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Der Kampf ums Ich

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In der großen Stadt kochten die Emotionen hoch. Seit Wochen ging es darum, wer am meisten Einfluss bekommen sollte. Die Situation war angespannt, teilweise kam es zu massiven Ausschreitungen, die nur mit starkem Polizeieinsatz begrenzt werden konnten. Es gab kein anderes Gesprächsthema mehr als die Frage, wer am wichtigsten war. Anlass für die Zuspitzung war der zunächst harmlose Wettbewerb gewesen, den eine Werbeagentur ausgeschrieben hatte. Es sollten sich unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft bewerben, sich darstellen und letztlich der Frage stellen: Wer hat den größten Einfluss? Eine Abstimmung sollte die Entscheidung bringen.

Es hatten sich 12 Bereiche der Gesellschaft zur Wahl gestellt: Vertreter aller Einzelhandelsgeschäfte hatten sich zusammengeschlossen zu einem Verein für unbeschränkten Konsum. Ihre Vertreter waren der Meinung, dass die Menschen nur dann glücklich sind, wenn ihnen alles zur Verfügung steht, was sie sich nur wünschen.

Einige potente Finanzberater hatten sich um den ersten Platz beworben mit dem Slogan: „Wo das Kapital ist, da ist das Leben.”

Eine Initiative für grenzenlose Mitbestimmung hatte sich gebildet, die sich vor allem aus ergrauten Altachtundsechzigern formierte. Sie waren der Meinung: „Wer mitbestimmen kann, ist beteiligt.”

Ganz anderes betonte die Gruppe der Eventanbieter: „Der Spaß zählt!” Diese Menschen waren der Meinung, dass das Leben ernst genug sei und deshalb der Spaßfaktor vergrößert werden müsste: „Wir müssen nicht alles so tierisch ernst nehmen!”

Seriöser war die Fortschrittspartei aufgestellt. Sie bestand aus ernst zu nehmenden Wissenschaftlern, die der Meinung waren, dass nur durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung des bisher Erreichten der Wohlstand und damit die Zufriedenheit der Menschen erhalten werden konnte.

Eine Gruppe, die sich „Die Mobilisten” nannten, plädierte für eine unbegrenzte Freiheit. Denn nur die Menschen, die ohne jegliche Einschränkungen tun konnten, was sie wollten, wären wirklich glücklich.

Ein paar Jugendliche der Stadt dagegen mobilisierte die Bevölkerung mit Schreckensbotschaften über Klimawandel und Naturzerstörung. Sie wollten, dass die Ökologie der wichtigste Faktor in der Stadt wurde nach dem Motto: „Wenn es der Natur gut geht, dann geht es uns allen gut.”

Eine weitere Gruppe nannte sich „Die Zukunftspioniere”. Sie setzten auf „Zukunft für jeden” und waren der Ansicht, dass jeder seine eigene Zukunft so schaffen durfte, wie er sie sich vorstellte.

Dann gab es die Fitnessfreaks. Sie wollten Menschen, die sich sportlich verhielten, denn „nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist”. Sie hatten dieses Schlagwort irgendwo aufgegriffen.

Aber es gab auch etliche, die für eine freie und grenzenlose Sexualität plädierten. Sie wollten, dass sich jeder so ausleben konnte, wie es ihm passte: „Wer tun kann, was er will, ist glücklich “, war ihre Devise.

Aber es gab auch die „Nichts-Partei”: Nach ihrer Meinung war der Mensch am glücklichsten, der nichts leisten muss, nichts erlebt und vollkommen befreit von allem Gegenwärtigen sich nur noch ins Nichts versenkt. Denn diese Menschen seien die freiesten auf der Welt.

Zuletzt meldete sich eine Gruppe von religiösen Menschen, die auf Werte achtete und wollte, dass der Bezug zu einer höheren Macht nicht verloren ging. „Nur wer glaubt, lebt wirklich”, betonten sie. An was die Einzelnen glaubten, war jedem freigestellt.

Vertreter dieser letzten Partei waren es, die bei der großen Bewertungsveranstaltung in der überfüllten Stadthalle in den Saal riefen: „Wir sind doch alle gleich. Wir haben alle höhere Ziele. Wie sind zwölf Vertreter von zwölf Richtungen. Wir sind die zwölf Jünger der neuen Zeit.” In dieser Veranstaltung sollten sich die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen mit ihren Anliegen vorstellen, damit anschließend in einer Abstimmung die wichtigste Gruppe gewählt werden konnte. Und was niemand für möglich hielt, geschah: Alle 12 Bewerber erhielten genau die gleiche Stimmenzahl.

In den folgenden Monaten spaltete sich die Stadt in zwölf Bezirke auf und jeder Bewohner wählte seinen eigenen Schwerpunkt, nach dem er sein Leben ausrichtete:

In einem großen Kaufhaus wurde alles angeboten, was möglich war. Es war wie an Weihnachten, man konnte bekommen, was das Herz begehrte. „Einfach abräumen und mitnehmen!”, nannte sich dieses Angebot. Bezahlen konnte man später. Und die Menschen taten es, körbeweise schleppten sie die Waren nach Hause.

Die Kapitalisten versprachen hohe Renditen, redeten von enormen Zuwächsen und ständiger Kapitalvergrößerung. Wer zu dieser Gruppe gehörte, sah sich bald als Mitglied im Club der Millionäre.

Die, die für Mitbestimmung waren, veranstalteten viele Foren, wo man seine Meinung äußern konnte. Hauptsache, es wurde diskutiert, die Ergebnisse waren nicht so wichtig.

Die Eventmanager lockten die Menschen mit immer ausgefalleneren Ideen in ihre Veranstaltungen: Die Matthäuspassion von Bach wurde verjazzt in einer uralten, ungeheizten Kirche mit Glühweinstand angeboten. Ein Chor sang Beethovens 9. Sinfonie („Freude schöner Götterfunken”) auf einer Bergspitze. Man konnte sich per Hubschrauber hinaufbefördern lassen. Daneben gab es Theateraufführungen im Spaßbad und dann wurde als bisher größter Event ein Theaterkrimi in einem ganzen Stadtteil durchgeführt mit allen Bewohnern als Beteiligte.

So formte jede Gruppe in der nächsten Zeit auf ihre Weise das Leben in der Stadt. Und es gelang den unterschiedlichen Richtungen, die Menschen an sich zu binden. Wohin jeder gehörte, erkannte man an der jeweiligen Bekleidung. Man setzte sich ab von den anderen und zeigte seine Zugehörigkeit: mit Krawatte und Anzug, im Freizeitlook, in Jogginghose oder mit verführerischen Dessous, die offen getragen wurden. Natürlich gab es Menschen, die zu mehreren Bereichen gehörten. Aber das fiel nicht auf, da sie sich jedes Mal umzogen, wenn sie in einen anderen Bereich wechselten. Auf diese Weise war jeder mit seinen Vorlieben und Interessen genau identifizierbar.

Aber dadurch splitterte die Gesellschaft in der großen Stadt immer mehr auf. Man grenzte sich ab, lebte nur noch in seinem Bereich. Die Beziehungen untereinander erloschen. Jeder Bereich versuchte, sich selbst zu stärken, das eigene Anliegen hervorzuheben und in den Vordergrund zu schieben. Mal gelang es den einen besser, mal den anderen.

Dann kam der Tag, an dem ein Gerücht die Runde machte. Später konnte niemand mehr genau sagen, wo es begonnen hatte. Hatte es ein Fremder mitgebracht, der in die Stadt gekommen war? War es in den Kreisen derer entstanden, die sich aus allem heraushielten? Oder waren es die Unzufriedenen, die Ewiggestrigen, die es aufbrachten? Die Nachricht verbreitete sich schnell: „Es wird etwas geschehen!” Das war alles. Es war nicht klar, was geschehen würde. Aber da offen war, was es sein könnte, machte sich jeder seine eigenen Gedanken. Die einen redeten von einer großen Katastrophe. Die anderen von einer Invasion aus dem All. Wieder andere hofften auf einen Neuanfang. Jedenfalls war die Folge dieses Gerüchtes, dass sich die Menschen nicht mehr so wie bisher für die 12 wichtigsten Bereiche interessierten. Sie waren mehr mit sich und ihren Fragen beschäftigt. Sie standen zusammen und redeten miteinander. Sie machten sich Gedanken über die Zukunft. Das hatte es bisher nicht gegeben. Sie tauschten sich aus über ihre persönlichen Hoffnungen oder Befürchtungen. Wer – scheinbar – mehr wusste als der andere, wurde umlagert und ausgefragt. Für kurze Zeit interessierten sich die Menschen füreinander und sie begannen wahrzunehmen, wie starr und festgelegt ihr Leben geworden war. Manche begannen sich tatsächlich zu wünschen, dass es noch etwas ganz anderes geben würde, das von außen kommen müsste, um sie aus ihren Abhängigkeiten zu befreien. Der Wunsch wurde laut: Es möge doch tatsächlich endlich etwas Richtiges passieren!

Das konnten sich die 12 Mächtigen natürlich nicht bieten lassen. Sie trafen sich, um gemeinsam Notmaßnahmen zu überlegen, wie sie ihren Einfluss zurückgewinnen könnten. Die Menschen sollten sich mit ihnen und sich nicht mit etwas anderem beschäftigen, das außerhalb ihres Einflussbereiches lag. Und obwohl die 12 bisher Konkurrenten waren, begann sie nun ihre unterschiedlichen Angebote zu vernetzen. Sie hoben die Abgrenzungen auf, sie vermischten sich, kombinierten ihre Interessen und machten ihre Angebote damit attraktiver. Das wirkte sich auch auf die Kleidung aus: Nun wurde alles wild durcheinander kombiniert, alles war möglich, jeder konnte das anziehen, was ihm gerade gefiel. Es gab zuletzt nicht mehr zwölf unterschiedliche Anliegen, sondern nur noch das eine: Die Menschen auf seine Seite zu bringen, abzulenken und zu beschäftigen! Das gelang schnell. Denn die meisten Menschen konnten den Schnäppchenangeboten, den Kombiattraktionen und den Einführungsverlockungen nicht widerstehen. Das Gerücht war bald vergessen. Es gab so viel anderes. Ständig war etwas Neues los. Ständig mussten tolle Veranstaltungen besucht werden, die ein unvergessliches Erlebnis suggerierten, und immer mehr waren die Menschen damit beschäftigt, alles zu verstehen, um dann das nützlichste, beste, kostengünstigste Angebot herauszufinden. Sie hatten gar keine Zeit mehr, sich Gedanken darüber zu machen, dass es noch etwas anderes geben könnte, geschweige denn, dass es eine Zukunft gab, die ganz anders sein würde als das Heute. Alle waren mit der Gegenwart beschäftigt, sie hatten keine Zeit für die Zukunft, für das Morgen, für etwas, das vielleicht, irgendwann einmal, unter Umständen passieren könnte.

Es waren nur ganz wenige, die an dem Gerücht festhielten. Sie warteten, sie erwarteten etwas. Sie sehnten sich danach, denn sie sahen, dass eine Veränderung von außen kommen musste. Sie litten unter der Vereinnahmung, sie spürten den Sog der Gegenwart und sahen, wie die Menschen immer mehr in den Strudel gezogen wurden, der ihnen Glück, Wohlstand und Zukunft verhieß, sie aber nur ausnützte. Sie sahen, wie die Menschen sich in Wirklichkeit dabei mehr und mehr verloren, immer blasser, bedürftiger, ärmer wurden. Statt Glück zu gewinnen, verloren sie: sich selbst. Deshalb warteten sie und hofften, dass etwas geschehen würde, was die Menschen aufweckte. Sie streckten sich sehnsuchtsvoll danach aus. Und dann sahen sie, wie sich dort, weit im Osten, der Himmel veränderte. Es war so, als würde die Sonne aufgehen – und das, obwohl es bereits Tag war. Sie nahmen wahr, dass das Gerücht stimmte und etwas Neues hervorbrechen wollte. Aber nur sie erkannten es, die Menschen in der großen Stadt waren zu beschäftigt, um die lichten Zeichen der Veränderung zu bemerken.

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