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Was ist Ichsucht?
ОглавлениеIchsucht ist keine klinische Diagnose, sondern ein Überbegriff über all die unterschiedlichen Fehlformen des Ichs. Ichsucht beschreibt den Zustand des kranken, bedürftigen Ichs, das vieles auf sich nimmt, um sich zu stabilisieren und das dadurch in den Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit rückt. Es dreht sich alles um das Ich, ständig ist man mit sich selbst beschäftigt und andauernd bemüht, sich ins rechte Licht zu rücken. Je mehr das Selbstwertgefühl reduziert ist, desto mehr Aufmerksamkeit benötigt das geschwächt Ich. Da auch die eigene Frustrationstoleranz gering ist, erträgt man keine Kritik, keine Anfrage von anderen, reagiert frustriert und unternimmt alles, um sich selbst wieder aufzubauen. Ein beständiger Kreislauf, der viel Kraft kostet.
Im weitesten Sinn gehört die Ichsucht zu den nichtstofflichen Süchten wie Sexsucht, Internetsucht, Spielsucht, Kaufsucht, Esssucht, Magersucht. Aber es gibt zum Beispiel auch die Beziehungssucht, die Sportsucht oder die Arbeitssucht. Man spricht hier von den neuen Süchten des Alltags. Beim postmodernen Menschen tun sich offensichtlich immer mehr und größere Löcher auf, die er mit allen möglichen Drogen zu stopfen hat. Bei der Ichsucht heißt die Droge: Anerkennung, Akzeptanz, Aufmerksamkeit. Das Ich will beachtet werden. Ist das einmal nicht der Fall, macht es sich sofort deutlich bemerkbar. Das Ich benötigt starke Reize, um sich spüren und wahrzunehmen, dass es noch da ist. Wie bei einer Zahnlücke beschäftigt man sich ständig mit dem, was fehlt, und rückt es in den Fokus des eigenen Interesses. Da der gespürte Mangel nicht dauerhaft beseitigt werden kann – das Ich ist wie ein Fass ohne Boden – ist man ständig damit beschäftigt, es zufriedenzustellen. Das führt zu einer Suchtentwicklung: Die Gedanken kreisen um das Ich, man sehnt sich nach dem nächsten Kick der Anerkennung, giert nach dem Hochgefühl der Akzeptanz durch andere und versucht alles, um ein Übermaß an Aufmerksamkeit zu erreichen. Erst dann ist man einigermaßen zufrieden. Aber sobald man dieses Ziel erreicht hat, ist es bereits wieder zu wenig, und man braucht die nächste „Dosis”. Dadurch entsteht Abhängigkeit und der Versuch, den Rausch der allgemeinen Bestätigung und Wertschätzung zu erzeugen, muss immer öfter unternommen werden. Aber je öfter man das tut, desto tiefer gerät man in die Abhängigkeit – in die Abhängigkeit von dem kleinen, bedürftigen Ich, das gern groß und allmächtig sein möchte32.
Es gibt bei nichtstofflichen Süchten keine körperliche Abhängigkeit (wie z.B. beim Alkoholiker, der anfängt zu zittern, wenn er keinen Alkohol zu trinken hat), aber Kontrollverlust und psychische Abhängigkeit. Kontrollverlust bedeutet, dass sich der Ichsüchtige in seinem Suchtverhalten nicht mehr kontrollieren kann. In diesem Sinne ist auch der Ichsüchtige abhängig und zeigt Entzugserscheinungen. Diese machen sich vor allem dann bemerkbar, wenn sich der Betroffene aus seiner Sucht befreien will. Er wird von einem inneren Zwang beherrscht, der ihn nicht mehr loslässt. Der Ichsüchtige braucht Anerkennung und grenzenlose Akzeptanz, um gute Gefühle zu haben und negative Gefühle zu vermeiden (bzw. negative Gefühle zu betäuben) und um mit Belastungen und Problemen umgehen zu können.
Bei einem Ichsüchtigen ist es auch nicht wie bei einem Alkoholiker, der vielleicht nur einmal im Monat seinen regelmäßigen Rausch hat oder nur ab und zu betrunken ist, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Ein Ichsüchtiger ist immer von seiner Sucht betroffen, denn das Ich braucht beständig seinen „Stoff”. Es kann höchstens sein, dass die Gier nach Anerkennung, Akzeptanz und Annahme zeitweise nachlässt, weil der Ichsüchtige in Verhältnissen lebt, wo er sein nötiges Quantum in ausreichendem Maß beständig erhält. Weil er es dort freiwillig bekommt, muss er es nicht fordern, weil allen Beteiligten klar ist, dass er das „braucht”, bekommt er es selbstverständlich. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Ichsüchtige eine Gemeinschaft leitet, die ihm den Status zugesteht, den er für sich beansprucht – das wäre der Fall in einem autoritären, machtdominierten System. Da er die „Droge” beständig erhält, fällt er nicht besonders auf. Wird er jedoch infrage gestellt und wackelt seine Machtposition, wird die Ichsucht wieder stärker und macht sich vermehrt in Rastlosigkeit, Ungeduld, Kreisen um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse bemerkbar. Unter Umständen agiert er dann massiv und aggressiv, um die Versorgung seines Ichs wieder abzusichern.