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Wald- und andere Einsamkeiten

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Mit seinem Frühwerk Der blonde Eckbert (1796) verankerte Tieck seine Begriffsprägung der Waldeinsamkeit zuerst im literarischen und bald ebenso im populären Sprachgebrauch.35 Das Naturmärchen handelte von dem auf einer Burg im Harz lebenden Ritter Eckbert und seiner Frau Bertha, die im Laufe der Geschichte als Binnenerzählung eine Begebenheit aus ihrer Kindheit berichtete.36 Auf der Flucht vor den Misshandlungen ihrer Eltern gelangte sie durch den locus terribilis eines wüsten Gebirges in ein freundlich birkenbewaldetes Tal. Damit hellte sich analog zum gewandelten Natureindruck ihre Seelenverfassung wieder erheblich auf: „Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradies getreten wäre, die Einsamkeit und meine Hülflosigkeit schienen mir nun gar nicht fürchterlich.“37

Dieser positive Natureindruck steigerte sich noch einmal, als das Kind von einer alten Frau gefunden und zu deren Haus inmitten der Wildnis geführt wurde. Tieck schilderte diese vorgebliche Idylle emphatisch mit Versatzstücken, wie sie aus dem seit der Antike etablierten Topos des locus amoenus von Baum und Quelle bekannt waren:

In das sanfteste Roth und Gold war alles verschmolzen, die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröthe, und über den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälder und die Blätter der Bäume standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und das Rieseln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Flüstern der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmüthiger Freude.38

In diesem scheinbar ungestörten Refugium fernab jeder menschlichen Gesellschaft lebten neben der Alten ein Hund sowie ein sprechender Vogel, der äußerst wertvolle Eier mit Edelsteinen oder Perlen legte und sein eigentümliches Lied vortrug: „Waldeinsamkeit,/Die mich erfreut,/So morgen wie heut/In ewger Zeit,/O wie mich freut/Waldeinsamkeit.“39 Im Alter von 14 Jahren entschloss sich die vorher kindlich zufriedene Bertha, dieses abgeschiedene Leben im gegenweltlichen Waldparadies aufzugeben und mitsamt dem Vogel in die Welt zurückzukehren. Das seiner idyllischen Heimat beraubte Tier sang hierauf voller Sehnsucht eine abgewandelte Version des leitmotivischen Liedes: „Waldeinsamkeit/Wie liegst du weit!/O dich gereut/Einst mit der Zeit./Ach einzge Freud/Waldeinsamkeit!“40

Die Binnenerzählung endete damit, dass das Mädchen den Wundervogel aus schlechtem Gewissen und uneingestandenen Schuldgefühlen heraus tötete. In der wieder einsetzenden Rahmenerzählung musste Bertha schuldbeladen sterben, weil sie sich durch ihren Vertrauensbruch an der Alten der einsamen Waldidylle unwürdig erwiesen hatte. Danach irrte der verwitwete Eckbert durch den seine Burg umgebenden Wald und hörte dort kurz vor seinem eigenen Tod ein letztes Mal den wieder freudigen Gesang des Vogels: „Waldeinsamkeit/Mich wieder freut,/Mir geschieht kein Leid,/Hier wohnt kein Neid,/Von neuem mich freut,/Waldeinsamkeit.“41

Anfangs stieß dieser Neologismus in Tiecks engerem Freundeskreis wegen der ungewöhnlichen Genitivkonstruktion noch auf einige Ablehnung. Jedoch wurde der Blonde Eckbert in der breiteren Öffentlichkeit zu seinem bekanntesten Märchen und die Waldeinsamkeit im Zuge dessen zum Inbegriff seines Naturverständnisses. Tieck selbst variierte die gegenweltliche Wortschöpfung bald zur Kennzeichnung anderer Naturkonstellationen wie der „grünen Einsamkeit“, der „Bergeinsamkeit“, der „Tannen-Einsamkeit“ oder der „Thaleinsamkeit“.42 Schnell geriet der Terminus allerdings in so allgegenwärtigen wie unkritischen Übernahmen durch andere Autoren zum inhaltsleeren Klischee im semantischen Kontext von Waldidyll und Waldesruh.43 In derartigen oft eher assoziativen Rezeptionsprozessen gingen zunehmend diejenigen Differenzierungen verloren, die bei Tieck selbst noch angelegt gewesen waren.

Denn Tiecks Prosa konnotierte nicht nur im Blonden Eckbert die Einsamkeit des Waldes überwiegend negativ und bedrohlich, während lediglich seine selteneren lyrischen Thematisierungen diese mehrheitlich harmonisch und idyllisch darstellten.44 So fiel die Protagonistin Bertha schließlich ihren dort begangenen Missetaten und der Rache der bestohlenen alten Frau zum Opfer. Ihr Ehemann starb unidyllisch im Wald verirrt, nachdem der Wundervogel sein Lied zum dritten und letzten Mal gesungen hatte. Die meisten der späteren positiven Bezugnahmen hatten demzufolge nicht mehr viel gemein mit der ursprünglichen Wortintention der Waldeinsamkeit. Diese konnte für den Menschen gefährlich bis tödlich sein und eine mehr als temporäre Rückkehr zur Natur infolgedessen nur mehr Wunschdenken statt eine tatsächliche Option.

Mehr als 40 Jahre später unternahm es Tieck in seiner letzten Novelle Waldeinsamkeit (1841), die längst klischeehaft gewordene Verwendung des Begriffes als Sehnsuchtsvokabel entschlossen zu parodieren. Gleich zu Beginn der Novelle ließ er eine Kritik an dem Neologismus vortragen, die vor allem Wackenroder gegenüber Tieck geäußert hatte: Anders als der grammatikalisch korrekte Begriff Waldeseinsamkeit sei jener „undeutsch, unerhört und durchaus nicht zu gebrauchen“45. Die Geschichte setzte im Fortgang der Handlung auf den hohen Bekanntheitsgrad des Schlagwortes als Bedingung für dessen erfolgreiche Ironisierung. Ausgangspunkt war eine Immobilienanzeige, die „zugleich hinter dem Gemüsegarten eine sehr vortreffiche Waldeinsamkeit“46 bewarb. Gegen die hierin zutage tretende Kommerzialisierung und Verflachung des einstigen Waldidylls wehrte sich vor allem der Protagonist mit dem anspielungsreichen Namen Ferdinand von Linden, indem er das tiecksche Waldvogellied zitierte und darüber ins phrasenhafte Naturschwärmen geriet:

Das Grün des Waldes, die lichte Dämmerung, das heilige Rauschen der mannichfaltigen Wipfel, alles dies zog mich von frühester Jugend wie mit Zauber in diese Einsamkeit. Wie gern verirrte ich mich, verlor ich mich schon als Knabe in jenem Walde meiner Heimat. In den innersten, fast unzugänglichen Theilen fühlte ich mich, von der Welt ganz abgesondert, unbeschreiblich glücklich […].47

Die von Ferdinand verehrte Sidonie machte sich wie viele andere seiner Bekannten lustig über die „vielgepriesene ächt deutsche Waldeinsamkeit“48, der sie nüchtern die vielen Annehmlichkeiten des städtischen Lebens gegenüberstellte. Der junge Forstbesitzer versuchte schließlich so pathetisch wie erfolglos, ihr dennoch die Vorzüge eines gemeinsamen Waldlebens schmackhaft zu machen, denn „was kann es Schöneres für ein liebendes Gemüth geben, als diese deutschen Wälder, vorzüglich wo Buchen, Linden und Eichen gemischt sind mit Eschen und Ulmen?“49

Ein Nebenbuhler um Sidonies Gunst entführte Ferdinand dann, um ihn ausgerechnet in einem abgelegenen Waldhaus einzusperren. Dort fiel dem verzweifelten Entführten als Erstes wieder das Lied von der Waldeinsamkeit ein und kurze Zeit später ein Wandbild mit der Genoveva ins Auge.50 Auch dies war eine augenzwinkernde Selbstreferenz Tiecks in Anspielung auf ein von ihm 1799 geschriebenes Stück gleichen Namens, darüber hinaus möglicherweise auf das 1841 fertiggestellte Gemälde Genoveva in der Waldeinsamkeit von Ludwig Richter (1803–1884). Während der weiteren Gefangenschaft wurde der junge Waldliebhaber Stück für Stück von seinem Ideal des idyllischen Waldlebens kuriert, da er die verehrte Baumnatur nur aus der Gefängnisperspektive durch die Gitterstäbe der Fenster sehen konnte.

Nach der Befreiung kam Ferdinand von Linden nur noch einmal mit Sidonie zu der Waldhütte zurück, um nostalgisch zum Abschied von seiner jugendlichen Schwärmerei ein letztes Mal das Wundervogellied zu intonieren – nicht ohne zuvor die „nichtswürdige Waldeinsamkeit“51 für immer verflucht zu haben. Wenngleich die Baumnatur auch in diesem Text stereotyp eine bloße Projektionsfläche menschlicher Bedürfnisse und Gefühle blieb, ist der durchgängig ironische Unterton doch bemerkenswert. Auf diese Weise gestand der Schriftsteller gegen Ende seines Lebens jene terminologische Mitschuld ein, die er in jungen Jahren als Verfasser des Blonden Eckbert einschließlich der viel gebrauchten Wortprägung auf sich geladen hatte. Mit solchen expliziten Wendungen distanzierte Tieck sich zuletzt von dem wesentlichen Beitrag vieler seiner eigenen Schriften zur Idealisierung des Silvanen.

Der deutsche Wald

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