreich auch in Deutschland aus. Und nach ihrem Tod 2009 fand ich in ihrem Nachlass eine Briefmarkensammlung, die bei der Versteigerung in einem renommierten Schweizer Auktionshaus einige Tausend Euro erbrachte.

Jetzt hatte sie also einen Beruf gefunden, der sie erfüllen sollte. Und doch gab es nach Gründung des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren immer neue Schreckensmeldungen, Ängste und Probleme. Eine Freundin meiner Mutter lebte jung verheiratet in Pressburg. Ihr Mann, der die gegen die SS kämpfenden Partisanen mit Lebensmitteln versorgte, wurde erschossen, sie selbst eingesperrt. Sie hatte keine Ahnung, was aus ihrem einjährigen Sohn geworden war. Nach einem halben Jahr wurde sie entlassen, musste tagelang verzweifelt ihr Kind suchen, bis sie es endlich bei einem alten Bauern fand, der es zu sich genommen hatte. Und meine Mutter erfuhr, dass ihr Onkel Oskar, der Bruder meines Großvaters, abgeholt und in ein Uran-Bergwerk gebracht worden war. Seine Wohnung, die unter Denkmalschutz stand, war konfisziert und ausgeraubt, seine Frau auf die Straße gesetzt worden. Nicht lange danach bekam die Tante meiner Mutter ein Telegramm mit der Nachricht, dass ihr Mann an einer Angina gestorben sei. In Wahrheit haben ihm die Gase in dem Bergwerk die Lunge zerrissen. Gleichzeitig erhielt erwähnte Tante Emmi eine Vorladung zur Gestapo, der sie in Trauerkleidung, wie das üblich war, Folge leistete. Man riss ihr den Schleier herunter und ließ sie für einige Tage einsperren, bis alle Wertgegenstände der Familie beschlagnahmt waren. In diesen Tagen brachte man ihr in einem Blechnapf das Essen in die Zelle mit dem Zuruf: »Da haben Sie Ihren Dackel!«

Der von meiner Mutter verehrte Schuldirektor Hugo Lebenhart hatte längst sein Haus in Aussig verlassen und war mit Frau und Sohn in seine Geburtsstadt Prag gezogen. Er war konfessionslos, seine arische Frau, ebenfalls eine Mittelschulprofessorin, war bei ihrer Verheiratung den zukünftigen Schwiegereltern zuliebe zum jüdischen Glauben übergetreten. Eine verhängnisvolle Entscheidung, weil dadurch ihr Sohn als Volljude galt. Aber wer konnte in den frühen 1930er-Jahren ahnen, welche Konsequenzen das haben sollte! Der nicht nur bildhübsche, sondern auch außergewöhnlich begabte, musische Bub (er spielte vorzüglich Geige) wurde zwei Wochen vor Weihnachten, an seinem 14. Geburtstag, abgeholt und in ein KZ nach Norddeutschland verfrachtet. Man hat nie wieder von ihm gehört, konnte sich sein Schicksal jedoch vorstellen. Kaum aber das Leid der Eltern, das übertraf wohl jede nur mögliche Vorstellungskraft.

Durch Kinobesuche versuchte sich meine Mutter abzulenken, soweit dies möglich war. Sie sah Filme mit Hans Moser, Paul Hörbiger, Theo Lingen oder Willi Forst. Und sie verschlang unzählige Bücher, vor allem Klassiker von Stefan Zweig oder Thomas Mann. Sie hörte die alten Schallplatten der Eltern, darunter waren sämtliche Richard-Tauber-Aufnahmen. Auch begann sie, Gedichte zu schreiben und Aphorismen zu sammeln. In ihren Aufzeichnungen ist viel davon die Rede, wie die tschechische Intelligenz von den Nazis unterdrückt wurde.

Am 28. Oktober 1939, dem tschechischen Nationalfeiertag (Gründung der Republik), kam es zu Demonstrationen mit einem Todesopfer. Wenige Tage danach wurde die Beerdigung des Todesopfers Auslöser für Studentenunruhen, welche zum Anlass für die Schließung der tschechischen Universitäten und höheren Lehranstalten genommen wurde. Akademiker wurden ihres Postens enthoben, später mit anderen Angehörigen von Intelligenzberufen in Konzentrationslager abtransportiert. Die Arbeiter wurden weit besser behandelt, da diese in der Industrie gebraucht wurden. Etwa 100.000 Juden wurden zunächst nach Theresienstadt verschickt, einen kleinen Ort in Nordböhmen mit einer ehemaligen Festung, die zu einem KZ für Juden umfunktioniert worden war, von den Nazis als »Stadt für die Juden« bezeichnet, um die Welt zu täuschen.

Am 1. September 1939 erfuhr meine Großmutter aus dem Radio vom deutschen Überfall auf Polen. Zwei Tage später erklärten Großbritannien und Frankreich Hitler-Deutschland den Krieg, nachdem ein Ultimatum zur Einstellung der Kampfhandlungen unerfüllt geblieben war. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.

Im Juni 1941 vernahm meine Mutter aus dem Radio, dass deutsche Truppen in Richtung Moskau marschierten. Sie konnte es nicht glauben, hatten sich doch bisher alle inklusive Napoleon an Russland die Zähne ausgebissen. Der Eintritt der USA in den Krieg intensivierte die Kampfhandlungen weiter.

Entwickelte sich das politische Geschehen auch noch so dramatisch, privat stand eine große Veränderung im Leben meiner Mutter bevor: »Dann stand eines Tages Franz Kunz vor der Tür. Er musste nicht mehr ständig in Brünn sein, sondern pendelte zwischen Brünn und Aussig hin und her. Wir hatten uns lange nicht gesehen, aber ich erkannte sofort, dass etwas passiert war, bat ihn herein und fragte, was geschehen sei. Er hatte Tränen in den Augen und sagte ganz leise, als wolle er es nicht aussprechen, nicht in Worte fassen, dass man seine Mutter nach Theresienstadt gebracht hatte. Der Vater lebte schon lange nicht mehr, die Mutter galt als Jüdin, und als Witwe hatte sie nicht mehr den Schutz, den die jüdischen Teile in Mischehen noch genossen. Ich war erschüttert. Von da an sahen wir uns öfter, meine Mutter hatte ihn aufgefordert, zu uns zu kommen, wenn er sich einsam fühlte. Ich glaubte, dass er sehr gern kam und es ihm guttat, wenn er sich bei uns aussprechen konnte.«

Ein paar Jahre später heirateten die beiden. All die Aufregungen und Kriegswirren lösten bei der Großmutter meiner Mutter im Oktober 1943 einen Schlaganfall aus. Im Februar 1944, wenige Tage nach ihrem Geburtstag, folgte ein zweiter Schlaganfall. Tags darauf starb sie.

Eine Einladung von Onkel Walter nach Wien brachte etwas erfreuliche Abwechslung in das triste Leben in Aussig. Meine Mutter erinnerte sich an zwei wunderbare Aufführungen in der Staatsoper. Später ist das Opernhaus bombardiert worden. Zurück in Aussig, kam die niederschmetternde Nachricht, dass die Briefmarkenfirma Julius Kunz – wie viele andere »nicht kriegswichtige Betriebe« – schließen müsse. Inhaber und Angestellte wurden zum Kriegsdienst eingezogen.

Auf Weisung der Gestapo kam meine Mutter in ein Arbeitslager nach Lobositz an der Elbe. Franz Kunz besuchte sie dort zweimal wöchentlich. Er drängte meine Mutter zur Heirat, die auf dem Standesamt am 21. Dezember 1944 stattfand. Eine kirchliche Trauung war nicht möglich, da das Aufgebot drei Wochen aushängen musste, meine Mutter aber von der Gestapo nur zwei Tage für die Hochzeit und drei Tage für Weihnachten zugestanden erhielt. Die Bürokratie in der katholischen Kirche schien unüberwindbar. Die »Hochzeitsreise« meiner Eltern führte in einen kleinen Ort südlich von Prag. Die Weihnachtstage 1944 wurden in Aussig verbracht. Erst jetzt, nach ihrer Eheschließung, konnte meine Mutter bei der Gestapo um Versetzung nach Aussig ansuchen. Und am 3. Jänner 1945 trat sie ihren Zwangsarbeitsdienst beim Aussiger Werk der Schering AG an. Sie konnte nun zu Hause mit Mutter und frischgebackenem Ehemann wohnen.

Licht und Schatten

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