Читать книгу Der deutsche Wald - Johannes Zechner - Страница 12

Waldherkunft und Waldklischee

Оглавление

Nach der Wiederentdeckung der beiden taciteischen Schriften zur Mitte des 15. beziehungsweise zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden sie zuerst von italienischen Autoren als Beleg germanischer – und intendiert auch deutscher – Kulturlosigkeit verwendet.24 Demgegenüber verstanden protonationale deutschsprachige Humanisten die antiken Schilderungen mehr und mehr als Geschichtsbuch und Identitätsdokument zugleich.25 Da sie die Deutschen ihrer Gegenwart als in direkter Kulturkontinuität stehende Nachfahren der Germanen begriffen, verorteten sie ihre vorgeschichtlichen Ursprünge rückblickend im Herkynischen Wald und im Teutoburger Wald.26 Besonders einflussreich war darin der humanistische Gelehrte Conrad Celtis (1459–1508), mit dem die eigentliche Tacitus-Rezeption nördlich der Alpen einsetzte. Sein Werk Germania generalis (ca. 1500) begriff er ausdrücklich als Ergänzung und Kommentar zur Schrift des von ihm bewunderten römischen Schriftstellers, weshalb er die beiden Texte zusammen in einem Band erscheinen ließ.

In unkritischer Nachfolge der vagen Angaben antiker Autoren nahm Celtis an, dass uralte Wälder einst fast ganz Germanien bedeckt und als unerschöpfliche Reviere für die Jagd auf Eber, Hirsche und Bären gedient hätten. Gleichermaßen hob er wie seinerzeit Tacitus die religiöse Bedeutung der Baumnatur hervor und schilderte „unermeßlich große Haine voll bejahrter Eichen, die nach Religion und alter Sitte als heilig verehrt werden“27. Großen Wert legte er auf die Behauptung, die beschriebenen Regionen im Gegensatz zu seinen römischen Gewährsleuten alle selbst durchwandert statt nur in der Literatur studiert zu haben. Ein solches Motiv der authentischen Naturaneignung zu Fuß sollte sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit unter anderen bei Tieck, Eichendorff, Arndt und Riehl erfreuen.

Celtis zufolge umfassten die weiten herkynischen Wälder der Mittelgebirgsregionen praktisch „das ganze Land“28, sodass er ihnen als Inbegriff und Symbol der Heimat den mit Abstand größten Abschnitt seines Textes widmete. Dabei griff er auf ein etabliertes silvanes Motiv zurück, das schon in seiner einige Jahre zuvor erschienenen Stadtbeschreibung Norimberga (1495) Thema eines längeren Exkurses gewesen war.29 Auch einige seiner Gedichte verklärten dementsprechend eine in der wilden Sumpf- und Waldnatur begründete germanische Sittlichkeit, die einer römischen Dekadenz und Luxussucht aus dem Geiste der imperialen Weltstadt kontrastierte.30 Schon bald nach Celtis’ Tod fanden seine selektiven Germania-Interpretationen Aufnahme in den humanistischen Kanon und wirkten auch in ihren silvanen Bezügen vielfach bewusstseinsprägend weiter.31

Eine derartig (national)politisch inspirierte Interpretation ignorierte jedoch weitgehend die Kontexte der antiken Schriften, die unterschiedlichen Werkgattungen zwischen Ethnographie und Naturgeschichte entstammten und an ein römisches Publikum gerichtet waren. Wieder und wieder wurden einige wenige kurze und für die jeweiligen Zwecke geeignete Textstellen vor allem bei Tacitus zitiert, um eine idealisierte germanische Vergangenheit einer weit weniger glorreichen Gegenwart positiv gegenüberzustellen. Angesichts der germanischen Schriftlosigkeit mussten ironischerweise ausgerechnet Werke in der damaligen Gelehrtensprache Latein helfen, eine deutsche Identität zu begründen. Allerdings übersahen die philologisch geschulten Humanisten in ihrer unkritischen Germania-Lektüre unter anderem, dass die Naturwahrnehmung der römischen Beobachter unvermeidlich von den Vergleichsmaßstäben ihrer weit weniger bewaldeten Heimat geprägt gewesen war. Infolgedessen waren die Schilderungen einer fast durchgängigen Bewaldung Germaniens bei Caesar, Plinius und Tacitus notwendigerweise alles andere als objektiv und hätten einer intensiven Quellenkritik bedurft.

So machten die antiken Autoren fast keine retrospektiv überprüfbaren Detailangaben zu Baumartenverteilungen oder Waldstandorten und ihre Schilderungen entsprachen keineswegs der damaligen landschaftlichen Situation Germaniens.32 Statt von ununterbrochenem Urwald war diese tatsächlich von einem über die Zeiten variablen Mischverhältnis aus Waldflächen, Siedlungsgebieten, Heide- und Moorarealen sowie Ackerland bestimmt.33 Zwar erweist sich die exakte Bestimmung des tatsächlichen Baumbestandes nachträglich als kaum mehr möglich, aber es liegen zumindest forstgeschichtliche Schätzwerte vor. Demgemäß belief sich der vermutliche Bewaldungsgrad noch zu Beginn des Mittelalters auf zwei Drittel bis drei Viertel des zentraleuropäischen Territoriums, mit einem tendenziellen Schwerpunkt in den bergigeren und südlicher gelegenen Regionen.34 Der Anteil des Laubmischwaldes war gegenüber den Nadelbäumen wesentlich höher als zu späteren Zeiten, was vor allem die flacheren Lagen und das westliche Gebiet betraf.

Überdies lassen sich in den Beschreibungen wilder waldgeborener Germanen eine ganze Reihe klassischer Barbaren-Stereotype nachweisen, wie sie in der antiken ethnographischen Literatur etwa über die Kelten oder Skythen ebenfalls gängig waren.35 Wenn römische Autoren aus der Perspektive des Südens unzivilisierte und damit unverdorbene Völker beschrieben, behaupteten sie insbesondere für den Norden oft einen klimatheoretischen Zusammenhang zwischen einer ungebändigten Umwelt und einem ebensolchen Kollektivcharakter. Üblicherweise verwiesen sie daneben auf die Verehrung von Naturobjekten wie Felsen, Quellen oder Wäldern anstelle olympischer Götter sowie auf die Ausübung der entsprechenden Kulthandlungen unter freiem Himmel statt zwischen Tempelwänden.

Dieser literarischen Tradition zufolge lebten die Barbaren grundsätzlich naturnah zwischen Bergen, Sümpfen und Wäldern, die im Kriegsfall durch ihre Undurchdringlichkeit als Fluchtraum vor den römischen Truppen fungieren konnten. In politischer Hinsicht sollte eine möglichst dramatisierende Beschreibung solcher wilder Landschaften und Menschengruppen dazu dienen, entweder im Falle eines Sieges die eigene Tapferkeit hervorzuheben oder nach einer Niederlage diese zu entschuldigen.36 Doch verraten die Tugendklischees des Autochthonen und Unvermischten, Gastfreundlichen und Kriegerischen, Naturgläubigen und Ursprünglichen wesentlich mehr über die Beschreibenden selbst als über die von ihnen Beschriebenen. So gerieten Bäume und Wälder zunächst im Fremdbild der römischen Ethnographen zu ambivalenten Symbolen des Germanentums, ehe diese Charakterisierung von den Beschriebenen als positiv gewendete Eigensicht übernommen wurde.

Der deutsche Wald

Подняться наверх