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2.Die Sehnsucht der Menschen Auf der Suche nach dem Ich

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In unserer konsumorientierten Gesellschaft werden alle Sehnsüchte der Menschen bedient. Für Geld kann man alles haben. Wirklich alles? Es gibt Sehnsüchte, die bleiben unbefriedigt, auch wenn man Geld genug hat. Sie zu stillen wird zu einem größeren Wert als alle Konsumartikel. Diese Sehnsüchte haben alle mit dem Ich des Menschen zu tun: mit seinem Selbstverständnis, seinem Selbstwert, seiner Identität. Der Kampf um das „Ich” ist entbrannt. Es geht darum, das Ich zu fördern, zu optimieren, zu finden und zu entfalten, möglichst groß zu machen, aufzupolieren, durchsetzungsfähig zu gestalten, unverletzlich abzusichern und vieles mehr. Aber das geht nur, wenn das Ich in seiner Wurzel gesund ist. Stimmt die Grundlage nicht, ist sämtliche Arbeit am Ich doch nur eine kosmetische Operation, eine mühsame Reparatur und es bleibt beim Versuch, etwas abzustützen, was wackelig ist. In folgenden Sehnsüchten zeigt sich, wo das Ich Mangel leidet:

1. Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung

Liebe und Anerkennung sind etwas Selbstverständliches, sie sind überlebensnotwendig. Wer keine Liebe und Anerkennung bekommt, verkümmert. Deshalb will jeder Mensch wahrgenommen und geliebt werden. Er will wichtig sein. Aber wer gibt Liebe und Anerkennung, wenn sie jeder für sich möchte? In unserer Gesellschaft gibt es zunehmend viele Ichs, die gesehen werden wollen. Wer schaut sie an? Viele schreien nach Zuwendung. Wer hört sie und gibt ihnen, was sie brauchen?

2. Die Sehnsucht nach Sicherheit

Die Komplexität der Welt ist für viele verunsichernd. Die ständigen Veränderungen und Umbrüche lassen nicht zur Ruhe kommen. Was heute gilt, ist morgen anders. Die Zukunft ist fragwürdig. Das Gleichgewicht der Mächte ist filigran und bedroht. Die wirtschaftliche Stabilität ist nicht nachhaltig. Permanent bedroht eine Krise die momentane Ruhe. Es gibt keine wirkliche Absicherung, nichts ist tatsächlich dauerhaft stabil. Was ist zu tun? Wo gibt es Orte der Geborgenheit? Wo kann man sich wirklich sicher sein?

3. Die Sehnsucht nach Bedeutung

Man will gern eine wichtige Rolle spielen, nicht nur ein kleines Rädchen im allgemeinen Getriebe sein. In der großen Masse möchte man auffallen, als Individuum erkenntlich sein. Das zwingt zur Individualisierung, zum Selbstmanagement, man muss sich optimieren. Es genügt nicht, einer von vielen zu sein, man muss seine Besonderheiten herausstreichen – und wenn man dabei zum bunten Hund wird: Was ist mein Markenzeichen? Was ist meine Stärke? Auch Kleinigkeiten bekommen eine große Bedeutung und werden marktschreierisch präsentiert.

4. Die Sehnsucht nach Freiheit

Man sehnt sich nach Unabhängigkeit, will überall sein, alles mitnehmen und von einer größtmöglichen Weite und vielen Alternativen profitieren. Das Kleine genügt nicht, Einschränkungen hindern die Entfaltung. Es darf nichts geben, was die eigene Individualität begrenzt. Alles ist möglich und alles geht. Ja nicht mit weniger zufrieden sein. Das Leben leben bis zum Anschlag. Wehe, wenn sich Krankheit, Behinderung oder sonstige Beeinträchtigungen in den Weg stellen. Gesetze werden nicht akzeptiert, Verbindlichkeiten nur dann, wenn sie nicht einschränken.

5. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit

Der Wunsch, in der großen, weiten Welt einen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, einen Menschen, bei dem man andocken kann und dem man der Wichtigste ist. Stärke dadurch bekommen, dass man Mitglied einer Gemeinschaft ist, Teil eines großen Ganzen, das einen stützt und schützt. Sich einmal nicht mehr um sich kümmern müssen, sondern sagen können: Wir sind viele – und ich gehöre dazu. Das Bemühen um die eigene Identität übernehmen andere, sie sagen einem, wer man ist, und sprechen einem zu, dass man okay ist, wie man ist.

Hinter all diesen Sehnsüchten steckt die Suche nach dem Ich. Es ist dem Menschen bei allem, was ihn beschäftigt, abhandengekommen, deshalb muss er es finden. Er jagt seinem Ich nach; hat er es gefunden, tut er alles, um es zu pflegen und zu nähren. Das Selbst empfindet einen Mangel und versucht ihn auszugleichen. Der Mensch ist innerlich nicht satt und versucht nun, seinen Hunger zu stillen. Er sorgt sich um sich – wer tut es sonst? Aber so vereinzelt der Mensch und das Ich bläht sich immer weiter auf. Irgendwann platzt die Blase. Die Ichsucht ist die Mangelerscheinung des Ichs. Es fehlt ihm an Anerkennung, Sicherheit, Bedeutung, Freiheit und Geborgenheit. Das, was fehlt, wird nun künstlich erzeugt. Aber da der Mangel nur mit echter Liebe, zuverlässiger Sicherheit, realistischer Bedeutung, verbindlicher Freiheit und gelassener Stärke zu füllen ist, bleiben viele Menschen hungrig. Ihr Hunger wird nicht wirklich gestillt, dem Mangel nicht aufgeholfen. Deshalb brauchen sie immer mehr. Die Gier wächst ins Unermessliche – und trotzdem reicht es nicht. Es muss immer mehr von demselben zugeführt werden. Das ist die Sucht. Das ist das unersättliche Ich, das nie zufrieden ist. Aber irgendwann kollabiert das Ganze, dann geht nichts mehr.

Ichsucht

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