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Waldsammlungen und Waldtempel

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Die imaginierten Altdeutschen Wälder verkörperten für die Brüder Grimm eine ursprüngliche silvane Wildnis und eine analoge menschliche Vergangenheit. Schon der Titel ihrer gleichnamigen Zeitschrift bezog sich auf eine lange Tradition literarischer Silvae-Sammlungen, wie sie seit der römischen Antike bestand. Diese hatten recht disparate Texte unterschiedlicher Entstehungszeit vereint, waren aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend aus der Mode gekommen. Eine solche Titelgebung ging in der Neuzeit oft einher mit einer ausgeprägten Naturmetaphorik, die einen wildnishaften Wald der Naturpoesie dem domestizierten Lusthain der Kunstdichtung positiv gegenüberstellte.122 Das von 1813 bis 1816 existierende Periodikum der Grimms verwies titularisch beispielsweise auf die früheren Kritischen Wälder Herders, aber auch auf eine zeitgleiche Literaturanthologie namens Deutscher Dichterwald.123

Beide Brüder gaben es gemeinsam zur Stärkung ihrer publizistischen Präsenz heraus und bestückten es fast im Alleingang mit Texten zu mannigfachen Aspekten der Volksüberlieferung.124 Die insgesamt drei erschienenen Bände gaben der altdeutschen Tradition – verstanden als innergermanischer Gegenbegriff zur skandinavischen – wesentlich mehr Raum als andere derartige Projekte, vor allem durch den Abdruck kommentierter Quellenauszüge und verschiedener Berichte über laufende Forschungen. Diese Tradition war vergleichsweise weit definiert und beinhaltete Texte aus den Epochen von Mittelalter und Neuzeit, die als Nachhall älterer und oft verschollener Überlieferungen galten. Auch dafür bedienten sich die Brüder Grimm einer naturalisierenden Perspektive auf kulturelle Artefakte, um Alter, Reinheit und Ursprünglichkeit der erhaltenen Texte oder ihrer Vorstufen möglichst hoch ansetzen zu können. Angesichts der patriotisch bestimmten Erscheinungsjahre dominierte klar der tagespolitische Kontext, den sie in ihrem Vorwort selbst benannten als die „Gewalt der Gegenwart […], welcher die Vorzeit dienen soll“125.

Erklärtes Ziel dieser Veröffentlichung war also, die „verschütteten Quellen“ der eigenen Volksüberlieferung wieder freizulegen und dadurch in den interessierten Bevölkerungskreisen „regen Eifer für das altdeutsche Alterthum“ zu wecken.126 Indes benutzten sie auch für andere Kulturkreise verwandte Begriffe wie altdänisch, altnordisch oder altschottisch, um die Altehrwürdigkeit der jeweiligen nationalen Quellenbestände zu betonen.127 Jacob Grimm gab später ganz in diesem Sinne einer von ihm edierten Sammlung altspanischer Heldengedichte den Titel Silva de romances viejos (1831).128 Mit einem solchen philologischen Einbezug des indoeuropäischen Kulturkreises vermieden es die Brüder Grimm im Gegensatz etwa zu ihrem Zeitgenossen Arndt, allzu deutschzentrierte Lesarten der Tradition vorzunehmen.

Über ein derartiges noch eher metaphorisches Verständnis hinaus gebrauchten sie das Denkbild der altdeutschen Wälder aber ebenso, um die germanische Vorgeschichte verklärend zu beschreiben. Nach Jacob Grimms Ansicht war „zu jener frühen zeit […] ganz Deutschland waldbedeckt“ gewesen, spezifisch nannte er den bei Caesar und Tacitus als fast unendlich beschriebenen „herkynischen wald“.129 Ironischerweise standen auch ihm zur deutschen Sinnstiftung für diesen Zeitraum in erster Linie in der damaligen Gelehrtensprache Latein verfasste römische Schriften zur Verfügung, die er noch durch eine retrospektive Lesart der Volksüberlieferung ergänzte. Auf dieser – nach gegenwärtigen Maßstäben unbefriedigenden – Quellenbasis vermeinte er, genau bestimmen zu können, welchen „tiefen einfluß das waldleben von jeher auf alle verhältnisse unseres volks hatte“130.

Da er die Deutschen seiner Zeit in einer Kulturnachfolge zu den Germanen sah, hatten solche Erkenntnisse für ihn immer eine konkrete Aussagekraft für die eigene Gegenwart. Jedoch beabsichtigte er mit seinem Lob der „im wald, nicht in städten lebenden Germanen“131 keineswegs, den vergangenen wilden Naturzustand von Wald und Sumpf zulasten der Errungenschaften von Landwirtschaft und Siedlungsbau wiederherzustellen. Freilich hoffte er wie zahlreiche andere Denker während schwieriger Zeiten, dass das deutsche Volk zumindest ideell „in den tiefen wäldern der Germanen“132 durch den Rückgriff auf die Vergangenheit neue nationale Stärke finden möge – ein solches vorgeschichtliches Motiv sollte nach 1900 unter allerdings rassischen Vorzeichen gesteigerte Bedeutung erfahren.

Jacob Grimms einflussreiche und mehrfach erweitert wiederaufgelegte Deutsche Mythologie (1835) erwähnte unter vielfacher Berufung auf Tacitus neben von den Germanen verehrten Bergen und Quellen an zahlreichen Stellen vor allem „heilige Wälder“ sowie „heilige Haine“.133 Diese erklärte er zu naturnahen Orten des Glaubens und Opferns, allerdings über das deutsche Beispiel hinaus auch für Balten, Skandinavier und Slawen. Unter den einzelnen Baumspezies nannte er besonders häufig die „heilige eiche“, wohingegen die Linde in einem anderen Text konventionell als „Liebesbaum“ figurierte.134 Zur indogermanischen Frühgeschichte generell hieß es in dem Werk:

Tempel ist also zugleich wald. was wir uns als gebautes, gemauertes haus denken, löst sich auf, je früher zurück gegangen wird, in den begriff einer von menschenhänden unberührten, durch selbstgewachsne bäume gehegten und eingefriedigten heiligen stätte.135

Daneben verstand Jacob Grimm als „heilige bäume“136 vor allem die vorchristlich-arborealen Glaubenssymbole der Weltesche Yggdrasil sowie der auch von Arndt angeführten Irminsul. Letztere verortete Jacob Grimm in der Nähe des geschichtsträchtigen Teutoburger Waldes, womit sie noch gesteigertes symbolpolitisches Gewicht verliehen bekam.137 Überdies versuchte er durch etymologische Spekulation eine Verbindung von Irmin zum cheruskischen Helden Armin zu ziehen, der ihm als „retter der deutschen freiheit“138 galt. Jedoch wies er den Vorwurf eines primitiven germanischen Götzendienstes entschieden zurück und betonte die Kulturhöhe der vermeintlichen Ahnen, denen die ganze Natur göttlich beseelt gewesen sei. Dieses frühgeschichtliche Idyll eines „altdeutschen waldcultus“139 sei von den christlichen Missionaren gewaltsam beendet worden, welche die Heiligtümer entweder zerstört oder für ihre eigenen religiösen Zwecke umgewidmet hätten. Gemäß einer angenommenen germanisch-deutschen Kulturkontinuität verglich er die naturnahen Waldesdome mit der Sakralarchitektur antiker Tempel und christlicher Kirchen, die steinern und somit seelenlos seien.140

Die gotischen Dome des Mittelalters nahm Jacob Grimm jedoch wie vor ihm schon Tieck und Eichendorff von dieser generellen Kritik trotz ihrer Steinbauweise aus, weil sich in ihnen ein deutlich nachwirkender Einfluss der Waldumgebung gezeigt habe.141 Sein bekenntnispolitisches Anliegen war einerseits die Stärkung naturnah-pantheistischer Glaubenselemente und andererseits die Vereinigung der beiden großen christlichen Konfessionen zu einer neuen Volksreligion. Auch bei den Brüdern Grimm sollte also ein imaginierter Vergangenheitswald angesichts tatsächlich fortbestehender Spaltungen als überwölbendes Element wirken, um die erstrebte Einheit der Nation im silvanen Geiste vorwegzunehmen. Ihr Ziel war indes nicht eine radikale Entchristlichung der Deutschen mit Rückkehr zu einem urtümlichen Waldkult der heiligen Haine, wie ihn Vertreter des paganen Gedankens nach der Jahrhundertwende und in der NS-Zeit propagieren würden.

Der deutsche Wald

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