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Gefühlspolitik und Nationalliteratur

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Tieck war in politischer Hinsicht auch nach eigenem Verständnis kein stringenter Theoretiker, was ihn mit der Mehrzahl der romantisch inspirierten Dichter verbindet.7 Doch finden sich bei ihm Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Themen: eindeutiger in biographischen Dokumenten, verschlüsselter in literarischen Werken. Seine entsprechenden Bemerkungen stellten aber kaum eine explizite Missbilligung existierender Macht- und Staatsverhältnisse dar. Er benannte durchaus kritikwürdige Zustände, aber konkrete Ursachen von und mögliche Alternativen zu beobachteten Fehlentwicklungen blieben weitgehend ausgeblendet.

Der junge Tieck äußerte emphatische Zustimmung zu den Anfängen der Französischen Revolution und verstand sie als Vorbild für die anderen europäischen Staaten. 1792 wünschte er in einem Brief sehnlichst, selbst Franzose zu sein und unter Einsatz seines Lebens für die revolutionären Ideale kämpfen zu dürfen.8 Noch bis 1795 lobte er die im revolutionären Frankreich vorgenommene Beseitigung traditioneller Adelsprivilegien, wenngleich die gewaltsame Entwicklung der Revolution seinen Enthusiasmus schon hatte abkühlen lassen.9

Selbst in Tiecks Veröffentlichungen aus der patriotischen Zeit nach 1800 lassen sich nur wenige explizite Stellungnahmen zur Tagespolitik ausmachen. Es finden sich aber in seinen Märchenbearbeitungen anspielungsreiche Verweise auf die Ereignisse und Folgen der von ihm anfangs unterstützten Französischen Revolution – so etwa der Einsatz der politischen Symbolfarbe Rot in seiner Version des traditionsreichen Rotkäppchen-Motivs nach einer französischsprachigen Quelle. Nach dem Ende der antinapoleonischen Kriege 1815 kritisierte der Schriftsteller die burschenschaftliche Richtung der Nationalbewegung genauso entschieden wie ihre katholisch-mittelalterliche Strömung.10 Mit fortschreitender Zeit wurde indes aus dem ehemaligen Sympathisanten der Revolution immer mehr ein Unterstützer des monarchischen Systems in Preußen. Wenngleich Tieck einzelne Herrschaftspraktiken wie die für ihn übertriebene Zensurpolitik verurteilte, lehnte er die Revolution von 1848/1849 und das Paulskirchenparlament entschieden ab.11

Tiecks Verhältnis zur Bewegung der Aufklärung war komplex: Einerseits fanden seine Erziehung wie auch seine ersten Veröffentlichungen in deren geistigem Berliner Umkreis statt, andererseits bemühte er sich mit den Jahren um wachsenden Abstand.12 Hierin wandte er sich in bisweilen deutlicher Überzeichnung vor allem gegen die Vertreter der zweiten Generation, denen er antikonfessionelle Intoleranz und blinde Fortschrittsgläubigkeit vorwarf. Eine wichtige Frage war in diesem Zusammenhang die nach dem kulturellen und literarischen Wert von Volksbüchern und Volksmärchen.13 Während einige Aufklärer solche Texte als Belege irrationalen und somit überholten Aberglaubens abtaten, sah Tieck sie nach anfänglicher Skepsis zunehmend als bewahrenswerte und wiederzubelebende Dokumente der deutschen Volksüberlieferung.

Ein ganz besonders widersprüchliches Themenfeld stellt auch im Falle Tiecks dessen Verhältnis zur Stadt dar. Die nachhaltige Paradoxie bestand im kaum glaubwürdig aufzulösenden Gegensatz zwischen dem tatsächlichen Stadtleben und einer ersehnten Stadtflucht.14 Viele der tieckschen Figuren wie etwa der Sternbald praktizierten den Rückzug in die scheinbar unberührte Natur, wo Berge wie Wälder als metaphorisches Gegenbild zu den empfundenen Zumutungen von Beruf und Geschäft dienten. Allerdings war der Autor dieser Figuren gebürtiger Berliner, fast lebenslang Stadtbewohner und der städtische Lebensraum Handlungsort in vielen seiner Werke. Für Tieck selbst war die Stadt wie für viele frühromantisch geprägte Dichter ein überwiegend positiv besetzter Begriff für Geselligkeit und Kommunikation, während er gleichzeitig die Provinzstädte als kulturell uninteressant verachtete. Seine Berufstätigkeit versah Tieck überwiegend in größeren Residenzstädten wie Berlin, Dresden und München, nicht in der poetisch oft beschworenen Umgebung ländlicher Waldidylle – wie auch, auf den gesamten Untersuchungszeitraum bezogen, die überwiegende Mehrheit der Protagonisten deutschen Walddenkens stadtbasiert war.

Tieck begann 1793 auf einer gemeinsam mit seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) unternommenen Frankenreise, sich unter dem Eindruck der besichtigten Burgen und Klöster intensiver mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ab 1801 bekannte er sich zu einer Denkschule, die die ältere deutsche und nordische Literatur als ideales Medium nationaler Selbstvergewisserung sah. Dies geschah vor allem unter dem weiteren Einfluss des befreundeten Philologen und Schriftstellers Friedrich Schlegel (1772–1829). Tieck lehnte jedoch im Gegensatz zu vielen seiner Generationsgenossen allzu schlichte Instrumentalisierungen der Überlieferung zugunsten tagespolitischer Ziele ab. Auch ignorierte er andere Literaturen aus dem indoeuropäischen Kulturkreis keineswegs und erstellte etwa Übersetzungen aus dem Englischen und Spanischen.

Im Zuge eines intensiven Quellenstudiums plante Tieck bis 1815 mehrere Texteditionen, die Geschichten, Lieder, Märchen und Sagen aus dem vermeintlichen Urgrund der Volkskultur enthalten sollten. Erschwingliche Volksausgaben würden – so seine Hoffnung – eine kulturelle Erneuerung aus dem Geiste der Poesie voranbringen im wiederholten Verweis auf die dort gesehenen Tugenden von deutscher Ehre, Eigentümlichkeit und Treue. Der Dichter sah in solchen Texten ein Überbleibsel glorreicher Vergangenheit und ein Traditionsreservoir für die Deutschen seiner Gegenwart, die entlang der Konfliktlinien von dynastischer Loyalität, konfessioneller Zugehörigkeit und politischem Bekenntnis gespalten waren.

Allerdings boten Tiecks Editionsprojekt anders als beispielsweise das zeitgleiche Werk Des Knaben Wunderhorn Achim von Arnims (1781–1831) und Clemens Brentanos (1778–1842), weit weniger Anknüpfungspunkte für rein national inspirierte Rezeptionen, da sie vorrangig ästhetisch-literarisch angelegt waren.15 Bedingt durch mangelhafte Finanzierung und Planung wurden allein die Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter (1803) tatsächlich veröffentlicht, Editionen des als deutsches Nationalepos geltenden Nibelungenliedes sowie eines ritterlichen Heldenbuches kamen über die jeweilige Projektphase nicht hinaus.16 Seine im gleichen Zeitraum entstandenen Märchenbearbeitungen idealisierten eine harmonisch-ländliche Idylle, die als kulturelles Vorbild der ersehnten nationalen Gemeinschaft dienen sollte.17

Diese ältere deutsche Literatur ließ sich in der historischen Zeitkonstellation der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 und der antinapoleonischen Kriege 1813 bis 1815 als Beleg ruhmreicher eigener Vergangenheit lesen. Während jener krisenhaften Jahre steigerte sich auch bei Tieck aus tagespolitischen Gründen das Geschichtsinteresse, um aber schon kurz nach der endgültigen Niederlage Napoleons wieder abzuflauen. Konträr zu anderen Dichtern verfasste er selbst in dieser turbulenten Phase kaum eindeutig patriotische Gedichte, wenngleich er einen Sieg der eigenen Truppen erhoffte und den Partikularismus der deutschen Fürsten missbilligte.

Auch enthielt sich Tieck im Gegensatz zu vielen Generationsgenossen jeglicher öffentlicher Äußerung über den Kaiser der Franzosen. Indes bewunderte der Schriftsteller den im Krieg gegen Frankreich gefallenen und schnell zum deutschen Märtyrer erklärten Dichter Theodor Körner (1791–1813) als heroisches Vorbild. Ebenso unterstützte er mildtätige Sammlungen zugunsten verwundeter Soldaten der deutschen Staaten.18 Insgesamt verharrte Tieck auch während dieser ersten Hochzeit der literarischen und politischen Nationalbewegung in einer Beobachterrolle, statt zu den patriotischen Aktivisten zu gehören. Bald nach 1815 äußerte er sich kritisch gegenüber den – in seinen Worten – „leeren vaterländischen Sanguinikern und blinden Patrioten“19. Vor allem die Identitätsbestrebungen nationaler Vereine und Burschenschaften erschienen ihm als übertrieben und irrational.

In Tiecks späteren Lebensjahren wurde seine Einstellung zu nationalen Fragen entschieden intoleranter, wie sich etwa an einer Briefäußerung gegen den „unfruchtbaren Kosmopolitismus“20 ablesen lässt. Überdies finden sich in Egodokumenten Tiecks wie Briefen und Tagebüchern vereinzelte antijüdische Auslassungen, beispielsweise eine Polemik gegen die Judenemanzipation oder die diffamierende Charakterisierung „der verliederlichte Heine, dieser Juden-Messias“21. Eine solche Ablehnung zeitgenössischer literarischer Tendenzen zeigt, welche künstlerische und politische Entwicklung Tieck seit seiner innovativen Frühphase als poetischer Schöpfer der Waldeinsamkeit um 1800 in Richtung Konvention genommen hatte.

Der deutsche Wald

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