Читать книгу Licht und Schatten - Johannes Kunz - Страница 20
ОглавлениеEines Tages ging ich als kleiner Bub in ein Elektrogeschäft in der Döblinger Hauptstraße, das neben Glühbirnen, Kofferradios, Batterien und Kabeln auch ein paar Schallplatten feilbot. Unter diesen wenigen Platten, die im Angebot des kleinen Ladens waren, fand ich eine Scheibe mit Louis Armstrong und seinem Orchester: »When The Saints Go Marching In« in einer Aufnahme vom 13. Mai 1938 war auf der einen Seite dieser Single – auch ein für die damalige Zeit neuer Begriff, schließlich waren meine Eltern noch mit Schellacks aufgewachsen – zu hören. Diesen Traditional kannte ich natürlich schon aus dem amerikanischen Soldatensender. Auf der Rückseite befand sich eine Aufnahme von »Bye And Bye« vom 18. Dezember 1939. Ich legte also mein sorgsam angespartes Taschengeld auf den Ladentisch und erwarb die erste Jazzplatte meines Lebens, die ich nach wie vor sorgsam hüte und zu der sich im Laufe der Jahrzehnte eine Sammlung von Platten, Jazz-CDs und Jazz-Videos gesellt hat. Und so war ich Wiener Nachkriegskind glücklich und stolz, zwei Armstrong-Titel, die hierzulande noch ein paar Jahre zuvor unter den Nazis geächtet gewesen wären, auf Schallplatte mein Eigen zu nennen.
Zu dieser Zeit – als Kind nahm ich daran natürlich noch nicht Anteil – hatte sich in Wien bereits so etwas wie eine Jazzszene entwickelt. Im Strohkoffer, einem Clublokal, gab es Ausstellungen, Lesungen und Jazzabende. Hier konnte man zum Beispiel Friedrich Gulda und Joe Zawinul solo oder vierhändig am Klavier erleben. Und auch der Name Fatty George war der ständig steigenden Zahl von Wiener Jazzfreunden bereits ein Begriff. Dieser Klarinettist und Altsaxofonist, der eigentlich Franz Preßler hieß, hatte am Konservatorium und an der Musikakademie studiert, ehe er ab 1945 in amerikanischen Clubs spielte, dann nach Deutschland ging, 1952 in Innsbruck Fatty’s Jazz Casino eröffnete und ab 1955 wieder in Wien spielte. Hier sollte er ab 1958 Europas größtes Jazzlokal jener Zeit, Fatty’s Saloon, etablieren.
Schon bald nach Kriegsende war es zu den ersten großen Wien-Gastspielen amerikanischer Jazzgrößen gekommen. Von einigen dieser Konzerte aus den 1950er-Jahren gibt es sogar Live-Mitschnitte auf Schallplatte und mittlerweile auch auf CD, was dem rührigen Klaus Schulz, dem profundesten Chronisten des österreichischen Jazz, zu verdanken ist. So gastierte am 18. November 1954 der Vibrafonist Lionel Hampton im Wiener Konzerthaus. Einige Monate zuvor war der Klarinettist Woody Herman mit seinem Orchester in Wien. In den Folgejahren machte in Wien alles Station, was im Jazz Rang und Namen hatte: Ella Fitzgerald, Oscar Peterson, Gene Krupa, Dizzy Gillespie, Roy Eldridge, Stan Kenton, Count Basie, Benny Goodman, Duke Ellington, Miles Davis, John Coltrane, Nat King Cole, Quincy Jones und Stan Getz. Ein besonderer Höhepunkt war ein Konzert des Trompeters Harry James mit Big Band in einem Zelt auf dem Wiener Messegelände für 8000 Menschen am 20. Oktober 1957. Dieses Konzert geriet – nicht zuletzt durch eine Liveübertragung im neuen Österreichischen Fernsehen – zu einem so fulminanten Erfolg, dass die Band noch für ein paar Tage an die Renaissancebühne verpflichtet wurde. Mit dabei war der großartige Drummer Buddy Rich, der Jahrzehnte später mit eigenem Orchester in Wien Sammy Davis jun. und Frank Sinatra begleitete.
Wenn vom Jazz im Nachkriegs-Wien die Rede ist, muss auch Horst Winter erwähnt werden. Er gründete hier das Wiener Tanzorchester (WTO). Der 1914 im oberschlesischen Beuthen als Sohn eines Bankbeamten geborene Winter hatte mit Erwin Halletz an Saxofon und Klarinette sowie Heinz Neubrand am Klavier exzellente Musiker in seinem Orchester. Ab 1950 spielten in seinem Horst Winter Tanzorchester (HWT) auch die Saxofonisten Hans Koller und Karl Drewo. Im Frühjahr 1995 hatte ich übrigens die Freude, als Konzertveranstalter mit dem im 81. Lebensjahr stehenden Horst Winter einen umjubelten Evergreen-Abend im Konzerthaus zu organisieren.
Die bereits erwähnte Stadthalle war natürlich – neben dem Konzerthaus – der Jazz-Hotspot in Wien. Der wohl wichtigste Bandleader des großorchestralen Jazz, Duke Ellington, spielte hier am 15. November 1958, nur wenige Monate nach Eröffnung der Stadthalle, zum ersten Mal. 5000 Fans waren dabei. Anfang der 1950er-Jahre manifestierte sich eine Krise des Big Band Jazz. Aus ökonomischen Gründen lösten sich manche Orchester auf. Das Duke Ellington Orchestra hatte 1956, also zwei Jahre vor dem Konzert in der Wiener Stadthalle, ein triumphales Comeback beim Newport Jazz Festival gefeiert. Am 18. Oktober 1959 kehrte der »Duke« übrigens gleich mit zwei Konzerten an einem Abend in die Wiener Stadthalle zurück. Ellington, Jahrgang 1899, schrieb mehr als 2000 Kompositionen, von denen viele zu Jazz-Standards wurden. Am 24. Mai 1974 starb er in New York an den Folgen einer Lungenentzündung.
Apropos Newport Jazz Festival: Am 15. Oktober 1959 gastierte diese Großveranstaltung am Wiener Vogelweidplatz. Mit dabei waren der Bebop-Trompeter Dizzy Gillespie, der berühmte Blues-Sänger Jimmy Rushing, Trompeter Buck Clayton und Willis Conover vom Radiosender Voice of America als »Master of Ceremonies«. Wieder gab es zwei Konzerte an einem Abend, was beweist, welche Attraktivität der Jazz damals hatte.
Und am 30. Oktober 1959 konnte man Benny Goodman, den »King of Swing«, mit seinem Orchester in der Wiener Stadthalle erleben. Dieser Klarinettensuperstar entfachte wahre Begeisterungsstürme beim Publikum. Neun Jahre später, am 30. Mai 1968, interpretierte Benny Goodman, der auch in der Klassik einen hervorragenden Namen hatte, mit dem Wiener Barockensemble im Großen Musikvereinssaal das Klarinettenkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart. Dirigent war Theodor Guschlbauer. Bis in die Gegenwart erweisen sich große Jazzsolisten wie etwa Pianist Keith Jarrett oder Trompeter Wynton Marsalis immer wieder als großartige Klassikinterpreten. Unser Wiener Pianisten-Genie Friedrich Gulda ging den umgekehrten Weg, von der Klassik zum Jazz. Und am 10. Oktober 1974 war Benny Goodman wieder mit Jazz in der Wiener Stadthalle zu erleben.
Am 22. April 1960 verzauberte Nat King Cole, der hierzulande weniger als Jazzpianist denn als Sänger bekannt war, seine große Fangemeinde in der Wiener Stadthalle. Mit seiner unverkennbar weichen Stimme sang er all seine Hits von »Mona Lisa« bis »Unforgettable«. Der Sohn eines Baptistenpredigers aus Montgomery in Alabama hatte eine einzigartige, wenn auch kurze Karriere durchlaufen. Er starb im Alter von bloß 45 Jahren 1965 an Lungenkrebs. Begleitet wurde Nat King Cole in Wien von der fulminanten Quincy Jones Big Band.
1959 war der Posaunist Kid Ory aus New Orleans in der Wiener Stadthalle und am 16. März 1961 brachte Vibrafonist Lionel Hampton (1908–2002) mit seinem Orchester hier das Publikum im wahrsten Sinn des Wortes zum Toben. Von diesem Energiebündel werde ich später noch anhand eines Konzertes, das ich zu »Hamp’s« 90. Geburtstag im Konzerthaus veranstaltet habe, berichten. Im Lionel Hampton Orchestra spielten im Laufe der Jahrzehnte so geniale Musiker wie Illinois Jacquet, Dexter Gordon, Quincy Jones, Clifford Brown oder Kenny Dorham. Hampton war übrigens, für afroamerikanische Jazzer eine Seltenheit, Republikaner. Und so hielt auch der frühere republikanische Präsident George Bush sen. bei der Trauerfeier für Lionel Hampton eine Rede.
Wie gesagt, die Jazzszene im Wien der 1950er- und 1960er-Jahre war sehr rege. Das wenige, das ich damals als Kind davon mitbekam, stimulierte mich weiter, Jazzmusik zu hören, Platten zu sammeln und Konzerte zu besuchen. Im Bundesgymnasium 19 hatte ich zudem einen hervorragenden Musikprofessor. Herbert Tachezi, der als Orgelvirtuose weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt wurde, vermittelte mir musiktheoretische Erkenntnisse zum Thema Jazz. Ich begann mich in die verfügbare Fachliteratur zu vertiefen und abonnierte den Jazz-Zyklus der Musikalischen Jugend im Konzerthaus. Verantwortlich hierfür war damals Joachim Lieben (1930–2008), der später die Konzertreihe »Stimmen der Welt« ausrichtete und sich ungeheure Verdienste für die Propagierung nicht nur von Jazz, sondern auch Blues, Pop oder Chanson in Wien erwarb. Dazu kam, dass im Art Center oder im Café Josephinum in der Währinger Straße fallweise ein prominenter Jazzmusiker auftrat. Ich erinnere mich etwa an einen Abend mit dem Saxofonisten Julian »Cannonball« Adderley, der von der Österreichischen Jazzföderation unter Leitung von Johann Fritz, dem späteren Spitzenmanager des International Press Institute (IPI), für einen Auftritt ins Konzerthaus geholt worden war und danach im Josephinum mit Friedrich Gulda jammte.
Günther Schifter und Walter Richard Langer gestalteten ebenso kurzweilige wie informative Jazzsendungen im Österreichischen Rundfunk. Langer hatte sogar ein paar Jahre eine eigene Jazzsendung im Fernsehen. Natürlich war Jazz auch damals ein Minderheitenprogramm, aber im Fernsehen interpretierte man nach der Rundfunkreform, von der noch ausführlich die Rede sein wird, seinen Kulturauftrag noch so, dass man einer so wichtigen zeitgenössischen Musikrichtung wie dem Jazz einen gebührenden Platz im Programm einzuräumen habe. Die Sendungen von Schifter und Langer sog ich gleichsam akustisch auf und profitierte von ihrer Art der Präsentation des Jazz im Radio, als ich viel später, in den 1980er-Jahren, selbst im ORF einige Jahre eine Jazzsendung (»That’s Jazz & Kunz«, Mittwoch um 21.05 Uhr in Ö 3) moderierte. Für dieses wöchentliche Einstundenprogramm interviewte ich alle Stars, die gerade in Wien waren. So auch Ella Fitzgerald, die »First Lady of Jazz«, die während des Interviews einen Song aus »My Fair Lady« trällerte.
Während ich mich, wie gesagt, schon als Kind für Jazz zu interessieren begann, hatte meine Mutter in den 1950er-Jahren wenig Glück mit ihrem Versuch, mich für die Operette zu begeistern. Nach einem Besuch einer »Bettelstudent«-Aufführung in der Volksoper soll ich auf ihre Frage, wie es mir gefallen habe, geantwortet haben: »Sehr gut – bis auf die Musik.« Ein gewisses Verständnis für die Operettenmusik vermittelte mir erst viel später mein Freund Harald Serafin mit seinen opulenten Aufführungen im sommerlichen Mörbisch.