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Waldtraditionen und Waldvariationen

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Neben den bereits untersuchten Hauptwerken mit Waldbezug finden sich bei Tieck noch zahlreiche andere silvane Stellen, einige seiner lyrischen Werke trugen den Wald bereits bedeutungsschwer im Titel.65 Das frühe Gedicht Waldhornsmelodie (1797) etwa benannte Bäume und Gewässer als Gegenwelt, um wenigstens temporär dem als laut und hektisch empfundenen Alltag zu entkommen. Mit dieser konnte zumindest der dafür sensibilisierte Mensch als Seelenverwandter des Dichters kommunizieren, der dort fernab der Welt seelische Einkehr halten wollte: „Hörst! wie spricht der Wald dir zu,/Baumgesang,/Wellenklang:/Komm und finde hier die Ruh.“66 Vergleichbar positiv und spirituell konnotiert erschien der Wald im Poem Wald, Garten und Berg (1798) als ein natürlich grüner Garant menschlicher Glückseligkeit. In einem solchen Idyll finde der sinnsuchende Mensch temporär Geborgenheit und Trost, wenn er angesichts der Zumutungen des allzu menschlichen Alltagslebens zu verzweifeln drohe: „Was soll die Bangigkeit?/Wirf ab dein kleines Leid,/Komm, komm in unsern Schatten grün,/Wirf alle Sorgen hin,/Erschließ dein Herz der Freudigkeit.“67

Eine gleichfalls höchst emotionale, aber dieses Mal eindeutig negative Assoziation enthielt die Klage des Mädchens im Walde (1816), deren Schlusssatz Todessehnsucht und Naturempfinden über den Wald hinaus auf der Ebene der Gesamtnatur poetisch zusammenzuführen versuchte: „Garten, Berge, Wälder weit/Sind mir Grab und Einsamkeit.“68 Das schaurig-düster benannte Schauspiel Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (1798) war in Wirklichkeit eine Satire auf die aufklärerische Verachtung für den Aberglauben. Entgegen allen durch den Titel geweckten Erwartungen findet sich dort ein unbeschwert-fröhliches Waldmotiv, das an die gängige Gattung des Jagdliedes voll Hörnerklang und Hundegebell anknüpfte: „Außer Wein nicht andre Wonne/Als der dunkelgrüne Wald/Den beim Schein der Morgensonne/Muntres Jagdgeschrei durchschallt.“69 Solche Poetisierungen der Baumnatur nutzten diese als romantische Stimmungslandschaft, mithilfe derer vielfältige menschliche Emotionen von hoher Freude bis zu tiefer Verzweiflung ihren Ausdruck finden konnten.

Daneben spielte der Wald in zahlreichen Werken Tiecks eine entscheidende Rolle, ohne dass dies schon über den Titel ersichtlich würde. Eine Fülle von Silvabezügen enthielt insbesondere das frühe Stück Kaiser Octavianus (1804), in dessen Prolog Aufzug der Romanze bereits eine Gruppe von Kriegern durch die Baumnatur zog.70 Gleich zu Beginn besang ein Chor diese im Anschluss an konventionelle Motive der anakreontischen Liebes- und Naturdichtung als sinnlich aufgeladene Sphäre: „Die Lieb’ ist dein Gespiele,/Wann ich den Frühling fühle/Wird auch mein Lieben neu,/Der Liebe Tempel sei/Im Walde.“71 Im weiteren Fortgang der Handlung dienten die Bäume unter anderem als Versteck für Räuber, womit Tieck einen weiteren klassischen Topos der Waldliteratur zitierte.72 Später konnte der Wald indes ebenso als Ideal eines weltabgewandten Ortes fungieren, wo tiefgründige Selbstreflexion und daraus resultierende Selbsterkenntnis möglich waren: „So hab ich oft/Geträumt, mir in der Jugend oft gewünscht,/An solchem abgelegnen Platz im Wald/Zu sein, recht plötzlich ohne Menschen, Freunde,/Zu fühlen recht, was Einsamkeit bedeutet.“73 Außergewöhnlich ist dabei nicht die – durchgängig der Konvention verhaftete – Waldmotivik selbst, sondern vielmehr deren lyrisch vielstimmige Offenbarung.

Einen engen Zusammenhang zwischen christlicher Religion und rettender Waldnatur stellte Tieck in Leben und Tod der heiligen Genoveva (1799) her. Seine einflussreiche Adaption einer mittelalterlichen Heiligenlegende griff die Motive des weltflüchtigen Waldeinsiedlers und der verfolgten Unschuld auf. Zusätzlich fügte der Schriftsteller eine in der Volksbuchvorlage nicht enthaltene Waldszene ein, um den dramatischen Effekt des eifersüchtigen Verrats an Genoveva noch zu steigern.74 Die namensgebende Heilige verkörperte ein Musterbeispiel unverbrüchlicher Frömmigkeit, indem sie nach falschen Untreuevorwürfen dank ihres Gottvertrauens sieben Jahre lang in der kargen Zuflucht des Waldes überleben konnte. Sie appellierte erfolgreich an den Beistand einer pantheistisch beseelt verstandenen Natur wie im verzweifelten Ausruf „Ach ihr Bäume erbarmt euch mein!“75 In der bedrohlichen Natureinsamkeit unterstützte sie allein eine Hirschkuh, die ihren kleinen Sohn namens Schmerzenreich säugte. Durch die derartige Hilfe der Waldnatur konnte sie bis zu ihrer und ihres Sohnes Entdeckung durch den Ehemann Hunger und wilden Tieren zum Trotz ihren Gottesglauben bewahren. Damit fungierte die silvane Sphäre im Anschluss an die mittelalterliche Epik als Kontrastbild zur Lebenswelt des Adelshofes, aber auch wie in manchen Märchen als bergender Schutzraum mitsamt lebensrettenden Tieren. Weitere literarische Wälder Tiecks aus der Zeit nach 1813 brachten noch prägnanter gegenweltliche – und vereinzelt nationale – Tendenzen zum Ausdruck.

Der deutsche Wald

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