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Die große Gefährdung

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Diese fünf Notwendigkeiten des Sterbens machen deutlich, was es kostet, um in der Gemeinde das zu bekommen, was man unbedingt möchte. Das ist das Geheimnis der Gemeinde: Man bekommt nur, wenn man sich selbst gibt. Man hat das Leben nur, wenn man auf sich verzichtet. Man erfährt sich, wenn man sich loslässt. Nur wer bereit ist zu sterben, kann das bekommen, was er zum Leben benötigt. Das klingt alles sehr eigenartig und das ist es auch. Martin Luther drückt dies in seiner Vorrede über die Epistel an die Römer so aus: „Glaube ist ein göttlich werck in uns, das uns wandelt und neugebieret aus Gott … und tödtet den alten adam, und machet uns gantz andere Menschen, von Hertzen, Muht, Sinn und allen Kräfften, und bringet den H. Geist mit sich.”33 Das heißt: Hinter dem Geheimnis der Gemeinde verbirgt sich eine riesige Chance für etwas ganz Neues, etwas anderes. Aber gleichzeitig wird auch deutlich, wie schwer das ist: Das Leben in der Gemeinde verlangt ganzen Einsatz, die Hingabe der eigenen Existenz. Nur der bekommt, der alles gibt, der sich selbst gibt.

Auf der einen Seite bietet die Gemeinde also optimale Bedingungen für die Entfaltung des eigenen Ichs. Das sind die Vorteile. Auf der anderen Seite kostet das den Einzelnen sehr viel: sein Leben. Der Ichsüchtige nimmt die Vorteile mit, ist aber nicht bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Er will sein Ich, aber er will sich behalten. Dadurch wird alles schief. Gemeinde ohne die Bereitschaft, sein Ich – sich selbst – zu geben, sieht so aus:

1. Die Gemeinde wird zum Ort der Unterordnung.

Akzeptiert und angenommen wird nur der, der sich einfügt. Die göttliche Liebe wird zur menschlichen Sympathie. Es bilden sich Seilschaften, Abhängigkeiten entstehen. Der Ichsüchtige bestimmt die anderen. Er ist ganz oben. Man muss ihm beweisen, dass man liebenswürdig ist. Anerkennung und Akzeptanz bekommt man aufgrund von Verdiensten. Es besteht ein System von Belohnung.

2. Gemeinde wird zum Ort der Gefügigkeit.

Man dient sich nicht gegenseitig, sondern viele dienen wenigen. Was freiwillig gegeben wird, wird ausgebeutet. Was man tut, wird kleingemacht. Es wird so dargestellt, als wäre man unfähig. Wer willig ist und gehorcht, ist richtig. Andere werden ausgegrenzt und ihre Bemühungen werden lächerlich gemacht. Statt eines Systems der Freiwilligkeit herrscht ein System der Beschämung vor.

3. In der Gemeinde herrscht die Macht.

Es gibt eine Hierarchie der Wichtigen, der Ichsüchtige gehört dazu. Er verleiht Bedeutung; wer sich in seinem Glanz sonnen kann, ist bedeutsam. Wer mächtig ist, sagt, was getan wird. Man muss sich nach oben orientieren und beweisen, dass man es kann. Wer sich am besten darstellt, hat gewonnen. Konkurrenzdenken und Neid prägen die Gemeinde: ein System des gegenseitigen Vergleichens.

4. In der Gemeinde nimmt die Unehrlichkeit zu.

Man redet zwar von Unabhängigkeit, stellt aber gleichzeitig Gesetze auf, nach denen alle zu funktionieren haben, nur der Ichsüchtige nicht. Die Fahne der Toleranz wird hochgehalten, aber man traut sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Die Gleichheit aller wird betont, aber es gibt einige, die gleicher als die anderen sind. Man zeigt mit dem Finger auf andere, verleugnet aber die eigenen Fehler. Es ist ein System der Lüge, jeder verbirgt sich hinter einer Maske.

5. Die Gemeinde wird zu einem Ort der Beliebigkeit.

Der Ichsüchtige schafft sich seine eigenen Strukturen. Er hat Vorteile, die er ausnützt. Er kommt und geht, wie und wann er will, und verunsichert die anderen durch Aussagen, die heute so sind, morgen anders. Es gibt keine Beständigkeit, stattdessen viel Verunsicherung. Dadurch entstehen Abhängigkeiten. Es herrscht ein System der Ungerechtigkeit.

In dieser fünffachen Abkehr von dem, was Gemeinde sein soll, zeigt sich die Gefährdung. Die Gemeinde ist in ihrem grundsätzlichen Wesen von Ichsucht bedroht. Die Ichsucht stellt alles auf den Kopf: Der Ichsüchtige nimmt, aber er gibt nicht, er fordert Nähe, bietet aber selbst keine an, er verlangt Akzeptanz für sich, aber achtet die anderen nicht, er sehnt sich nach Wertschätzung und Annahme, aber er sieht dabei nur sein eigenes Bedürfnis. Der Ichsüchtige holt das, was er nicht hat, bei anderen. Er lebt auf Pump. Er kann seine eigene Welt nicht verlassen, weil er in ihr gefangen ist. Deshalb macht er seine Welt zur Welt für alle anderen. Er holt sie quasi in sein Gefängnis herein. Das bestätigt ihn in seiner Sichtweise. Es gibt eben doch nur das, was er für wahr und wirklich hält.

Das Dilemma ist: Die Gemeinde bietet ihm eine reichhaltige Tafel. Er müsste nur Platz nehmen und dürfte sich bedienen. Er hätte alles, was sein Herz begehrt. Aber das tut er nicht. Er fürchtet, dass er dann, wenn er an der großen Tafel Platz nimmt, sein eigenes Ich, seine einzigartige Großartigkeit aufgeben würde. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als dass er Menschen, die an dieser Tafel sitzen, auffordert, ihm etwas zu essen zu bringen. Er versucht mit allen Mitteln sie zu bewegen, dass sie ihn versorgen. Aber es ist immer zu wenig. Er bleibt hungrig. Er müsste sich nur selbst bedienen. Doch er ist nicht bereit, den Preis für dieses köstliche Mahl zu bezahlen: die Aufgabe seiner Einmaligkeit und Grandiosität. So bleibt er angesichts des gedeckten Tisches hungrig und immer bedürftig. Dabei wäre es so einfach, satt zu werden. Der Mensch müsste nur in aller Freiheit Platz nehmen und anfangen zu essen. Aber noch einmal: Diese Freiheit hat ihren Preis.

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