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Waldbewohner und Waldkrieger
ОглавлениеEs waren einmal unendliche germanische Wälder. Zumindest war dies die – zugegebenermaßen mediterrane – Perspektive des römischen Feldherrn, Staatsmannes und Schriftstellers Gaius Julius Caesar (100–44 v.d.Z.) in seinem berühmten Werk De bello Gallico (ca. 51/52 v.d.Z.). Wie ihm mündliche Quellen berichtet oder wohl eher spätere Bearbeiter eingefügt hatten, seien im Gegensatz zu großen Teilen des Imperium Romanum weite Bereiche Mitteleuropas östlich des Rheines dicht mit Wald bedeckt und nahezu unwegsam.2 Die Ausdehnung etwa des „Hercynischen Waldes“3 an der Nordgrenze der in römischen Augen zivilisierten Welt sei so umfangreich, dass seine Durchquerung zu Fuß selbst schnellen Schrittes mindestens neun Tage in Anspruch nehme. In dem Waldgebiet könne man insgesamt zwei Monate unterwegs sein, ohne je aus ihm herauszukommen. Es reichte gemäß den eher ungenauen antiken Angaben ungefähr von den Quellen des Rheines bis in die Karpaten hinein und umfasste nach gegenwärtiger Namensgebung unter anderem Böhmerwald, Odenwald, Schwarzwald und Thüringer Wald.4
In diesen fast undurchdringlichen Wäldern Germaniens lebten nach Caesar kriegerische Germanenstämme ein züchtiges und bescheidenes Leben der Gastfreundschaft und Tapferkeit, in dem die Jagd weit wichtiger schien als die Landwirtschaft.5 Es war auch die Rede von der Wald- und Sumpfnatur als Zufluchtsort in kriegerischen Auseinandersetzungen – jedoch auf gallische statt auf germanische Kämpfer bezogen.6 Schließlich beschrieb Caesar recht fantasievoll die angeblich im weiten Wald lebenden wilden und gefährlichen Kreaturen, „die man sonst noch nirgends gesehen hat“7. Diese wirkten so ganz anders als die zahmen Tiere der pastoralen Halbinsel Italien und waren etwa eine Art Einhorn mit großem und verzweigtem Gehörn; eine dem Elch ähnliche Spezies, die aufgrund fehlender Kniegelenke an Bäume angelehnt schlafe und so eine leichte Beute für Jäger darstelle; zuletzt ein grimmiger Auerochse von der annähernden Größe eines Elefanten.
Auch der römische Historiker und Naturforscher Gaius Plinius Secundus Maior (23–79) zeigte sich mehr als ein Jahrhundert darauf fasziniert von den Bäumen des Nordens. Zwar war er wahrscheinlich ebenso wie Caesar zumindest mit den Grenzregionen Germaniens aus eigener Anschauung vertraut, nicht aber mit den großen Wäldern im Landesinneren.8 In seinen umfangreichen Naturalis historiae (ca. 77) berichtete er beeindruckt, dass hallenartige Wälder mit Ausnahme der Küstenregionen „das ganze übrige Germanien“9 bedeckten und durch ihren Schattenwurf zum dortigen kalten Klima beitrügen. Ferner betonte er die „ungeheure Größe der Eichen im hercynischen Wald“10, die dort seit Anbeginn der Welt mächtig und unberührt stünden. Während deren urweltliche Wurzeln Durchlässe für ganze Reiterabteilungen böten, gefährdeten entwurzelte Eichen auf dem Meer sogar vorbeifahrende Schiffe.11 Beiläufig verwies Plinius noch auf als Kultorte genutzte „Eichenhaine“12 allerdings gallischer Druiden, denen die Bäume und die auf ihnen wachsenden Misteln gleichermaßen heilig seien.
Etwa 20 Jahre später beschrieb ein weiterer römischer Autor die dunklen Wälder fern der Heimat, wobei er sich für Fauna, Flora und Klima vielfach auf die Naturgeschichte des Plinius bezog. Publius Cornelius Tacitus (ca. 55–120), der im Gegensatz zu Caesar oder Plinius keine persönlichen Kenntnisse der germanischen Gebiete besaß, widmete deren Bewohnern eine eigene Schrift unter dem vermutlich postumen Titel Germania (ca. 98).13 Das scheinbar gänzlich unitalienische Landschaftsbild charakterisierte er mit deutlicher Abscheu als „entweder durch seine Wälder grauenerregend oder durch seine Sümpfe gräßlich“14. Die karge Umwelt und das harte Klima formten Tacitus zufolge die Sitten der dort lebenden Krieger, die er als massiv gebaut, hellhaarig und blauäugig beschrieb. Als Grund für deren autochthonen Ursprung und ethnische Reinheit nahm er an, dass nach Germanien „mit seinen häßlichen Landschaften, dem rauhen Klima, dem trostlosen Äußeren“15 schlichtweg kein Fremder freiwillig ziehen wolle.
Gemäß Tacitus lebten die Germanen anstatt in einer Großstadt wie Rom als Kinder der Natur inmitten der Wälder, darunter wie schon bei Caesar ein ausgedehnter herkynischer Wald.16 Ebenso würden sie ihre uralten Götter statt in steinernen Tempeln in einem „durch Weihen der Väter und durch uralte fromme Scheu heiligen Hain“17 verehren, wo sie darüber hinaus Kriegs- und Siegeszeichen aufbewahrten sowie Menschen opferten. Kontrastierend zum griechischen oder römischen Pantheon sei es mit dem germanischen Glauben „unvereinbar, Götter in Wände einzuschließen“18.
In seinem umfangreichen Geschichtswerk Annales (ca. 110–120) berichtete Tacitus unter anderem über die römischen Nordfeldzüge in den Jahren 14 bis 16. Als wichtigen Faktor bei den Kampfhandlungen benannte er ausdrücklich „die finsteren Waldtäler“, „das hinderliche Walddickicht“ und die „Wälder und Sümpfe“ des betreffenden Gebietes.19 Diese Naturgegebenheiten hätten zugunsten der germanischen Krieger und gegen die Armeen Roms gewirkt, was die angestrebte Befriedung der Grenzregion entlang des Rheines zu einem schwierigen Unterfangen gemacht habe.
Rückblickend auf das Jahr 9 erwähnte Tacitus recht knapp die später legendär gewordene Schlacht in einem „Teutoburger Wald“20, ein mehrtägiges Gefecht zwischen germanischen Stämmen und römischen Truppen. Unvertraut mit dem unwegsamem Sumpf- und Waldgelände auf dem Territorium des gegenwärtigen Norddeutschland, habe der kommandierende Feldherr Publius Quinctilius Varus (46 v.d.Z.–9) drei ihm unterstellte Legionen, deren Feldzeichen und letzten Endes auch das eigene Leben verloren.21 Aus imperialer Perspektive bezeichnete Tacitus den siegreichen Anführer des Aufstandes als „Aufwiegler Germaniens“22: Dies galt dem Heerführer Arminius (ca. 17 v.d.Z.–21), der Jahrhunderte später im deutschen Sprachraum unter dem Namen Hermann der Cherusker bekannt wurde. Die im Fortgang der Schrift geäußerte Einschätzung, der Cherusker sei „unstreitig der Befreier Germaniens“23 von der Weltmacht Rom gewesen, sollte sich neben der behaupteten Waldherkunft der Germanen als ideengeschichtlich folgenschwer erweisen.