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Оглавление3 | Deutscher Einmarschim Sudetenland |
Ihre erste Begegnung mit jungen Nazis hatte meine Mutter 1933 in Aussig, als sie gerade 14 Jahre alt war: »Es wurde in der Schule hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, und schließlich schrieben die Zeitungen darüber. Der Sohn des Direktors, der damals in die achte Klasse ging, sollte angeblich an dem sogenannten ›Volkssport‹ beteiligt gewesen sein. Ich konnte mir darunter überhaupt nichts vorstellen. Für mich konnte Volkssport nur etwas wie Fußball, Faustball oder Ähnliches bedeuten. Nun handelte es sich, wie ich bald erfuhr, aber nicht um einen körperlich betriebenen Sport, sondern man bezeichnete damit nationalistische Agitationen, die darin bestanden, dass kampflustige Jünglinge in der Dunkelheit Hakenkreuze an Wände, Auslagenscheiben etc. schmierten, Flugblätter mit nationalen Parolen verteilten sowie Tschechen und Juden provozierten, was besonders zwischen tschechischen und deutschen Studenten in Prag ein beliebter ›Sport‹ war. Natürlich waren derartige Umtriebe verboten und wurden bestraft, wenn man die Täter erwischte. Viele nahmen diese ›Lausbübereien‹, ›Dummheiten‹ oder ›Bubenstreiche‹ nicht ernst, ich erinnere mich aber sehr gut, dass es auch zahlreiche warnende Stimmen gab. Wie wir heute wissen, war es die Einleitung zu einer bösen Entwicklung, deren Ausmaß sich in jener Zeit kaum jemand vorstellen konnte.«
Bald nach Schulschluss fuhr die ganze Familie meiner Mutter meistens an einen österreichischen Alpensee. Das war einmal der Wörthersee, ein anderes Mal der Millstätter See oder Altaussee, das fast zu einer zweiten Heimat meiner Mutter wurde. In diesen Sommertagen als Teenager lernte sie Österreich lieben. Und als sie am 13. März 1938 im Radio von der Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen hörte, weinte sie bitterlich und konnte es nicht fassen, dass es kein Österreich mehr geben sollte.
Mein Onkel Walter Beck 1933 in Aussig.
Zu dieser Zeit lernte meine Mutter ihren späteren Mann, meinen Vater Franz Kunz, kennen. Er hatte den Dienst beim tschechischen Militär geleistet, die Offiziersschule besucht und war in seiner feschen Uniform ein allseits bekannter Blickfang. Bei einer Übung explodierte ein Schrapnell, und das Geschoß hatte sich nach rückwärts anstatt nach vorne entladen und ihm den rechten Arm, seinem Nachbarn den linken Fuß weggerissen.
Mittlerweile verdüsterte sich der politische Himmel über der Tschechoslowakei. Nationalismus und Antisemitismus hitlerischer Prägung warfen nicht nur ihre Schatten über die Grenze, sondern traten bereits deutlich merkbar in Erscheinung. Seit 1933 gab es eine »Sudetendeutsche Heimatfront« (SHF), welche »die Zusammenfassung aller Deutschen in diesem Staate, die bewusst auf dem Boden der Volksgemeinschaft und der christlichen Weltanschauung stehen«, bildete. Konrad Henlein, ein 1898 im böhmischen Maffersdorf geborener Turnlehrer, war Führer der SHF, die sich 1935 in Sudetendeutsche Partei umbenannte. Er wollte »die demokratischen Grundformen und den bestehenden tschechoslowakischen Staat« anerkennen, aber die sudetendeutschen Interessen vertreten und verteidigen. Die Sudetendeutsche Partei wurde 1935 zur zweitstärksten politischen Kraft in der Tschechoslowakei. Nach 1936 wurde sie zunehmend von NS-Funktionären unterwandert. Henlein, der schon vor dem Anschluss des Sudetenlandes am 1. Oktober 1938 die Autonomie der Deutschen in der Tschechoslowakei gefordert hatte, wurde nach dem Münchner Abkommen Reichsstatthalter des Sudetengaus.
Das Schüren der Emotionen und Aversionen zwischen Tschechen und Deutschen hat natürlich nicht zu einem besseren Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen beigetragen. Die Tschechen reagierten auf Henlein teils aus Angst, teils aus Nationalismus, erinnert sich meine Mutter: »Eine dieser Reaktionen betraf auch meinen Vater. Der hatte in der von ihm geleiteten Böhmischen Industrialbank deutsche Beamte, darunter einen seit vielen Jahren bei ihm tätigen Prokuristen und einen schon alten Bürodiener, der eine Art Vertrauensposition in der Bank einnahm. Ich glaube mich zu erinnern, dass es Ende 1935 oder Anfang 1936 war, da wurde dieses Bankhaus mit einer tschechischen Bank in Prag fusioniert, und man verlangte von meinem Vater, diese beiden Deutschen zu entlassen und an ihrer Stelle Tschechen einzustellen. Mein Vater weigerte sich, seine langjährigen, verdienten Mitarbeiter zu entlassen und an ihrer Stelle Tschechen einzustellen. Diese Weigerung nahm man zum Anlass, ihm das Leben beziehungsweise die Zusammenarbeit so unangenehm und schwer zu machen, dass er ein Jahr später von sich aus kündigte.«
Mein Großvater baute jetzt ein Versicherungsbüro auf, das zunächst sehr gut ging. Währenddessen genoss meine Mutter ihre ersten Bälle und rüstete sich zum schulischen »Endspurt« in Richtung Matura. Das letzte Schuljahr 1937/38 brach an. Politisch wurde die Situation immer angespannter. Aus Deutschland kamen beängstigende Nachrichten für meine Familie. Man hörte, wie die Juden dort behandelt wurden, dass es Konzentrationslager gab, in die Andersdenkende gesteckt wurden, und der Freundeskreis meiner Mutter merkte zusehends, wie sich die nationalen Gegensätze auch in der Tschechoslowakei verstärkten. Manche sprachen schon von Krieg, andere, besonders Juden, die die Verfolgung ihrer Glaubensgenossen in Deutschland mit zunehmender Besorgnis betrachteten, erwogen, das Land zu verlassen, konnten oder wollten es aber nicht glauben, dass es tatsächlich in der Tschechoslowakei so weit kommen könnte.
Jetzt ging alles sehr schnell. Nach bestandener Matura absolvierte meine Mutter mit Freundinnen ihre erste Reise ohne Eltern. Es ging nach Dalmatien ans Meer. Dort erfuhren die jungen Leute durch Lektüre des »Prager Tagblattes« von den Kriegsvorbereitungen Hitlers. In der Heimat versuchte mein Großvater, existenziell zu überleben. Meine Mutter erkannte, in welche Zange er geraten war: »Kein Tscheche wollte in dieser Situation etwas mit einem Deutschen zu tun haben, die deutsch-jüdischen Familien befanden sich bereits im Aufbruch nach den USA oder in ein anderes Ausland, und Deutsche jüdischer Abstammung kamen eo ipso nicht infrage.
Die Stimmung in Aussig war ähnlich der in Prag, endlose Gespräche mit Freunden und Gleichgesinnten, alle befanden sich in Hochspannung, und niemand wusste, was er tun sollte. So ging es auch mir. Man riet mir von allen wohlmeinenden Seiten, erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Man befürchtete nach wie vor, dass es doch zu einem Krieg kommen könnte, und bezeichnete die Ära als ›Böhmischen Krieg‹. Ich spielte mit den Briefmarken, die mein Vater noch nicht in seiner Sammlung untergebracht hatte, wusch die Marken, sortierte sie nach einem Katalog, wobei ich jede einzelne oft lange suchen musste, und klebte sie schließlich in das Album. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Spielerei einmal mein Beruf werden könnte.«
Die Hysterie strebte ihrem Höhepunkt entgegen, jeden Tag kam es zu irgendwelchen Zwischenfällen zwischen Tschechen und Deutschen. Jugendliche schrien meiner Mutter »Heil, Fräulein!« ins Gesicht, wobei sie ihr den rechten Arm entgegenstreckten. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Walter, sicherte mit seinem Arbeitseinkommen die Familie Beck, so gut er konnte, wirtschaftlich ab. Meine Mutter fuhr mit ihrer Mutter nach Prag, wo der Vater jetzt beruflich tätig war. Hier war die Atmosphäre inzwischen immer schwüler geworden. Täglich hörte man von neuen Verhandlungen, aber es kam nie zu einer Lösung. Die tschechische Bevölkerung drängte auf eine Mobilmachung. Zugleich war strengste Verdunkelung angeordnet worden. Das betraf nicht nur die Straßenbeleuchtung. Es durfte auch kein Lichtschein aus den Fenstern der Häuser dringen. Dort, wo Licht angezündet wurde, mussten die Fenster mit dunklem Papier verklebt werden, und auf der Straße durfte man nur ganz schwache, zu Boden gerichtete Taschenlampen benützen. Es war, wie meine Mutter erzählt, gespenstisch und sah sehr nach Krieg aus: »Da kam am 28. September 1938 die Nachricht, dass sich am nächsten Tag, dem 29. September, der britische Premierminister Chamberlain, der französische Ministerpräsident Daladier, Hitler und Mussolini in München treffen werden. Auf einmal schlug die Stimmung um, man glaubte, weil man glauben wollte, an eine Lösung der Probleme, Rettung der Tschechoslowakei und des Friedens. Das erwies sich aber als Irrglaube, als tödlicher Irrtum. Das Schicksal der Tschechoslowakei war längst besiegelt. Mit ihrer Zustimmung zur Abtretung des sogenannten Sudetengebietes haben die Westmächte (Verbündete der Tschechoslowakei!) die Zerstörung des Staatsgefüges ermöglicht, den Staat seiner Lebensfähigkeit beraubt und Hitler in den Rachen geworfen. Nachdem die Hoffnung auf die Unterstützung durch die Alliierten sinnlos geworden war, ließ Beneš die Mobilisierung abblasen, da ein Kampf des kleinen Reststaates wegen der Übermacht der deutschen Kriegsmaschinerie zu einem unvorstellbaren Blutbad geführt hätte und nicht nur unzumutbar, sondern auch sinnlos gewesen wäre.«
Eduard Beneš (1884–1948) war mehr als 30 Jahre der prägende tschechische Politiker. Einst Mitarbeiter von Masaryk, dem Begründer des tschechoslowakischen Staates nach Ende der Donaumonarchie, versuchte Beneš als Außenminister von 1918 bis 1935 die internationale Position der jungen Republik durch Verträge mit Jugoslawien, Rumänien, Frankreich und der Sowjetunion zu stärken. 1935 war er mit den Stimmen der Nationalen Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten zum Präsidenten gewählt worden. Nach dem Münchner Abkommen und der Abtretung des Sudetenlandes musste Beneš zurücktreten. Im Zweiten Weltkrieg war er dann Präsident der Exilregierung, und nach dem Krieg wurde er wieder Staatspräsident.
Nach Ansicht meiner Mutter lagen die Wurzeln dieses Münchner Abkommens, das über den Kopf der Hauptbeteiligten geschlossen wurde, sowohl bei den Tschechen wie bei den Deutschen: »Die Tschechoslowakei war eine Demokratie, in der Freiheit und Menschenrechte einen hohen Stellenwert hatten. Nur in nationalen Fragen wie dem Wunsch der deutschen Minderheit nach Autonomie blieb die Regierung, teilweise aus Ressentiments, zu lange taub. Dadurch wurden die Sudetendeutschen eine allzu leichte Beute des Nationalsozialismus, anstatt sich dem Staat gegenüber, dessen Bürger sie waren, loyal zu verhalten.
Die Sudetendeutschen ließen sich von der Propaganda blenden, ohne diese als solche zu erkennen und ohne zu überlegen, wem sie sich da anschlossen, sondern ließen sich von einem diktatorischen, menschenverachtenden Regime und dessen Vertretern für deren größenwahnsinniges Vorhaben missbrauchen. Dabei stand alles in ›Mein Kampf‹. Man hätte es nur lesen müssen! Ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite gelesen.«
In den letzten Septembertagen des Jahres 1938 glich Prag einem riesigen Friedhof. Ein Staat wurde zu Grabe getragen. An allen Straßenecken der Innenstadt waren Lautsprecher angebracht, welche die beschlossene Abtretung des Sudetengebietes an Hitler-Deutschland verkündeten. Um diese Lautsprecher herum standen Menschentrauben, Tschechen und Deutsche, die weinten. Meine Mutter stand bei ihnen und weinte mit. Als mein Großvater von diesem »Abkommen« hörte, reagierte er mit der Prophezeiung: »Das muss zu einem Krieg in Europa führen, und der wird fürchterlich enden!« Er hatte recht, wiewohl er damals noch nicht ahnen konnte, dass ein Weltkrieg daraus entstehen würde. Die Situation meiner Großeltern und meiner Mutter wurde nun immer prekärer: »Eines Abends berichtete unser Onkel Frank, er sei im ›Deutschen Haus‹ – einem bekannten Restaurant und zu jener Zeit Versammlungsplatz der Deutschnationalen – gewesen, um die neuesten Nachrichten zu erhalten. Onkel Frank war Jude, aber mit seinem Berliner Akzent fiel es ihm nicht schwer, an die Nachrichten heranzukommen. So erfuhr er von Verbindungsleuten zu Berliner Nazi-Kreisen, dass auch die Rest-Tschechoslowakei in Kürze kassiert werden sollte. Genau in diese Tage fiel eine Begebenheit, die ich nie vergessen habe und nie vergessen werde. Eine meiner Freundinnen und ehemalige Mitschülerin, Irmgard, die aus einer deutschnational ausgerichteten Familie stammte, schrieb mir nach Prag einen seitenlangen Brief des Inhalts, dass sich an unserer Freundschaft nichts ändern werde, was auch geschehen mag. Sie bedauerte, dass ich in diese Situation geraten war, und bot mir ihre Hilfe an, wann immer ich ihrer bedürfen würde. Das alles hat sie nicht nur geschrieben, sondern auch gemeint und in bewundernswerter Weise gehalten!«
Mein Großvater bestand nun darauf, dass die übrige Familie nach Aussig zurückkehrt, um die dortige Wohnung nicht zu verlieren. Im Falle längerer Abwesenheit wäre das Haus samt Einrichtung konfisziert worden, da die Mitglieder der Familie Beck dann als Flüchtlinge gegolten hätten. Der Großvater wollte sich inzwischen in Prag nach einer ständigen Wohnung umsehen, und sobald er eine solche gefunden hätte, sollte der Rest der Familie zurückkommen. So wurde es verabredet und so trennte man sich.
Die weitere Abfolge der politischen Ereignisse ist bekannt: Am 1. Oktober 1938 marschierten deutsche Truppen in das Sudetenland ein. Und ein paar Monate später, am 15. März 1939, wurde die Rest-Tschechoslowakei liquidiert. Es kam zur Errichtung des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren.